Quelle: Cordula Kropke
Magazin MitbestimmungBetriebsräte-Preis: Ein cleverer Schachzug
Für die Sicherung des Chemiestandorts Stade arbeiten Unternehmen, Politik, Kommunen, Verbände und Gewerkschaft Hand in Hand. Die Idee zu der konzertierten Aktion kam von den Betriebsräten vor Ort. Von Joachim F. Tornau
Wenn Jonas von Holt die Anekdote erzählt, spielt ein leises Lächeln um seine Lippen. Eines Morgens, sagt der Betriebsratsvorsitzende des Chemieunternehmens Olin im niedersächsischen Stade, habe ihn der Geschäftsführer seines Betriebs angerufen und gefragt: „Ich habe eine Einladung vom Wirtschaftsminister bekommen. Weißt du da was drüber?“ Von Holt wusste es sogar ganz genau. Das Treffen in Hannover, zu dem Minister Olaf Lies (SPD) eingeladen hatte, ging auf eine Initiative der Betriebsräte im Stader Chemiepark zurück. Eine Initiative, die von den Geschäftsführungen kurz zuvor noch als Luftschloss abgetan wurde – und die dank der Beharrlichkeit der Arbeitnehmervertretungen trotzdem zum Erfolg wurde. Jetzt wurde das Projekt für den Deutschen Betriebsräte-Preis 2024 nominiert und im Rahmen des Deutschen Betriebsrätetags Anfang November mit dem Preis in Silber geehrt.
Vor drei Jahren hatten sich die Betriebsräte aller fünf Unternehmen, die auf dem 600 Hektar großen Areal am Ufer der Elbe ansässig sind, erstmals kurzgeschlossen. Von Klimawandel und Transformation über steigende Energiepreise und wachsende Konkurrenz aus China bis zum Fachkräftemangel – angesichts des Bündels an Krisen und Problemen waren sich die Arbeitnehmervertretungen einig, dass dringend gehandelt werden muss, um die Zukunft des Chemiestandorts Stade mit seinen derzeit rund 2800 Arbeitsplätzen in der Grundstoffchemie zu sichern. Und dass das nur gemeinsam zu schaffen ist: „Wir sind voneinander abhängig, wir beliefern uns gegenseitig, wir können das nicht alleine regeln“, sagt Olin-Betriebsratschef von Holt.
Olin ist wie die Stader Ableger der Chemiekonzerne IFF und Trinseo eine Abspaltung des US-Chemieriesen DowDuPont, dessen Konzernvorgänger Dow Chemical den Industriepark vor gut 50 Jahren errichtete und noch immer der größte Arbeitgeber ist. Außerdem produziert hier, ebenfalls von Beginn an, die Aluminium Oxid Stade (AOS). Die Idee des neuen Betriebsrätenetzwerks: Zur langfristigen Zukunftssicherung des Chemiestandorts Stade, von dem viele Tausend weitere Jobs in der Region abhängen, brauche es nicht nur ein konzertiertes Vorgehen der fünf Unternehmen vor Ort, sondern eine Zusammenarbeit auch mit Politik, Kommunen und IHK, eine breit aufgestellte Standortallianz.
Politik ins Boot geholt
Mit Unterstützung der IGBCE erstellten die Betriebsräte ein Konzept, das die Geschäftsführungen von der Idee überzeugen sollte … und holten sich eine Abfuhr. „Das ist das Problem mit § 92a des Betriebsverfassungsgesetzes“, sagt AOS-Betriebsratschef Oliver Elsen. „Man kann zwar Vorschläge zur Beschäftigungssicherung machen, hat aber keinerlei Durchsetzungsmacht.“ Also beschloss das Netzwerk, zuerst die Politik ins Boot zu holen. Das gelang äußerst wirkungsvoll. Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies ließ sich schnell überzeugen. Mit ihm vereinbarten die Betriebsräte, dass er sämtliche Stakeholder im April 2023 nach Hannover einladen würde. „Ein toller Schachzug“, sagt Elsen. „Damit stand das Ob nicht mehr zur Debatte, sondern nur noch das Wie.“
Ein halbes Jahr später wurde das Projekt unter dem Titel „Zukunftsperspektive und Standortentwicklung Chemie- und Industriestandort Stade“, nunmehr angesiedelt bei der Wirtschaftsförderung des Landkreises Stade, offiziell gestartet. Land und Landkreis sagten die Finanzierung für zunächst drei Jahre zu. Im Lenkungskreis sind die Geschäftsführungen und die Betriebsräte der fünf Unternehmen paritätisch vertreten. Im Plenum sitzen außerdem Vertreterinnen und Vertreter des Wirtschaftsministeriums, der Kommunen, der Gewerkschaft, des Arbeitgeberverbands und der IHK. Die Leitung des Projekts übernahm Stephan Engel, langjähriger Chef von Dow in Stade. „Er macht das, weil er vom Standort überzeugt ist“, sagt IFF-Betriebsratsvize Ingo Döhring. „Besser hätten wir es nicht treffen können.“
In vier Arbeitsgruppen suchen die Akteure seither nach gemeinsamen Wegen zum Fachkräfteerhalt, zum Abbau überflüssiger Bürokratie, zur Vernetzung und – das ist der wohl größte Brocken – zur künftigen kohlendioxidfreien Energieversorgung. Mit fünf Terawattstunden im Jahr verbraucht der Chemiepark ein Prozent des gesamten Stroms in Deutschland. Mehr verschlingt nur die Deutsche Bahn.
Dass es zu dem Zukunftsprojekt ohne die Initiative der Betriebsräte nie gekommen wäre, wird kaum noch erwähnt. Die Arbeitnehmervertreter nehmen es gelassen. „Das Ergebnis zählt“, sagt Sven Nemitz, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Dow. „Ich muss nicht als Betriebsrat draufstehen, wenn hier neue Arbeitsplätze entstehen.“ Erste Zeichen der Hoffnung gibt es bereits: Am Elbufer entsteht ein Terminal für Flüssigerdgas (LNG), im Chemiepark will sich ein Unternehmen ansiedeln, das Lithium für die Batterien von Elektroautos herstellt.
Für einen Projektpartner kommen die Bemühungen zur Standortsicherung allerdings zu spät: Trinseo hat angekündigt, sein Werk in Stade mit knapp 100 Beschäftigten bis Anfang 2026 zu schließen. Die Betriebsräte wollen ihr Netzwerk nun nutzen, um möglichst vielen Trinseo-Beschäftigten einen anderen Job im Chemiepark zu vermitteln.
Mehr zum Betriebsräte-Preis 2024:
Der Deutsche Betriebsräte-Preis wird im Rahmen des Deutschen Betriebsrätetags am 7. November in Bonn verliehen. Aus 60 Bewerbungen wurden zwölf Projekte nominiert, darunter die Gemeinschaftsinitiative „Zukunftsperspektive und Standortentwicklung Chemie- und Industriestandort Stade“.
Mehr über die nominierten Betriebsräte auf der Seite des I.M.U. zum Betriebsräte-Preis 2024
Das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung bietet ein Archiv mit zahlreichen Betriebsvereinbarungen.