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Streikende Arbeiterinnen beim Neusser Autozulieferer Pierburg 1973 Magazin Mitbestimmung

Zeitgeschichte: Ein langer Weg

Ausgabe 05/2021

Das Verhältnis der deutschen Gewerkschaften zu Migranten war lange nicht frei von Missverständissen. Zuweilen wussten die ausländischen Beschäftigten sich nur durch „wilde“ Streiks zu helfen. Von Andreas Molitor

Woran erinnert man sich beim Gedanken an das Jahr 1973? An die autofreien Sonntage? Pinochets Putsch in Chile? Oder eher an Günter Netzers legendäres Tor beim Pokalfinale Gladbach gegen Köln? Der Streik beim Automobilzulieferer Pierburg im rheinischen Neuss wird vermutlich nur den damals Beteiligten einfallen – obwohl er zu den lehrreichsten Arbeitskämpfen der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört.

Fast drei Viertel der 3000 Beschäftigten waren, wie es damals hieß, „Gastarbeiter“. Vor allem Frauen – aus Jugoslawien, Spanien, der Türkei, Griechenland und Italien – verrichteten beim Zusammenbau von Vergasern harte, monotone Fließbandarbeit in der „Leichtlohngruppe“, Stundenlohn 4,70 Mark.

Im Sommer 1973 legten 1700 Frauen – und 300 Männer – die Arbeit nieder, forderten die Abschaffung der Leichtlohngruppe und eine Mark mehr pro Stunde für alle. Die Deutschen ließen sich vom Streikfieber anstecken: Binnen einer Woche war die Fabrik lahmgelegt. Der Arbeitskampf in Neuss war Teil einer ganzen Welle­ von rund 300 Streiks, meist von Migranten entfacht, die 1973 die Bundesrepublik überzogen – sämtlich ohne Urabstimmung.

Pierburg wurde zum Symbol für das ambivalente Verhältnis zwischen den deutschen Gewerkschaften und den Migranten in den jungen Jahren der Bundesrepublik, das der Münchner Migrationsforscher Simon Goeke in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Arbeit untersucht hat. Bei den Gewerkschaftsspitzen standen die Signale anfangs auf Abschottung. Bereits die Anwerbung der ersten Italiener Mitte der 50er Jahre kam, so Goeke, „ohne und auch gegen die Gewerkschaften“ zustande. „Keine Gewerkschaft eines Landes“, verkündete der DGB, werde sich „mit dem Hereinströmen von Arbeitskräften aus dem Ausland einverstanden erklären können, solange im eigenen Land noch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Arbeitnehmern arbeitslos ist“. Von Einzelgewerkschaften kamen ähnlich ablehnende Bescheide.

Am Anfang waren die Migranten häufig auf sich allein gestellt. Sie setzten sich zur Wehr – mit „wilden“ Streiks. Zuerst im Kohlebergbau, dann 1962 im Wolfsburger VW-Werk, wo die italienischen Arbeiter streikten. Sie verlangten eine bessere Gesundheitsversorgung, blockierten Straßen und errichteten brennende Barrikaden.

 Der Arbeitskampf hatte weitreichende Folgen. Aus Furcht vor weiteren Unruhen gab der patriarchalisch über das Werk herrschende Generaldirektor Heinrich Nordhoff seine Blockadehaltung gegenüber der Gewerkschaft auf. Die IG Metall konnte fortan ungehindert Mitglieder werben – auch unter italienischen VW-Beschäftigten. Drei Jahre nach dem Streik war bereits die Hälfte der italienischen Arbeiter organisiert.

Zur Zeit der zweiten Welle wilder Streiks, Anfang der 70er Jahre, war bereits ein großer Teil der Gastarbeiter Gewerkschaftsmitglied, vielerorts gab es ausländische Vertrauensleute. Die Forderungen der – wiederum ohne gewerkschaftliche Rückendeckung – Streikenden, beispielsweise bei Ford in Köln, „gingen wesentlich weiter, als dies bei Tarifauseinandersetzung der Fall war“, schreibt Simon Goeke. Es ging um „die Geschwindigkeit des Fließbands, um die Länge des zusammenhängenden Urlaubs und nicht zuletzt um Lohnerhöhungen“.

Meist konnten die Streikenden sich nicht durchsetzen, aber „ihre Forderungen prägten die folgenden Tarifverhandlungen“. So sei die sogenannte Steinkühler-Pause, eine zusätzliche, regelmäßige Pause für Fließbandarbeiter, maßgeblich auf die wilden Streiks von 1973 zurückzuführen. Die letztlich erfolgreich streikenden Frauen bei Pierburg wiederum „wurden mit ihrer Hartnäckigkeit zu Vorkämpferinnen gegen die Lohndiskriminierung in der Bundesrepublik“. Die Migrationsforscher Serhat Karakayali und Celia Bouali sehen in einer weiteren von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie einen deutlichen Niederschlag der Streiks bei den Gewerkschaften selbst. Die „Mobilisierung und der Druck“, den die Migranten aufbauten, seien „Anlass für ein zunehmendes Bemühen um ihre Integration in gewerkschaftliche Strukturen“ gewesen, heißt es.

Die Ambivalenz hielt sich lange. In vielen Betrieben gab es, so Karakayali und Bouali, noch in den 90er Jahren eigene migrantische Listen, mit denen die Beschäftigten „einer mangelnden Repräsentation auf Gewerkschaftslisten begegneten“. Noch in den 80ern gingen Gewerkschaftsfunktionäre mehrheitlich davon aus, dass die meisten Gastarbeiter in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Vor allem die IG Metall erkenne heute an, „dass die Gewerkschaften nicht zu jeder Zeit die Interessen der Migranten ehrlich vertreten haben“, schreibt Simon Goeke. Andererseits waren die Gewerkschaften „die ersten Organisationen in Deutschland, bei denen es überhaupt Bewegung gab, lange vor Parteien und Verbänden“.

Heute sind Migranten voll in die Gewerkschaftsarbeit integriert. Bei der IG Metall etwa sind sie mit einem Mitgliederanteil von 22 Prozent entsprechend ihrem Anteil in der Bevölkerung organisiert, in Betriebsräten und als Vertrauensleute sogar überproportional vertreten. Die Herausforderungen für die Gewerkschaften haben sich gewandelt, vor allem in Richtung der Armee prekär Beschäftigter aus den osteuropäischen EU-Ländern. „Aus Rumänien kommen heute Arbeitskräfte, die oft nur einen Monat oder eine Woche bleiben“, erklärt Simon Goeke. „Für die Gewerkschaften sind die kaum erreichbar.“

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