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Magazin MitbestimmungNetzwelt : Die Web-2.0-FAQs
Alle reden vom Mitmach-Web. Aber wie richtet man seinen eigenen Blog überhaupt ein? Was hat es mit den Begriffen Astroturfing, Shitstorm und virales Marketing eigentlich auf sich? Und können Firmen in sozialen Netzwerken wirklich neues Personal finden? Von Tanja Kokoska
WAS IST ASTROTURFING?
Hochklassiges Feldhockey wird heute meist auf Kunstrasen gespielt. Dessen ebene Oberfläche ermöglicht ein schnelleres Tempo und bessere Ballkontrolle. Schnelligkeit und Kontrolle – zwei Faktoren, die auch entscheidend sind, wenn man in möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Zahl von Menschen für eine Idee oder ein Produkt gewinnen will. Wer sich dabei um Gesetz und Moral nicht schert, spielt auf einer Art virtuellem Kunstrasen. Diese Form der verdeckten Einflussnahme nennt sich „Astroturfing“. Namenspate ist die US-Firma Astroturf, ein Kunstrasenhersteller.
Dabei versuchen Lobbyinitiativen, Unternehmen und PR-Agenturen, die Arbeit von unabhängigen Bürgerinitiativen und Graswurzelbewegungen zu imitieren. Deren herausragende Eigenschaft – die Entstehung „von unten“ – wird in ihr Gegenteil verkehrt: Früher war klar, dass Informationen hierarchisch von oben nach unten weitergegeben wurden. Nun wird der Eindruck erweckt, dass sich Einschätzungen und Meinungen quasi basisdemokratisch ergeben haben und nach oben weitergereicht werden. Tatsächlich wird Astroturfing meist professionell konzipiert, von Politik und/oder Wirtschaft gesteuert und teils finanziert. Ein Beispiel: Der Verein Lobby Control deckte 2009 auf, dass die Deutsche Bahn verschleierte Pro-Privatisierungs-Propaganda durchgeführt hatte. Die Bahn bestätigte, Mittel wie Leserbriefe, Beiträge in Online-Foren und Blogs genutzt zu haben, um die privatisierungskritische Stimmung in der Öffentlichkeit zu drehen. Der entsprechende Etat soll sich auf rund 1,3 Millionen Euro belaufen haben. Weitere Verdachtsfälle aus der Atomlobby, der Deutschen Telekom, der Kontroverse um das Bahnprojekt Stuttgart 21 oder der Facebookgruppe, die sich für Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg einsetzte, sind bekannt. Auch nutzen Unternehmen die Bewertungs- und Kommentarfunktion im Internet, um ihre eigenen Angebote unter falschem Namen selbst positiv zu bewerten. Oder sie lassen auf Internetseiten der Konkurrenz negative Einträge platzieren. Die ZDF-Sendung „WISO“ berichtete vor zwei Jahren über wachsenden, teils systematischen Missbrauch von Hotelbewertungsportalen. Das australische Unternehmen Usocial bietet sogar Facebook- und Twitterfreunde zum Kauf an – und versichert, dass vor allem solche Kontakte vermittelt würden, die sich wirklich für den Auftraggeber interessierten. Astroturfing sei besonders heimtückisch, urteilte die „Zeit“, „weil es einen Vertrauensvorschuss missbraucht“. Zudem sei es nur schwer nachweisbar. Fake-Bewertungen, schreibt Anwalt Henning Krieg in seinem Jura-Blog, seien zumindest durch das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb verboten. Organisationen wie Lobby Control und Transparency International fordern verpflichtende Lobbyistenregister, die dokumentieren, wer wie viel ausgibt, um Politiker zu beeinflussen. Das könnte helfen, die Verflechtungen von Politik, Wirtschaft und PR weiter zu entwirren.
WIE RICHTE ICH EINEN BLOG EIN?
Tagebuch war was für Mädchen – Blog ist was für alle. Laut einer Statistik der Nielsen/McKinsey Company hat sich die Zahl der weltweit existierenden Internet-Tagebücher in den vergangenen sechs Jahren fast verfünffacht: Waren es 2006 noch rund 35 Millionen Blogs, wurden 2011 bereits 173 Millionen gezählt. Tendenz steigend. Wer zur Blogosphäre gehören will, braucht nicht mehr als eine E-Mail-Adresse, ein bisschen Zeit und etwas Experimentierfreude: Den richtigen Blog-Anbieter findet man am einfachsten durch Ausprobieren. Es empfiehlt sich, sich bei zwei, drei kostenlosen Anbietern anzumelden und zu testen, welche Software sich einem am einfachsten erschließt. Wer dann den nötigen Spaß am Schreiben hat und auch Leser findet, kann seinen Blog auch upgraden und sich etwa gegen geringe Gebühren ein schickeres Layout kaufen oder eine eigene Webadresse.
Zu den meistgenutzten kostenlosen Anbietern in Deutschland zählen Wordpress.com, Blogger.de und tumblr.com. Sie sind darauf spezialisiert, dem einfachen Nutzer alle Probleme abzunehmen: Programmierkenntnisse sind also nicht nötig. Kommentarfunktionen oder spezielle Tools, mit denen die Leser Beiträge bei Facebook oder Twitter weiterempfehlen können, sind schon eingebaut. Mit kurzen Lernfilmen hilft das Videoportal YouTube weiter. Dort erleichtern zahlreiche Anleitungen, die Anfänger Schritt für Schritt an die Hand nehmen, den Einstieg.
Zur Orientierung eignet sich meist die Startseite des jeweiligen Anbieters: Hier ist eine Reihe bestehender Blogs aufgeführt. Daran sieht man nicht nur, welche Optik und Inhalte möglich sind, sondern auch, wie aktiv die Blogger-Gemeinschaft ist – wie groß also die Wahrscheinlichkeit ist, mit möglichst vielen aus einer Community in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen.
Das Verfahren ist dann bei vielen Blog-Anbietern ähnlich: Zuerst wählt man einen Blog-Namen, Benutzerkennung und Passwort aus. Per E-Mail wird der Zugang bestätigt und der Blog freigeschaltet. Dann geht es an den Aufbau. Wordpress zum Beispiel lenkt auf eine Seite mit fertigen, meist kostenlosen Design-Vorlagen, aus denen man sich die schönste auswählt. Danach gelangt man zum „Dashboard“ (zu Deutsch Armaturenbrett, also der Instrumententafel). Hier schreibt man Artikel, Kommentare, ändert Einstellungen und Designs. Alles leicht zu finden, größtenteils selbsterklärend und kein Hexenwerk – allerdings setzt es ein paar Englischkenntnisse voraus. Wordpress ist, im Gegensatz zu anderen Anbietern, leider nicht durchgängig auf Deutsch zu haben. Änderungen sind sofort auf der Blog-Seite sichtbar. Und ein nur zur Probe angelegter Blog lässt sich über den Link „Einstellungen“ leicht wieder löschen.
WIE HILFT DAS WEB BEI DER PERSONALSUCHE?
Karlheinz ist ein gutes Beispiel. Die echte Flashmob-Feier ist als Video bei YouTube zu sehen. Zu seinem 40. Betriebsjubiläum überraschen ihn seine Kollegen von der Bayer AG in der Kantine mit einem Ständchen. Dazu schwenken sie Plakate: Danke für 40 Jahre. So präsentiert sich der Konzern als freundlicher, attraktiver Arbeitgeber und lockt auf diese Weise auch neue Kollegen für Karlheinz an.
Diese Methode ist aber noch die Ausnahme. Die „Studie zur Wirkung von Social Media im Personalmarketing 2011“, die die Wiesbaden Business School durchgeführt hat, zeigt: Viele Arbeitgeber haben noch keine wirksame Strategie im Personalmarketing in Social Media gefunden: „Für Unternehmen ist das Internet Pflicht, und Social Media sind die Kür“, sagt Florian Schreckenbach, einer der Autoren der Studie. Besonders kleine und mittelständische Unternehmen hielten sich bei der Kür noch zurück, auch weil ihnen die nötigen Kapazitäten fehlten. Internet – das bedeutet meist Rekrutieren in Karriere-Portalen wie Xing oder LinkedIn oder Inserieren in klassischen Online-Jobbörsen. Im „Social Recruiting Report 2011“ zeigt zum Beispiel der Online-Dienstleister 1000jobboersen.de, dass 80 Prozent der befragten Unternehmen diese Art des „Social Recruiting“ betreiben – also eher die passive Ansprache von potentiellen Bewerbern.
Aber Social Media ist eben nicht gleich Social Media. Netzwerke wie Facebook oder Portale wie YouTube – die Kür – können eine lohnende Ergänzung bei der Mitarbeitersuche sein. Denn die „langjährig gültige Gleichung ‚Aktiv suchende Bewerber treffen auf passiv wartende Recruiter‘ geht nicht mehr auf“, erklärt Wolfgang Jäger, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Experte in Personal- und Unternehmensführung. „Employer Branding“ heißt das Zauberwort. Großkonzerne wie Bayer, Allianz oder BMW betreiben neben ihren Unternehmens-Homepages eigene Karriereseiten, in Facebook-Fanpages, Blogs und eigenen Videos geben sie Einblicke in Abteilungen, um mit potenziellen Mitarbeitern in Kontakt zu treten. So wollen sie als Arbeitgeber zur Marke werden. Dabei geht es aber nicht alleine darum, dass Unternehmen Informationen bereitstellen. Sie wollen in den sozialen Netzwerken auch ansprechbar sein. Im Dialog können Recruiter soziale Medien nutzen, um eine Beziehung zu potenziellen Mitarbeitern aufzubauen, so Jäger, der bei der diesjährigen Arbeitsdirektoren-Konferenz der IG BCE zu Social Media referierte. Bei Bedarf kann ein Job-Angebot folgen. So lasse sich der Markt der passiv Suchenden erschließen. Eine gute Personalpolitik könne heute darauf nicht verzichten: „Das sind nach groben Schätzungen bis zu 80 Prozent des gesamten Bewerbermarktes.“
Trotz alle dem wird der „Wettbewerb um die Talente“ aber „nicht allein im Social Web entschieden“, meint Jäger: „Die Bekanntheit als attraktiver Arbeitgeber und die ‚Sichtbarkeit‘ der entsprechenden Stellenangebote ist regelmäßig nur über einen optimalen Kommunikationsmix aus elektronischer, schriftlicher und persönlicher Kommunikation zu erreichen.“ Der Kontakt im realen Leben bleibt also wichtig: Vorträge und Workshops an Universitäten, Stände auf Firmenkontaktmessen. Karlheinz zum Anfassen eben.
WAS IST EIN SHITSTORM?
Im Jahr 1963 überlegte der Meteorologe Edward Lorenz, ob es möglich ist, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Südamerika Tage später einen Hurrikan an der Westküste der USA auslöst. Rund 50 Jahre später hinterlässt ein Mensch irgendwo auf der Welt eine Art Flügelschlag 2.0: In einem Forum, einem Blog, in einem sozialen Netzwerk schreibt er einen Kommentar – dessen Wortwahl jedoch mit der Zartheit eines Schmetterlings leider nicht mithalten kann. Damit löst der Mensch nicht zwangsläufig einen Hurrikan aus. Aber es ist möglich.
„Shitstorm“ heißt diese virtuelle Wetter-Variante. Und nicht ohne Grund haben sich die Social-Media-Experten Barbara Schwede und Daniel Graf von der Agentur Feinheit aus Zürich an der Beaufort-Skala orientiert, als sie ihre siebenstufige Shitstorm-Skala entwickelten. So, wie Winde nach ihrer Stärke klassifiziert werden, unterscheidet auch der „Wetterbericht für Social Media“ etwa zwischen „Windstille“ (Stufe 0), „frischer Brise“ (Stufe 3) und „Orkan“ (Stufe 6). Wen der heftigste Shitstorm trifft, dessen Webseite, Blog oder Facebook-Präsenz wird mit aggressiven, beleidigenden, bedrohenden Einträgen und Nachrichten überhäuft. Wenn Online-Medien, Nachrichtenagenturen und Zeitungen aufspringen, wird der Shitstorm selbst zur Nachricht. Und übereilte, unbedachte Reaktionen können die Stimmung weiter aufheizen.
Ein Beispiel: Im Frühjahr 2011 klagte ein Kunde auf der Facebook-Seite des mittlerweile insolventen Stromanbieters Teldafax über mangelhaften Service. Ein Angestellter des Konzerns antwortete: „Leute, die Seite ist echt nicht der geeignete Platz für Beschwerden und Kundenanliegen.“ Damit erntete er massiven Protest. Die Facebook-Seite, aber auch andere Foren und Netzwerke wurden mit wütenden Einträgen Zigtausender überschwemmt. Der Flügelschlag – ein Konzern verweigert mit einer leichtfertigen Formulierung die Kommunikation mit seinen Kunden – genügt, damit sich aus einer Vielzahl Einzelner eine Bedrohung für das Image des Unternehmens formiert.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Anonymität. Aus ihrem Schutz kann der Wütende virtuell attackieren, auch unterhalb der Gürtellinie. Ist die Empörung groß genug, schweißt sie Menschen zusammen, die sich vorher gar nicht kannten. Ihr permanenter Austausch in einer Teil-Öffentlichkeit vermittelt ihnen den Eindruck, sie seien eine mächtige Gruppe. Die Empörung kann sich so selbst verstärken und manchmal auch dazu führen, dass sich Einzelne radikalisieren. Beispiel hierfür sind rechte Blogs wie Politically Incorrect, die mit den Methoden des Shitstorms gegen „Gutmenschen“ hetzen.
Gegen diese Mechanismen gibt es Vorschläge wie Anstandsregeln im Netz oder Klarnamenpflicht. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) fordert ein Ende der Anonymität im Internet; Blogger sollten „mit offenem Visier“ argumentieren. Die Gegenseite, zu der auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) gehört, meint, der Rechtsstaat müsse Internet-Pöbeleien aushalten. Ein Verbot von Anonymität und Pseudonymität hieße, „gerade die Minderheitenmeinungen verstummen zu lassen, die eine liberale, pluralistische Gesellschaft erst ausmachen“.
WAS IST VIRALES MARKETING?
Am Anfang war das Moorhuhn. Ende des zweiten Jahrtausends begann es seinen Siegeszug durch Deutschland und besetzte Scharen von Computern im Büro oder zu Hause. Menschen erlagen der Sucht nach dem Computerspiel und infizierten Freunde, Kollegen und Bekannte. Medien berichteten gar über angebliche Schäden für betriebliche Umsätze. Erst nach und nach wurde bekannt, dass es sich eigentlich um eine Werbekampagne der schottischen Whiskymarke Johnny Walker handelte – das Moorhuhn war längst zum Selbstläufer geworden.
Damit erfüllte es zentrale Voraussetzungen für virales Marketing. „Es muss Spaß machen oder Nutzen bringen“, erklärte Torsten Heinson von der Werbeagentur Wunderknaben der „Süddeutschen Zeitung“. Und: „Es muss so unkommerziell wie möglich rüberkommen.“ Virales Marketing stellt meist keinen offenen Bezug zur Marke her, schließlich lassen sich weder Journalisten noch Blogger gern zu Laufburschen der Werbung machen. Und doch handeln sie, wie vom werbenden Unternehmen gewünscht: Sie infizieren die Öffentlichkeit. Wie einen Virus verbreiten sie eine Botschaft, scheinbar ganz von allein und ohne zu wissen, wem sie damit dienen.
Heutzutage bieten soziale Netzwerke und Plattformen wie YouTube oder MyVideo für diese Methode ideale Ausgangspunkte. Foren und Communitys fungieren als Multiplikatoren, über Freunde, Kontakte und Follower wird die Nachricht – zum Beispiel ein Videoclip – gestreut. Der Vorteil: Die Online-Bekanntschaften stehen nicht im Verdacht eines kommerziellen Interesses.
Im Idealfall ragt die Kampagne über das Internet hinaus und wird über Presse und Fernsehen weiter verbreitet. Statt über das 70. Firmenjubiläum per Pressemitteilung zu berichten, ließ der Spielzeughersteller Lego 2007 eine große Plastikfigur am Strand in Holland auftauchen, im Internet kursierten Videos scheinbarer Augenzeugen, die Netzgemeinde rätselte. Internationale Medien und Nachrichtenagenturen griffen das Thema auf, lösten das Rätsel schließlich – und Lego hatte mit minimalem (finanziellem) Aufwand größtmögliche Aufmerksamkeit geschaffen.
„Dass sich Konsumenten zu Multiplikatoren machen, die wieder andere Konsumenten auf eine Kampagne aufmerksam machen, ist ein Werbertraum“, urteilte der „Spiegel“. Denn die Zuschauer suchen selbst aktiv nach dem Spot. Für die besten „Virals“ gibt es sogar einen Preis: Seit 2008 verleiht der Kurzfilmverleih interfilm Berlin gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung den Viral Video Award. Ab Mitte Oktober kann das Publikum online über die nomminierten Videos abstimmen. Zu sehen gibt es dann wieder lauter Beispiele gelungener Mundpropaganda des dritten Jahrtausends.
Text: Tanja Kokoska / Illustration: Jörg Volz/SIGNUM communication