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Für ein oder zwei Dollar die Stunde arbeiten Menschen für die Vision des selbstfahrenden Autos. Das könnte ein Vorgriff auf die Arbeitswelt von morgen sein. Magazin Mitbestimmung

Künstliche Intelligenz: Digitale Tagelöhner

Ausgabe 04/2019

Für ein oder zwei Dollar die Stunde arbeiten Menschen für die Vision des selbstfahrenden Autos. Das könnte ein Vorgriff auf die Arbeitswelt von morgen sein. Von Andreas Molitor

Wenn es etwas gibt, das die Millionen digitaler Tagelöhner auf der Welt vereint, dann ist es der bange Blick, wenn sie am Morgen den Arbeits-Account auf ihrem Rechner geöffnet haben. Zum Beispiel bei Douglas* aus Venezuela. Täglich fragt er sich: Wird es heute Arbeit für mich geben? Oder steht da wieder „No task“ – kein Auftrag? Douglas ist einer von fast einer halben Million Menschen, die als Crowdworker für Spare5 arbeiten, eine Internetplattform, die zu dem US-amerikanischen IT-Unternehmen Mighty AI gehört. Sein Job ist es, Fotos mit Verkehrssituationen schnell und zuverlässig in ihre Bestandteile zu zerlegen, diese zu markieren und einzugeben, was er sieht: Verkehrsschilder, Fahrbahnmarkierungen, Fahrzeuge, Fußgänger, Hindernisse. 

Computer brauchen Millionen Fotos

Der 20-Jährige, der sein Maschinenbaustudium abgebrochen hat, weil das Geld nicht reichte, bestreitet mit den Einnahmen aus seinem Job bei Spare5 den Lebensunterhalt für seine Mutter, seinen jüngeren Bruder und sich selbst. In den ersten Monaten seiner Tätigkeit als Crowdworker fand er fast täglich genug Aufträge für zehn Stunden Arbeit am Rechner vor. Das reichte für einen wöchentlichen Verdienst von 50 Dollar. Doch in letzter Zeit hat er höchstens noch zwei Stunden am Tag für Spare5 am Bildschirm gesessen. An vielen Tagen gibt es überhaupt keine Arbeit für ihn, ohne dass er wüsste, warum. Keine Aufträge – kein Geld.

Erzählt hat Douglas seine Geschichte dem Kommunikationsdesigner Florian Alexander Schmidt, der, unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung, eine Studie über Clickarbeiter wie Douglas verfasst hat. Schmidt, Professor für Designkonzeption und Medientheorie an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden, hat Mikroselbstständige, die Trainingsdaten für das autonome Fahren produzieren, nach ihren Arbeitsbedingungen befragt, aber auch Manager der Plattformen interviewt, die massenweise Crowdworker beschäftigen. Seine Studie ist die erste umfassende wissenschaftliche Expertise zu diesem wachsenden Segment der Branche.

Das Training ist Handarbeit 

Im Windschatten des Hypes um das selbstfahrende Auto sind in den vergangenen Jahren spezialisierte Internetplattformen entstanden, die sich auf die Crowdproduktion von Trainingsdaten für das autonome Fahren spezialisiert haben. „Damit aus selbstlernenden Algorithmen selbstlenkende Fahrzeuge werden, braucht es zunächst viel Handarbeit“, schreibt Schmidt. Schwärme von Digitalarbeitern auf der ganzen Welt „bringen den lernenden Maschinen das Hören, Sehen und das umsichtige Fahren bei“. Basis ihrer Arbeit sind Millionen von Fotos aus dem Straßenverkehr, bei denen „jedes Pixel semantisch einem Objekt zugeordnet“ wird.

Die Maschine wird so lange trainiert, bis sie irgendwann auch in neuen, unbeschrifteten Bildern selbstständig Autos, Hindernisse oder Verkehrszeichen erkennen kann. Die Daten können kaum präzise genug sein, schließlich müssen die auf künstlicher Intelligenz (KI) basierenden Systeme autonomer Fahrzeuge die Umgebung in Sekundenbruchteilen erkennen und die richtigen Entscheidungen treffen. „Selbst 99,9 Prozent Genauigkeit“, so Siddharth Mall, Vorstandschef der indischen Crowdsourcing-Plattform Playment, „also ein schwerer Unfall alle 1000 Fahrten, sind absolut inakzeptabel.“

Ein bis zwei Dollar pro Stunde

Das Training der Algorithmen übernehmen Menschen, Crowdworker wie Douglas, überall auf der Welt, vor allem da, wo Arbeit billig ist. Die Löhne für qualifizierte Vollarbeitskräfte liegen im Schnitt bei ein bis zwei US-Dollar die Stunde, Tendenz fallend. Schmidt nennt die globale Crowdworkerschaft ein „Heer von digitalen Wanderarbeitern, die wie Erntehelfer mit den Schwankungen der Auftragslage zwischen den Plattformen hin und her ziehen“.

Der Wert der Arbeit ist nach Schmidts Analyse aus zwei Richtungen bedroht: „durch das ständige Wettrennen mit der Automatisierung und dadurch, dass die Arbeit dynamisch zu jenen Menschen fließt, welche die niedrigsten Löhne bereit sind zu akzeptieren“. Die finden sich vor allem auf den Philippinen, in Indien, Kenia und Nepal – und zunehmend in Venezuela, einem Land mit gut ausgebildeter, aber von Hyperinflation und Dauer-Wirtschaftskrise völlig ausgezehrter Bevölkerung. Für viele Venezolaner ist die in US-Dollar vergütete Crowdarbeit zur „devisenbringenden Lebensader“ geworden.

Muss man von Ausbeutung sprechen, wenn billige Arbeitskräfte „hinter den Kulissen“ mittels menschlicher Intelligenz die künstliche Intelligenz trainieren? Eine Arbeit, die zwar repetitiv ist, aber trotzdem anspruchsvoll. Er habe sich selbst an solchen Aufgaben versucht, so Schmidt, und sei einige Male gescheitert. Immerhin liegt der monatliche Verdienst eines Clickworkers, wenn er denn genug Aufträge bekommt, in vielen Fällen deutlich über der Armutsgrenze in seinem Heimatland. Crowdwork kann also, zumindest theoretisch, ein Weg aus der Armut sein. 

Keiner weiß, ob es morgen Jobs gibt

Doch es gibt nicht immer Arbeit. Das ist die Hauptsorge der Crowdworker: Sehe ich Aufträge, wenn ich morgens den Rechner anschalte? „Ein extremer Stressfaktor“, weiß Schmidt aus seinen Interviews mit Crowdworkern. Die Nachfrage nach Arbeit schwankt enorm, weil die Kunden der Plattformen – Autohersteller und IT-Konzerne wie Google, Nvidia oder MobilEye – „sehr kurzfristig riesige Datenmengen und damit Arbeitsstunden brauchen“. Da der Bedarf allerdings nur schubweise auftritt, können die Crowdarbeiter „sich nie sicher sein, ob sie zu einem gegebenen Zeitpunkt genug Arbeit finden“. Sie „haben dann nichts zu tun, kosten aber auch nichts“. Außerdem, so berichten die meisten der von Schmidt interviewten Arbeiter, habe sich in letzter Zeit eine Abwärtsspirale bei den Löhnen in Gang gesetzt. Pro Aufgabe würden 40 bis 50 Prozent weniger bezahlt als noch vor ein oder zwei Jahren. 

Andererseits seien auch positive Tendenzen nicht zu leugnen. „Die befragten Arbeiter sehen sich von den neuen Plattformen respektvoller behandelt und verlässlicher bezahlt als von herkömmlichen Anbietern“, schreibt Schmidt. Man will gute, erfahrene Leute möglichst an seine Plattform binden – das wiederum kommt der Qualität der erzeugten Daten zugute. Die meisten Crowdworker durchlaufen zunächst ein intensives Training, bei dem – meist mittels KI – vorsortiert wird, wem welche Aufgabe am meisten liegt. Da dieses Training allerdings für Aufgaben durchgeführt wird, „die nach kurzer Zeit immer wieder automatisiert werden“, habe „diese Form der ‚skilled labour‘ eine sehr kurze Halbwertszeit“. In vielen Plattformen eröffnen sich Chancen zum Aufstieg in der Clickworker-Hierarchie. „Checker“ können beispielsweise die Arbeit anderer Crowdworker überwachen. Und es gibt „Superplayer“, die besonders knifflige Aufgaben bekommen und besser bezahlt werden. Douglas beispielsweise darf als einer der besten Crowdworker von Spare5 manchmal neue Werkzeuge vorab testen und wird um seine Meinung gefragt. Viele fühlen sich als Teil einer Community, sind stolz auf ihre Arbeit, die sie gern verrichten. Aber nichts ist von Dauer.

Gewerkschaften haben zu den digitalen Heloten bislang keinerlei Zugang. Ein global verstreutes Arbeiterheer zu organisieren erscheint kaum möglich. „Die Crowd ist und bleibt ein Massenphänomen, in dem das Individuum per Definition austauschbar ist“, sagt Florian Alexander Schmidt. Die Verhandlungsmacht der Crowdworker, was die Entlohnung angeht, gehe „gegen null“. Könnte beispielsweise die IG Metall Druck auf die heimischen Autohersteller ausüben, auf dass diese sich verpflichten, nur mit solchen Plattformen zu arbeiten, die soziale Mindeststandards und vor allem Mindestlöhne nachprüfbar garantieren? Schmidt hält das derzeit für kein allzu realistisches Szenario.

Ein fragwürdiges Modell

Für den Dresdner Wissenschaftler, der seit Jahren zum Thema Crowdworking forscht, ist die Studie nicht nur eine Momentaufnahme. Die Arbeitssituation der Crowdarbeiter lasse sich „als Vorahnung einer künftigen Arbeitswelt sehen, in der Menschen gerade nicht – wie häufig behauptet – durch Algorithmen ersetzt werden, sondern mit ihnen zusammenarbeiten – in einem komplexen und zugleich prekären Wechselverhältnis“. Zwar trainieren die Crowdworker „genau die Maschinen, die sie früher oder später ersetzen sollen“. Aber sie werden nicht vollständig ersetzt, „sondern lediglich Aufgabe für Aufgabe, während die Menschen zugleich für immer neue Tasks benötigt werden, um dort wieder der Maschine auf die Sprünge zu helfen“. Ein Ende der Arbeit ist nicht in Sicht. Allerdings erinnern die Bedingungen häufig an die Zustände des Frühkapitalismus. Schmidt sagt: „Wir sind weit davon entfernt, Crowdarbeit auf ein Niveau zu heben, welches man seinen Kindern als Arbeitsplatz der Zukunft wünschen wollte.“ 

* Name geändert 

Alle sind dabei

 „Mindestens die 55 Hersteller, die bereits offiziell eigene autonome Prototypen im Straßenverkehr testen, brauchen heute millionenfach eigene Trainingsdaten. Nach Einschätzung von Plattformbetreibern […] ist davon auszugehen, dass derzeit praktisch alle großen Hersteller ihre Trainingsdaten zumindest versuchsweise bei diversen Plattformen parallel in Auftrag geben – auf der Suche nach dem besten Verfahren und dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis.“ 

Florian Alexander Schmidt: Crowdproduktion von Trainingsdaten. Zur Rolle von Online-Arbeit beim Trainieren autonomer Fahrzeuge. Reihe Study der Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf 2019


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