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Jurist Peter Stein am Schreibtisch Magazin Mitbestimmung

Religion: „Ein Arbeitsvertrag ist eine weltliche Angelegenheit“

Ausgabe 02/2023

Die Kirchen pochen in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten auf weitgehende Sonderregelungen. Tatsächlich ist die Ungleichbehandlung von Beschäftigten nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt, sagt der Jurist Peter Stein. Das Gespräch führte Kay Meiners

Herr Stein, Sie waren vor dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesarbeitsgericht an der Vertretung einer Frau beteiligt, die sich beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung um eine Referentenstelle beworben hatte. Ihr Name ist Vera Egenberger. Worum ging es?

Frau Egenberger klagte 2013 beim Arbeitsgericht Berlin, weil sie nicht eingestellt wurde und eine Diskriminierung aus religiösen Gründen vermutete. Sie gehört keiner Kirche an und war von der Diakonie nicht einmal eingeladen worden. Der potenzielle Arbeitgeber bestand auf einer Kirchenmitgliedschaft. Sie musste durch alle Instanzen.
2018 erstritt sie vor dem Bundesarbeitsgericht eine Entschädigung von gut 3.900 Euro.

War die Klage nicht riskant? Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, kurz AGG, hält eine unterschiedliche Behandlung durch Religionsgemeinschaften in Bewerbungsprozessen unter bestimmten Bedingungen für zulässig.

Dafür gibt es aber nur zwei Gründe: zum einen, wenn es Glaubwürdigkeit und Außenwirkung erfordern. Dafür sprach in diesem Fall überhaupt nichts. Zum Zweiten, wenn für die konkrete Tätigkeit eine Kirchenmitgliedschaft unabdingbar ist. So legt der Europäische Gerichtshof die Gleichbehandlungsrichtlinie aus, die für die Anwendung des AGG maßgebend ist. Das europäische Recht überformt das nationale Recht. Für die Referentenstelle, auf die sich Frau Egenberger beworben hatte, war eine Kirchenmitgliedschaft, objektiv gesehen, gerade nicht erforderlich. Es ging um koordinierende Aufgaben, nicht darum, Positionen der Kirche zu vertreten.

Das Bundesarbeitsgericht hatte sich vor seinem Urteil an den Europäischen Gerichtshof gewandt, um zu klären, welche europarechtlichen Vorgaben sich aus der Gleichbehandlungsrichtlinie ergeben. Was ist das Problem?

Der deutsche Gesetzgeber hat die EU-Richtlinie in mehreren Punkten nicht korrekt umgesetzt. Nach dem deutschen Gesetz reicht es z. B. schon aus, dass das Ethos der Kirche die Kirchenmitgliedschaft erfordert. Das ist mit der Richtlinie keinesfalls vereinbar. Es kommt bei objektiver Betrachtung – also nicht nach Auffassung der Kirche – vielmehr auf die konkrete Tätigkeit an. Eine Mitgliedschaft ist bei verkündigungsnahen Tätigkeiten, beispielsweise Pfarrer, Rabbi oder Imam, sachlich notwendig. Wenn es um Sportlehrer an konfessionellen Schulen oder Ärztinnen in kirchlichen Krankenhäusern geht, ist das hingegen nicht plausibel.

Der Arbeitgeber hat in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde eingereicht.

Diese Beschwerde hängt seit zweieinhalb Jahren in Karlsruhe. Wir müssen abwarten, wie das ausgeht. Die Norm, um die es geht, ist Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung, der gemäß Artikel 140 des Grundgesetzes weiter gilt. Dort heißt es: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“

Was ist Ihr Dissens mit den Karlsruher Richtern?

Ein Arbeitsvertrag ist nach meinem Verständnis eine weltliche Angelegenheit. Wenn die Kirche Arbeitsverträge abschließt, verlässt sie den Kreis der eigenen Angelegenheiten. Das Bundesverfassungsgericht sagt das Gegenteil: Der Abschluss von Arbeitsverträgen hebt nach seiner Auffassung die Zugehörigkeit zu eigenen Angelegenheiten nicht auf.

Gerichte sollten darüber entscheiden, wo die eigenen Angelegenheiten der Kirchen anfangen und wo sie enden.“

Ist der Wortlaut dieser Norm veraltet?

Nein, am Wortlaut liegt es nicht, sondern an der Auslegung. Die Norm ist im Wortlaut seit 1919 unverändert. Dennoch gab es in Weimar Arbeitskämpfe in kirchlichen Einrichtungen. Das Betriebsrätegesetz, der Vorläufer unserer Betriebsverfassung, galt auch in kirchlichen Betrieben – ohne dass jemand daran Anstoß genommen hätte. Das muss auch heute wieder möglich sein.

Das klingt so, als sei Weimar fortschrittlicher gewesen.

Die Trennung von Kirche und Staat, die historisch eng miteinander verwoben waren, wurde erst mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1919 und der Gründung der Republik vollzogen. Bis dahin waren Pfarrer Beamte. Jetzt wurde die Kirche in die Gesellschaft entlassen. Aus diesem Grunde hieß es: Die Kirchen regeln ihre Angelegenheiten selbst.

Und was ist nach 1945 passiert?

Das Bundesverfassungsgericht hat den Artikel zu einer Schutznorm gegen den Staat umgedeutet. Es ist der Auffassung, dass die Kirchen selbst entscheiden können, was ihre eigenen Angelegenheiten sind. Eigentlich sollten doch Gerichte darüber entscheiden, wo die eigenen Angelegenheiten der Kirchen anfangen und wo sie enden.

Welche Folgen hatte die Entwicklung, die Sie skizzieren?

Seit den 1950er Jahren wurden für die Kirche Ausnahmen in viele Gesetze geschrieben. Das gilt nicht nur für das individuelle Arbeitsrecht, wie die Regeln des AGG, sondern auch für das viel wichtigere kollektive Arbeitsrecht, also das Betriebsverfassungsgesetz und die Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung. Die Kirchen sind riesengroß, da gibt es Konzerne und Holdings.

Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag festgelegt, zu prüfen, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Ist da schon etwas passiert?

Bisher noch nicht. Das ist wohl dem Zeitplan geschuldet. Immerhin gibt es keine Signale, dass die drei Regierungsparteien das Thema nicht anfassen.

Der „Gesetzentwurf für ein modernes Betriebsverfassungsrecht“, der auf eine Initiative der DGB-Gewerkschaften zurückgeht, schlägt vor: Das Betriebsverfassungsgesetz soll außerhalb des verkündigungsnahen Bereichs auch auf Religionsgemeinschaften Anwendung finden.

Ein richtiger Vorschlag. Aus den Mitarbeitervertretungen mit ihren schwächeren Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten würden Betriebsräte. Allerdings müssten auch die Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung dahingehend geändert werden, dass auch hier Herausnahme der Kirchen wegfällt.

Ihre Gedanken laufen darauf hinaus, dass das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen seine Grenzen dort findet, wo auch der Tendenzschutz nach § 118 des Betriebsverfassungsgesetzes endet.

Genau. Eine gewerkschaftliche Einrichtung, die einen Pressereferenten sucht, kann verlangen, dass dieser Gewerkschaftsmitglied ist. Für den Hausmeister gilt das aber nicht, er ist kein Tendenzträger. Analog sollte das auch im kirchlichen Bereich gelten.

Was ist mit anderen Religionsgemeinschaften?

Das AGG gilt für alle Religionsgemeinschaften. Das hat in der Praxis aber noch keine großen Auswirkungen.  Die größte Religionsgemeinschaft nach den Christen sind die Muslime. Wenn ein muslimischer Verein sich mit Verweis auf das islamische Ethos weigerte, eine Christin einzustellen, wäre der Fall analog zu behandeln.

Sie kritisieren, dass sich kirchliche, insbesondere katholische Arbeitgeber in das Privatleben Beschäftigter einmischen. Sie verbieten eine zweite Ehe oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Auf welcher Grundlage tun sie das?

Diese Grundsätze haben die Kirchen selbst aufgestellt. Die katholische Kirche verlangt neuerdings – anders als die evangelische Kirche – nicht mehr von allen Beschäftigten eine Kirchenmitgliedschaft, und sie will Homosexualität nicht länger diskriminieren. Aber der Kirchenaustritt soll ein Kündigungsgrund bleiben. Das macht den Beschäftigten Angst. Die Kirchen stecken hier in einem Dilemma: Sie bemühen sich, die Fahne hochzuhalten. Aber der Arbeitsmarkt gibt das oft gar nicht mehr her.

Rechtsgutachten

Peter Stein: Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Arbeitsrecht und seine Grenzen. HSI-Schriftenreihe, Band 47. Hans-Böckler-Stiftung 2023. 259 Seiten (als PDF kostenlos).

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