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Magazin Mitbestimmung

Arbeitszeitpolitik: Die Zeit ist reif

Ausgabe 12/2015

Freies Wochenende, 40-Stunden-Woche: Die ganz großen Erfolge der Gewerkschaften in der Arbeitszeitpolitik liegen lang zurück. Doch das Thema ist wieder auf der Agenda von IG BCE, IG Metall und ver.di. Gelingt erneut ein Coup, der den Lebensrhythmus der Gesellschaft verändert? Von Carmen Molitor

 „Samstags gehört Vati mir!“, hieß es 1956 eingängig auf den Kampagnenplakaten des DGB für eine Fünftagewoche. Die Forderung traf einen Nerv in der Wirtschaftswundergesellschaft. Im Oktober 2015 postulierte die IG Metall kämpferisch: „Wir holen uns die Zeit zurück!“, als sie auf ihrem Gewerkschaftstag eine neue Arbeitszeitkampagne beschloss. Auch dieses Motto könnte den Nerv der Gesellschaft treffen. „Jeder Beschäftigte soll einen durchsetzbaren Anspruch erhalten, um seine Arbeitszeit für Kinderbetreuung, Pflege oder Qualifizierung zeitweise zu verändern“, beschrieb der neue Erste Vorsitzende Jörg Hofmann das Ziel. Ein Schulterschluss mit ver.di und IG BCE, die sich in dieser Frage ähnlich engagiert auf den Weg gemacht haben, scheint möglich.

Mit der IG Metall meldet sich der traditionell erfolgreichste Treiber für Veränderungen in der Arbeitszeitpolitik zurück in der Arena. Die Metaller hatten über Jahrzehnte in zähen Streiks immer kürzere Wochenarbeitszeiten erreicht – bis hin zur Umsetzung der letzten Stufe der 35-Stunden-Woche 1995 in der Metall- und Elektrobranche in Westdeutschland. 2003 geriet die Erfolgsstory an ihr vorläufiges Ende: In Ostdeutschland musste die IG Metall ihren Kampf um die 35-Stunden-Woche nach vier Wochen Streik aufgeben. Ein Trauma, nach dem man jahrelang keinen großen Wurf in Sachen Arbeitszeit mehr versuchte. In der Krise 2008/2009 konzentrierte man sich auf Regelungen zur Kurzarbeit, um Beschäftigung zu sichern. Doch parallel zur gesellschaftlichen Debatte um Work-Life-Balance gewann die Arbeitszeitpolitik wieder an Bedeutung. In der vergangenen Tarifrunde wurden bereits Modelle von Bildungs- und Altersteilzeit durchgesetzt. Mit der neuen Arbeitszeitkampagne will die IG Metall wieder als wichtiger Spieler in der öffentlichen Debatte um Zeitsouveränität und Zeitwohlstand mitmischen.

WIE GEHT ARBEITSZEITPOLITIK HEUTE?

„Eine kollektive Wochenarbeitszeitverkürzung in klassischer Form ist tarifpolitisch nicht mobilisierungsfähig“, erkannte ver.di 2012 nach einer Umfrage innerhalb der eigenen Organisation. Auch Hilde Wagner, Ressortleiterin im Funktionsbereich Tarifpolitik beim IG-Metall-Vorstand, sagt: „Die Bedingungen sind andere und differenziertere als vor 30 Jahren, als wir für die 35-Stunden-Woche gekämpft haben. Der Wettbewerbsdruck ist gestiegen, und die verschiedenen Beschäftigtengruppen haben unterschiedliche Ausgangslagen. Da wird es schwieriger, eine Kernforderung zu finden, für die man alle mobilisieren kann.“ Und doch kristallisiert sich ein gemeinsamer Nenner heraus, wie die IG Metall unter anderem in ihrer Beschäftigtenbefragung 2013 feststellte: „Sie zeigt, dass die Beschäftigten, egal welcher Gruppe sie angehören, Arbeitszeiten haben möchten, die sich mehr an ihren Bedürfnissen ausrichten, zum Beispiel lebensphasenorientierte und gesundheitsförderliche Arbeitszeiten“, sagt Hilde Wagner. „Wenn wir diese gemeinsamen Interessen aufgreifen, können wir mobilisierungsfähig werden und als Gewerkschaft auch bei der Arbeitszeit eine Rolle spielen, die gesellschaftliches Gewicht hat.“ Die Tarifexpertin sieht derzeit „eine Renaissance der Arbeitszeitdebatte fast über alle Gewerkschaften hinweg und – bei Themen wie Vereinbarkeit oder zunehmenden Stresserkrankungen – auch im öffentlichen und politischen Raum.“ 

Lange Zeit stand im Fokus gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik die solidarische Idee, durch die kürzeren Arbeitszeiten der einen neue Jobs für die anderen zu schaffen. Die aktuellen Konzepte greifen Zeitbedürfnisse und Anfoderungen der Beschäftigten auf. Hilde Wagner sieht darin keinen Gegensatz. „Wenn Regelungen verbindliche Ansprüche für mehr Zeitautonomie oder anlassbezogene Reduzierungen der Arbeitszeit beinhalten und die Beschäftigten diese dann nutzen, wirkt das eben nicht nur individuell, sondern verändert den Lebensrhythmus in der Gesellschaft“, sagt sie. „Insofern ist das ein großes gesellschaftspolitisches Thema.“ Das Ziel der Beschäftigungssicherung laufe weiterhin im Hintergrund immer mit.

Hohe Flexibilität ist in den Betrieben gefragt wie nie: „Die Unternehmen üben Druck aus oder geben den Wettbewerbsdruck einfach weiter, und die Beschäftigten arbeiten häufig über die regulären Grenzen hinaus“, erläutert Tarifexpertin Wagner. „Sie nehmen die Arbeit mit nach Hause, arbeiten unterwegs und passen sich den Flexibilisierungsanforderungen an.“ In vielen Betrieben stehen die tariflich vereinbarten 35 Stunden nur auf dem Papier, während de facto höhere Arbeitszeiten üblich sind. Die Entgrenzung von Privat- und Arbeitsleben nimmt zu, vor allem Höherqualifizierte sind für den Arbeitgeber buchstäblich Tag und Nacht erreichbar, und oft werden zusätzlich geleistete Arbeitsstunden nicht erfasst und verfallen ohne Vergütung oder Freizeitausgleich. Die IG Metall sucht – ebenso wie ver.di und die IG BCE – nach Wegen, das zu ändern. „Wir wollen jetzt die Entgrenzung von Arbeitszeit zum Konfliktthema machen und das mobile Arbeiten regeln“, sagt Wagner. Eine Debatte über „ein Gegenmodell zur unternehmerischen Flexibilisierung“ sei nötig.

Wie man die fortschreitende Digitalisierung, die die Flexibilisierung von Arbeit weiter dynamisiert, arbeitnehmerfreundlich gestalten kann, gehört auch für die IG BCE zu den zentralen Fragen. Die Arbeitszeitpolitiker in der IG-BCE-Zentrale in Hannover halten Vereinbarungen über den Umgang mit den Spielarten der E-Mobility und über den Einsatz neuer Kommunikationsmittel ebenso dringend für geboten wie die systematische Erfassung der gesamten geleisteten Arbeitszeit. Genauer hinsehen will man vor allem bei scheinbar besonders zeitsouveränen „Win-win-Modellen“ wie der ergebnisorientierten „Vertrauensarbeitszeit“, bei der die tatsächliche Arbeitszeit nicht mehr erfasst wird. Was verlockend klingt, bedeutet in der Praxis häufig, dass tarifliche und gesetzliche Schutzvorschriften permanent unterlaufen werden: Es wird gearbeitet, bis ein gewünschtes Arbeitsergebnis erreicht wird – ohne dass es dafür Ausgleichszeiten gibt. Die IG BCE plädiert dafür, die Einführung von Vertrauensarbeitszeit konsequenter an klare Bedingungen zu knüpfen – und will den Auswüchsen von Entgrenzung auch mit genauer Arbeitszeiterfassung entgegentreten. Sie fordert, Obergrenzen der Zeiterfassung abzuschaffen, keine zeitlichen Fristen zum Abbau von Überstunden zu akzeptieren und transparente Regelungen einzuführen, die ein Übermaß an Überstunden verhindern.

KURZE VOLLZEIT, LANGE TEILZEIT

Bei der IG BCE und in anderen tariflichen Denkzirkeln kommt besonders ein Konzept gut an, mit dem sich die Arbeitszeit stärker an die Bedürfnisse der Beschäftigten anpassen lässt: die „kurze Vollzeit“. Sie bietet die Möglichkeit, phasenweise die Arbeitszeit nach den eigenen Bedürfnissen zu verkürzen, ohne dafür in Teilzeit zu gehen. Die IG Metall sieht darin große Chancen, und auch ver.di zeigte sich bei ihrem Bundeskongress im September aufgeschlossen, mit diesem Konzept die Arbeitszeitverkürzung voranzutreiben. Die Dienstleistungsgewerkschaft setzt zudem auf eine „lange Teilzeit“, die Teilzeitbeschäftigten ein Aufstocken ihrer Wochenstunden erlaubt. In den ver.di-Branchen werden Teilzeitjobs immer mehr zur Regel, mit der Folge, dass die Unternehmen zwar sehr flexibel agieren können, aber die Beschäftigten nur wenig verdienen und nur geringe Rentenansprüche erarbeiten. Die kurze Vollzeit sieht man nun als reelle Chance, dass im Gegenzug viele Teilzeitbeschäftigte ihr Arbeitsvolumen auf Wunsch aufstocken können.

Zurzeit diskutiert ver.di in den Fachbereichen zudem über ein eigenes Modell, das statt einer neuen Wochenarbeitszeitmarke ein mehrtägiges, flexibles Verkürzungsvolumen vorschlägt. Diese 14-tägige „Verfügungszeit“ pro Jahr sollen sowohl Voll- als auch Teilzeitbeschäftigte in Anspruch nehmen können: als Familienzeit, zur Pflege Angehöriger, zur Weiterbildung oder um sich zu erholen. „Es geht darum, kurzfristig zusätzliche Zeit für verschiedene Bedarfe nutzen zu können. Der eine bricht sie runter auf eine wöchentliche Reduzierung, der andere nimmt lieber mal drei Tage zusammen“, erklärt Sylvia Skrabs aus der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung von ver.di. „Es ist eine gute Möglichkeit, die Arbeitszeit insgesamt ein Stück weit zu reduzieren, sodass die Leute mehr Zeitpuffer in einem Jahr haben.“ 

Laut Skrabs steht die ver.di-interne Meinungsbildung noch am Anfang. „Es ist ein Denkmodell, um die Diskussion überhaupt wieder ins Laufen zu bringen“, sagt sie. Immer mehr Beschäftigte in den ver.di-Branchen, so Skrabs, wissen mit dem wachsenden Zeitdruck, der auf ihnen lastet, nur noch dadurch umzugehen, dass sie ihre Arbeitszeit reduzierten und weniger Gehalt in Kauf nähmen. Solchen Tendenzen setze ver.di mit der Verfügungszeit etwas entgegen: „Wir sind als Gewerkschaft in der Verantwortung, Modelle anzubieten, die nicht zu einem individuellen Entgeltverlust führen“, sagt Skrabs. „Es kann doch nicht sein, dass die Menschen reihenweise eine individuelle Arbeitszeitverkürzung vornehmen müssen, um ihre Arbeitsfähigkeit bis zum Rentenalter zu erhalten.“ In den ver.di-Fachbereichen sei das Modell „sehr gut angekommen“. Nun werde es mit den Mitgliedern diskutiert.

ARBEITSZEIT IST LEBENSZEIT

Die IG Metall orientiert sich in ihrer Arbeitszeitpolitik am Leitbild „Arbeitszeit ist Lebenszeit“. Die Liste der Ziele, die sie mit ihrer dreijährigen Kampagne in Gesellschaft, Betrieben und Tarifpolitik erreichen will, ist lang: Sie reicht von der Erfassung und Vergütung sämtlicher geleisteter Arbeitszeit über die Angleichung der tatsächlichen an die tariflichen Arbeitszeiten bis hin zu mehr Beschäftigungssicherheit und Regelungen, die ein gesünderes Arbeiten fördern. Sie umfasst die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben und mehr Zeitsouveränität genauso wie lebensphasenorientierte Arbeitszeiten und ein Rückkehrrecht von Teil- auf Vollzeitjobs. Auch spezifische Regelungen für Arbeitszeitkonten, die die Beschäftigten selbst managen können, und die Angleichung der Arbeitszeitstandards Ost an West strebt man an.

Wichtigste Keimzelle der Kampagne soll der Betrieb sein. Hier will die IG Metall Pilotprojekte begleiten und in allen Verwaltungsstellen Zielkataloge zum Thema erarbeiten. Noch nicht bis zur nächsten, aber vielleicht bis zur übernächsten Tarifrunde könnten so die ersten Forderungen erwachsen. „Der Frage nach der ‚Verfügung über die Zeit‘ kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Die Zeit ist reif für einen Neustart der Arbeitszeitpolitik, um die gewerkschaftliche und persönliche Souveränität im Umgang mit der Zeit zurückzugewinnen“, sagt Hilde Wagner. Die Gewerkschaften holen sich die Zeit zurück – bis es soweit ist, kann es aber noch etwas dauern.

Mehr Informationen

 IG BCE: Arbeitssouveränität zurückgewinnen. Herausforderungen der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik. Arbeitshilfe für Betriebsrätinnen und Betriebsräte, 2015. 

IG Metall: Leitantrag Neue Arbeitszeitpolitik. Gewerkschaftstag 2015. 

ver.di: Mehr Zeit für mich. Impulse für eine neue arbeitszeitpolitische Debatte. 

Interview mit Jörg Wiedemuth: „Wir wollen raus aus der Frontstellung“ in Magazin Mitbestimmung 6/2015

Jörg Hofmann/Tanja Smolenski: Sozialstaat 4.0 – Tarifbindung und Arbeitszeit entscheiden. In: WSI-Mitteilungen 6/2015

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