Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungVergütung: Die Zeit ist ein faires Maß
Die Praxis, Arbeit nach Zeit zu entlohnen, hat auch eine ethische Begründung. Wer Arbeitsverträge durch Werkverträge ersetzen will, beschädigt dieses Fundament. Von Ulrich Thielemann
Ökonomen dürften sich wundern. Arbeitnehmer werden im Grundsatz nicht für das Arbeitsergebnis vergütet, sondern für die Zeit, in der sie für das Unternehmen tätig sind. „Die Zeit ist das Maß der vom Arbeitnehmer geschuldeten Leistung“, formulierte bereits 1967 der Arbeitsrechtler Alfred Söllner. Die Qualifikation eines Bewerbers ist das Potenzial – es verwirklicht sich in der Zeit. Daher ist, wie auch der Arbeitsrechtler Martin Franzen kürzlich festhielt, die Festlegung der Arbeitszeit ein „strukturnotwendiges Element des Arbeitsvertrags (‚essentialia negotii‘), weil hiervon der Umfang der Leistungspflicht des Arbeitnehmers sowie regelmäßig seines Vergütungsanspruchs abhängt“. Denn soweit wir ein Dauerschuldverhältnis unterstellen, also einen Arbeitsvertrag, wäre ohne zeitliche Festlegung der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber unbegrenzt zur Leistung verpflichtet.
Letzlich interessiert den Arbeitgeber aber nicht die Leistung, sondern allein das Arbeitsergebnis. Dieses sollte möglichst so ausfallen, dass es der Gewinnerzielung dienlich ist, wobei in der Regel – nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung – angenommen wird, dass es hierbei nach oben keine Grenze zu geben hätte. Zwischen Leistung und Ergebnis wird häufig nicht unterschieden; beide Begriffe werden synonym verwendet. Dabei ist es ethisch von hoher Wichtigkeit, hier zu differenzieren: Die Leistung, das ist die Energie, die in den Arbeitsprozess hineingesteckt wird. Der Erfolg ist das messbare und für wen auch immer genau vorteilhafte Ergebnis. Es ist die Wirkung der Leistungsanstrengung.
Ethisch bedeutsam ist diese Unterscheidung zunächst einmal für die Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Wenn man den individuellen Einsatz nicht von dessen Wirkung trennt, dann müsste jedes Einkommen, das Jemandem marktkonform zufließt, als leistungsgerecht und angemessen gelten. Unfair hohe oder unfair niedrige Vergütungen könnte es gar nicht geben, da jedes Einkommen als Ausdruck des Leistungseinsatzes zu deuten wäre. Wer „Leistungsträger“ ist, lässt sich nach dieser Logik einfach am Kontostand ablesen.
Dass Einkommen in einer Gesellschaft stets arbeitsteilig erzielt werden, wird dabei einfach negiert. Damit fällt regelmäßig unter den Tisch, dass der Leistungseinsatz und letztlich auch der Zeiteinsatz einiger Arbeitnehmer möglicherweise unfair gering vergütet werden, obwohl der Beitrag dieser Leistungserbringer zur betrieblichen oder volkswirtschaftlichen Wertschöpfung nach Plausibilitätsgesichtspunkten hoch ist.
Wer in Deutschland oder anderen Volkswirtschaften, die als Soziale Marktwirtschaften verfasst sind und die noch nicht alle Momente der Marktsteuerung weg-„reformiert“ haben, einen Arbeitnehmer dauerhaft anstellen möchte, muss sich an die Vorgaben des Arbeitsrechts halten. Diese bestehen unter anderem darin, dass der Arbeitnehmer für die Leistung, für sein Bemühen oder Bestreben, ein irgendwie „gutes“ Arbeitsergebnis zu erzielen, vergüten muss. Dieses Streben vollzieht sich in der Zeit. Der Arbeitger kann nicht sagen: Du bekommst erst und nur dann dein Geld, wenn du mir diese oder jene nützlichen Wirkungen verschafft hast. Dazu müsste er von der arbeitsvertraglichen auf die werkvertragliche Form der Rechtsbeziehung zwischen Leistungsersteller und Leistungsempfänger umschwenken. Hier wird der Beschäftigte für den sogenannten Werkerfolg vergütet. Wie viel Zeit er dafür benötigt hat, obliegt dann seiner „Eigenverantwortung“.
Dem Arbeitsvertrag entspricht eine gemäßigte Form marktwirtschaftlichen Austauschs, die von wechselseitigem Vertrauen geprägt ist. Der Arbeitgeber vertraut darauf, dass der Arbeitnehmer innerhalb der Arbeitszeit „gute Arbeit“ leistet, und der Arbeitnehmer darauf, dass der Arbeitgeber Verständnis hat für die Schwierigkeiten und Nöte des Arbeitsprozesses, Probleme mit ihm gemeinsam angeht und dass er sich während seiner Arbeitszeit auf die Qualität des Leistungserstellungsprozesses konzentrieren darf. Die Qualität der Arbeit ist nicht einfach mit dem funktionalen Beitrag des Arbeitsergebnisses für die Rentabilität gleichzusetzen. Sie ist auch durch autonome Standards der Berufsausübung bestimmt.
Auch vertraut der Arbeitnehmer darauf, dass der Arbeitgeber die nützlichen Wirkungen, die er ihm verschafft, nicht permanent daraufhin untersucht, ob das gewünschte Ergebnis der Tätigkeit nicht irgendwo besser oder günstiger zu bekommen ist. Der Wettbewerb, der sich letztlich stets zwischen Beschäftigten abspielt, ist ein Stück weit stillgestellt. Natürlich ist die Ultima Ratio stets die Entlassung. Allerdings sind die arbeitsrechtlichen Hürden für sogenannte „leistungsbedingte Kündigungen“ durchaus hoch.
Aus der Sicht einer kapitalistischen, an Gewinnmaximierung ausgerichteten Unternehmung bedeutet eine Vergütung, bei der nur mehr die Zeitverbringung vergütet wird, allerdings, dass der Arbeitnehmer für das „Absitzen“ seiner Arbeitszeit bezahlt wird. Aus einer konsequent kapitalistischen Sicht sitzt ein Arbeitnehmer seine Zeit bereits dann ab, wenn er geringere Beiträge zur Gewinnerzielung beisteuert als ein anderer und wenn die Beträge, die in ihn investiert werden, anderswo rentabler eingesetzt werden könnten. Aus ethischer Sicht muss ein Einwand gegen diese Sicht formuliert werden: Die wirtschaftliche Betätigung im Rahmen einer Marktwirtschaft muss nicht bedeuten und bedeutet letztlich nie, dass die Marktlogik in höchster Reinheit verwirklicht wäre und das Marktprinzip mit aller Radikalität verfolgt werden müsste bzw. dürfte.
Dennoch sind die Versuche zahlreich, von der Zeitvergütung auf Formen sogenannter Leistungsvergütung (präziser: erfolgsabhängiger Vergütung) umzustellen. Hier schlägt die Stunde der „Leistungsanreize“, die allesamt als Ausdruck der Ökonomisierung des Wirtschaftens zu begreifen sind. Beispiele sind Akkordlohn, Stücklohn, Prämien, Provisionen, Tantiemen und Boni. Zu denken ist auch an Formen der Zeit- und damit der Vergütungsflexibilisierung („Abrufarbeit“). All diesen Formen ist jedoch gemein, dass, solange es sich um abhängige Beschäftigung handelt, der Grundsatz der Vergütung nach der Zeit des Leistungseinsatzes teilweise erhalten bleibt und nicht vollständig ausgehebelt werden kann.
So haben variable, an messbare Erfolge angelehnte Vergütungsbestandteile regelmäßig den Charakter von „Leistungszulagen“, die zusätzlich zum „Grundlohn“ oder zum „Akkordrichtsatz“ vergütet werden. Eine vollständige Flexibilisierung der Vergütung nach Erfolgskriterien würde nämlich bedeuten, dass das wirtschaftliche Risiko vollständig auf den Beschäftigten überginge.
Dann allerdings hätten wir es nicht mehr mit einem Arbeitsvertrag zu tun. Auch wenn sich bereits innerhalb des Arbeitsrechts die Grenzen der Zeitvergütung deutlich zugunsten der Erfolgsvergütung verschieben lassen, so bietet doch allein die privatrechtliche Gestaltung wirtschaftlicher Leistungsverhältnisse eine Abkehr vom Grundsatz, dass Beschäftigte im Prinzip für die Zeit, in der sie für ein Unternehmen tätig sind, vergütet werden. Dies ist der Grund, warum die Werkverträge boomen. Honorarkräfte, Freelancer, Freiberufler und Solo-Selbstständige sind auf dem Vormarsch. Einige bieten ihre Dienste als digitale Tagelöhner online auf Jobportalen an. Sie werden selten nach Zeit bezahlt, sondern für das, was sie dem Auftraggeber voraussichtlich einbringen. Dieser muss lediglich aufpassen, nicht in die Falle „Scheinselbstständigkeit“ zu tappen.
Selbstständige Zuarbeiter können sich – mindestens aus der Sicht des Beauftragenden – für die Leistungserstellung alle Zeit der Welt nehmen. Entsprechend tief fallen bei vielen die tatsächlichen Stundenlöhne aus. Das Mindestlohngesetz greift in diesen Fällen nicht. Auch das Arbeitszeitgesetz greift nicht. Es muss möglicherweise länger gearbeitet werden. Noch viel mehr als bei abhängig Beschäftigten müssen die nötigen Skills ständig à jour gehalten werden. Wer über rare und gleichwohl gesuchte Fähigkeiten verfügt, kann unter diese Bedingungen viel Geld verdienen – doch locken solche Verdienstmöglichkeiten auch Konkurrenz an.
Mit dem privatrechtlichen Werkvertrag kommen wir dem Negativbild eines Zustandes „unendlicher Leistungsanspannung“ (so Martin Franzen), den das Arbeitsrecht ja gerade zu verhindern trachtet, ein gutes Stück näher. Dagegen hilft nur eine Besinnung auf die Errungenschaften des Arbeitsrechts wie überhaupt auf die Errungenschaften einer Marktwirtschaft, die zu Recht als „sozial“ bezeichnet wird.
Ulrich Thielemann ist Leiter des MeM – Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik e.V. Die Abkürzung MeM steht für: Menschliche Marktwirtschaft.