Quelle: Franziska Schäfer
Magazin MitbestimmungZur Sache: „Ein wichtiger Schritt zu einem sozialeren digitalen Europa“
Amelie Sutterer-Kipping, Wissenschaftliche Referentin am Hugo Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung, über das Reformpaket der EU-Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Soloselbstständigen.
Die Zahl der Plattformbeschäftigten hat in den letzten Jahrzehnten drastisch zugenommen. Die EU geht davon aus, dass von den schätzungsweise 28 Millionen Menschen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten, bis zu 5,5 Millionen Scheinselbstständige sein könnten. Das bedeutet, dass sie in ihren jeweiligen Verträgen zwar als Selbstständige bezeichnet werden, in Wirklichkeit aber abhängig beschäftigt sind, weil sie der Kontrolle und Weisung der Arbeitsplattform unterliegen.
Dennoch werden sie nicht als abhängig Beschäftigte anerkannt. Das hat für die Betroffenen gravierende Folgen. Denn der Arbeitnehmerstatus ist die Eintrittskarte zum Schutzbereich des Arbeits- und Sozialrechts. Wer selbstständig ist, hat keinen Anspruch auf Urlaubsentgelt, gesetzlichen Mindestlohn, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und ist – abgesehen von einigen Ausnahmen – auch nicht sozialversicherungspflichtig. Der Gesetzgeber vertraut auf autonome Vorsorge. Doch das können sich nur Selbstständige mit einem entsprechenden Umsatz leisten. Für Selbstständigkeit, die sich nicht rechnet, muss am Ende die Solidargemeinschaft der Versicherten aufkommen.
Die Kommission der Europäischen Union (EU) hat nun Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten gemacht. Der Richtlinienvorschlag enthält eine Liste von Kriterien, mit deren Hilfe festgestellt werden kann, ob es sich bei der Plattform um einen Arbeitgeber handelt. Erfüllt die Plattform mindestens zwei der Kriterien, wird das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses vermutet. Dann ist es Aufgabe des Arbeitgebers, das Gegenteil zu belegen.
Fehlende Verhandlungsmacht
Die Maßnahmen der EU bekämpfen aber nicht nur Scheinselbstständigkeit in der Plattformwirtschaft, sie sind Teil eines weitreichenderen Reformpakets, das auch neue Leitlinien zur Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf Tarifverträge von Soloselbstständigen im Dienstleistungssektor enthält. Auch außerhalb der Plattformwirtschaft gelingt es vielen Soloselbstständigen nicht, ihre Arbeitsbedingungen zu beeinflussen. Ihnen fehlt die Verhandlungsmacht.
Tarifverträge von Selbstständigen stehen allerdings in einem Spannungsverhältnis zum EU-Wettbewerbsrecht. Selbstständige, auch wenn sie wirtschaftlich abhängig sind, gelten nach dem Wettbewerbsrecht der EU grundsätzlich als Unternehmer. Führen Selbstständige Tarifverhandlungen, laufen sie Gefahr, gegen das europäische Kartellverbot des Artikels 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zu verstoßen.
Der Leitlinienentwurf soll nun für Rechtssicherheit sorgen. Nach den Plänen der Kommission sollen Soloselbstständige, die sich in einer vergleichbaren Situation wie abhängig Beschäftigte befinden, künftig nicht mehr unter das Kartellverbot fallen. Schließlich will die Kommission auch nicht mehr gegen Kollektivverträge vorgehen, wenn diese lediglich eine ungleiche Verhandlungsposition der Soloselbstständigen gegenüber den Gegenparteien korrigieren und aufgrund ihrer Art und ihres Gegenstands allein dem Zweck dienen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Das Paket ist ein wichtiger Schritt für ein sozialeres digitales Europa und bessere Plattformarbeit. Doch bleibt der Sozialschutz für Selbstständige weiterhin lückenhaft. Dies gilt insbesondere für den Zugang zur Arbeitslosenversicherung. Hier und an vielen weiteren Stellen der sozialen Sicherung muss die EU nachbessern.