Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Die umstrittene CO-Pipeline
CHEMIEPARKS Chemieunternehmen investieren in die Infrastruktur ihrer deutschen Standorte. Doch in der Bevölkerung wächst der Widerstand gegen industrielle Großprojekte. Von Ingmar Höhmann
INGMAR HÖHMANN ist Journalist in Köln/Foto: Volker Hartmann, ddp
Über eine Strecke von 67 Kilometern verlaufen die Rohre, in denen der Bayer-Konzern Kohlenmonoxid (CO) von Dormagen nach Krefeld leiten will - quer durch das Rheinland. Seit Ende 2009 ist die Pipeline zwischen den beiden Chemiestandorten bereits fertiggestellt, doch ob sie je in Betrieb gehen wird, ist fraglich - längst beschäftigt der Fall die Gerichte.
Das Großprojekt entzweit die Region: Seit Jahren streiten Bürger, Naturschützer und Kommunen mit der Landesregierung und der Chemieindustrie. Der Bayer-Konzern fühlt sich missverstanden: Die Sicherheitsstandards überträfen alle gesetzlichen Regelungen, außerdem sei die Pipeline eine bessere Alternative zum Transport des gefährlichen Gases über Schienen und Straßen. Nicht zuletzt stärke der Bau den Wirtschaftsstandort Nordrhein-Westfalen, da die Kunststoffhersteller hier auf die Rohstoffversorgung angewiesen seien. Auch die IG BCE betont die industriepolitische Bedeutung des Pipelineprojekts und unterstreicht die notwendige infrastrukturelle Vernetzung der Standorte, kritisiert allerdings Kommunikationsdefizite seitens der Bayer AG.
Doch die Akzeptanz für industrielle Großprojekte schwindet in Deutschland - auch an den rheinischen Chemiestandorten lässt sich das gut beobachten. Während die einen die Umweltkatastrophe an die Wand malen, sprechen die anderen von Wertschöpfung, Arbeitsplätzen und der zunehmenden Konkurrenz aus Asien. "Dass Anwohner, denen man eine Kohlenmonoxid-Pipeline durch den Garten legt, protestieren, ist nachvollziehbar", sagt Tobias Lewe, Chemieexperte bei der Unternehmensberatung A.T. Kearney. "Doch im Rheinland geht es um eine grundsätzliche Frage unserer Wirtschaftsordnung: Wollen wir Zugeständnisse machen, um eine Industrie zu erhalten?"
Hierzu ein Interview mit Reiner Hoffmann, IG-BCE-Bezirksleiter NRW (pdf)
KEINE ZUKUNFT OHNE INFRASTRUKTURAUSBAU_ Für Ökonomen ist die Sache klar: Ohne Infrastrukturausbau hat der Standort keine Chance - und das gelte besonders bei den Chemieparks. Diese stehen wie nie zuvor im weltweiten Wettbewerb. Schon Anfang des Jahrzehnts haben die Chemiekonzerne auf die Herausforderungen reagiert, die großen Konglomerate sind mittlerweile in viele einzelne Unternehmen aufgegangen. Vor allem Dienstleistungen, Infrastrukturaufgaben sowie Ver- und Entsorgung wurden ausgegliedert. In den mehr als 40 Chemieparks in Deutschland - die weitgehend identisch sind mit dem Firmengelände der ehemaligen Großbetriebe - sind heute über 920 Unternehmen ansässig, die rund 240 000 Mitarbeiter beschäftigen.
Der weltweite Wettbewerb fordert die deutschen Standorte nach wie vor heraus. Einer Studie von Horst Wildemann, Wirtschaftsprofessor an der Technischen Universität München, zufolge vereinen die Staaten in Asien und dem Mittleren Osten bereits heute mehr als die Hälfte des Weltmarkts in der Petrochemie auf sich. Und ihre Bedeutung nimmt weiter zu: Nach Schätzungen von A.T. Kearney wird der Umsatz der Branche allein in China bis 2015 im Schnitt um 13 Prozent pro Jahr wachsen - das ist fast dreimal so stark wie der deutsche Markt. Rund 50 Milliarden Dollar haben die Schwellenländer in diesem und im vergangenen Jahr in neue Standorte gesteckt. In Deutschland kämpfen die Betreiber hingegen um jedes einzelne Vorhaben.
Die Chemiebranche stehe vor "zahlreichen, teilweise existenzgefährdenden Herausforderungen", sagt Forscher Wildemann. Wachstum sei nur über Investitionen möglich. "In Deutschland wird heute kein neues Chemiewerk mehr ohne Weiteres genehmigt. Daher müssen die bestehenden Parks, die bereits eine Betriebserlaubnis haben, effizienter werden und ihre Infrastruktur verbessern."
Detlef Rennings, Betriebsratsvorsitzender des Chemieparkbetreibers Currenta, der als Joint Venture der Bayer AG und der Lanxess AG geführt wird, sieht das ähnlich. Er hält die CO-Pipeline zwischen den Bayer-Standorten in Krefeld und Dormagen für notwendig - trotz der Widerstände in der Bevölkerung. "In erster Linie müssen wir uns um die Belange der Beschäftigten kümmern", sagt. "Wenn wir die Arbeitsplätze erhalten wollen, müssen wir uns in die Industriepolitik einklinken - das erwarten unsere Mitglieder von uns." Und in gleichem Maße erwarten die Mitglieder, dass sich die Gewerkschaften auch um die Arbeitsbedingungen in den komplexen Strukturen der neu ausgerichteten chemischen Industrie kümmern.
Für die Arbeitnehmer muss diese Entwicklung nicht per se von Nachteil sein - wenn Investitionen und Beschäftigung auf hohem Niveau bleiben. Im Industriepark Frankfurt-Höchst beispielsweise gibt es heute mehr als 90 Unternehmen, die 22 000 Mitarbeiter beschäftigen - das sind fast 20 Prozent mehr als vor der Zerschlagung des alten Hoechst-Konzerns. Zudem investieren die neuen Firmen kräftig: Seit dem Jahr 2000 flossen 3,7 Milliarden Euro in das Areal, das ist im Jahresschnitt weit mehr als zu Zeiten des früheren Großunternehmens.
DIE KOSTENSCHRAUBE WIRD WEITER ANGEZOGEN_ Um gute Arbeitsbedingungen müssen die Gewerkschafter aber immer härter kämpfen. Frank Niebergall, Betriebsratsvorsitzender des Chemieparkbetreibers Infraserv Höchst, warnt: "Alles, was optimiert werden konnte, ist umgesetzt. Jetzt müssen wir uns darauf einstellen, dass die Arbeitgeber die Tarifstruktur angreifen werden, damit die Eigner eine höhere Rendite erzielen."
Um keine Chemietariflöhne zahlen zu müssen, wurden vielerorts bereits Wach- und Logistikbereiche an günstige Dienstleister ausgelagert. "Diese haben in der Regel längere Arbeitszeiten, die Nebenleistungen und betriebliche Altersvorsorge sind deutlich niedriger", sagt Werner Voß, Ökonom und Betriebsratsberater bei Arbeco, der im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung die Umbrüche in der chemischen Industrie untersucht hat. "Weil der wirtschaftliche Druck auf die Betreibergesellschaften der Parks hoch bleibt, übertragen sie zunehmend auch technische Dienstleistungen an externe Anbieter."
Unterstützung bekommen die Gewerkschafter aus der Wissenschaft: Über die Löhne werde der Standortwettbewerb mit Asien nicht entschieden, sagt Forscher Wildemann. "Die Personalkosten haben an den Ausgaben in der Chemieindustrie nur einen geringen Anteil. Hier den Hebel anzusetzen ist nicht sinnvoll." Die Firmen sollten stattdessen das Potenzial ihrer Mitarbeiter nutzen - und bei der Qualifizierung ansetzen.
Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, wollen die Arbeitnehmervertreter in den Chemieparks stärker zusammenarbeiten. "Wir überlassen den Arbeitgebern zu sehr das Feld bei der Debatte um Kostenreduzierungen", sagt Betriebsrat Niebergall. "Sie erzählen uns immer, was wer angeblich irgendwo billiger macht und dass wir deshalb nachgeben müssten. Wir brauchen zuverlässige Informationen, die solche Vergleiche versachlichen."
GUTE NACHBARSCHAFT HAT IHREN PREIS_ Die Kohlenmonoxid-Pipeline ist derzeit nicht das einzige Streitobjekt: Im Chemiepark Krefeld-Uerdingen soll auch ein neues Steinkohlekraftwerk entstehen, das die Firmen am Standort mit günstiger Energie versorgen soll. Zwei Drittel des Stroms muss der Chemiepark derzeit extern einkaufen. Das Ziel lautet auch hier: Standortsicherung.
Beim Kohlekraftwerk wollen es die Arbeitgeber jetzt besser machen als beim Bau der Pipeline. Sie haben früh den Dialog mit der Bevölkerung gesucht. Currenta-Betriebsrat Rennings hofft, dass das Kraftwerk bald genehmigt wird. Der Ausbau der Infrastruktur sei notwendig, um die mehr als 6000 Arbeitsplätze in Krefeld zu erhalten, sagt er. "230 Millionen Euro gehen als Nettolohnsumme aus dem Chemiepark in die Region - das sollten auch die Kritiker berücksichtigen." Dennoch kann Rennings auch die Proteste verstehen: "Früher war die Nachbarschaft stolz auf das Bayer-Werk", sagt er. "Aber die Schlagzeilen waren in den vergangenen Jahren nicht gut. Es ging um Umweltrisiken, Zerschlagung und Personalabbau - da ist auch Vertrauen verloren gegangen."
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