Quelle: Karsten Schöne
Magazin Mitbestimmungthyssenkrupp: Die Stunde der Mitbestimmung
Starke Mitbestimmung kann einen geschwächten Konzern vor dem Ausverkauf durch Finanzinvestoren bewahren. So geschehen im Sommer 2018: thyssenkrupp stand vor dem Abgrund, doch die Arbeitnehmerbank des Aufsichtsrats war auf dem Posten. Von Carmen Molitor
Nein, das hat Susanne Herberger nicht kommen sehen. Dabei weiß die Aufsichtsrätin der thyssenkrupp AG als Mitglied des Strategieausschusses viel darüber, was das Unternehmen künftig prägen wird. Aber dass der Vorstandsvorsitzende Heinrich Hiesinger mitten im Sturm von Bord gehen würde, hätte die Vorsitzende der Betriebsrätearbeitsgemeinschaft thyssenkrupp Elevator Technology und stellvertretende Konzernbetriebsratsvorsitzende der thyssenkrupp AG nicht gedacht. Enttäuscht sei sie nicht gewesen, das sei das falsche Wort. Es war schlimmer: „Ich fühlte mich getäuscht von ihm“, sagt Herberger.
Nur ein paar Tage zuvor hatte Hiesinger das von ihm forcierte, im Konzern umstrittene Joint Venture der Stahlsparte von thyssenkrupp mit dem indischen Konkurrenten Tata Steel verkündet und als „Meilenstein“ gefeiert. Am 5. Juni kündigte er seinen Rücktritt an. „Hiesinger hat uns bis zuletzt das Gefühl gegeben, mit uns gemeinsam etwas für die Zukunft zu diskutieren“, sagt Susanne Herberger. Die Arbeitnehmervertreter hatten das Joint Venture kritisch gesehen und ihn aufgefordert, auch Alternativen zu bedenken. „Diese Alternativen wollte er nicht mit uns diskutieren“, sagt Herberger. „Wir haben daraufhin einen entsprechenden Tarifvertrag gemacht – unter unseren Bedingungen. Aber für mich war klar: Das ist der Hiesinger-Weg. Und nicht, dass er eine Woche später zurücktritt!“
Das tat er aber – inmitten eines brodelnden Machtkampfes um die strategische Ausrichtung des Unternehmens, der die Anteilseignerbank im Aufsichtsrat lähmte. Den hastigen Abgang verbuchte die Wirtschaftspresse als Sieg der Hiesinger-kritischen aktivistischen Finanzinvestoren, die den Konzern im Gegensatz zum damaligen Vorstandschef lieber heute als morgen in viele lukrative Filetteile zerkleinern, verkaufen und ihr Investment so vergolden wollten. Der schwedische Finanzinvestor Cevian Capital (Beteiligung 18 Prozent) hatte Front gegen die Pläne des Vorstands gemacht, und auch US-Hedgefonds Elliott (Beteiligung knapp unter 3 Prozent) hatte öffentlich die „schwache Performance“ der thyssenkrupp-Aktie kritisiert und die Zerschlagung gefordert.
Hiesinger begründete seinen Abgang mit eben jener Uneinigkeit der Anteilseigner und beklagte den eiskalten Gegenwind, der ihm vonseiten der Finanzinvestoren entgegenwehte. Susanne Herberger lässt das nicht gelten: „Diese Begründung hätte es immer gegeben, da musste er nicht gerade diesen Moment für den Abgang wählen“, betont sie. Topmanager könnten eben keine bedingungslose Gefolgschaft von den Eignern des Unternehmens erwarten.
Essener Sommernachtsalbtraum beginnt
Doch Hiesingers Abgang war nur der erste Akt in der eskalierenden Führungskrise. Als nach kurzer Pause auch der Aufsichtsratsvorsitzende Ulrich Lehner zurücktrat, begann der Rest des Essener Sommernachtsalbtraums. Lehner hatte den „Psychoterror“ der Finanzinvestoren moniert. „Einzelne aktivistische Investoren sind dafür bekannt, dass jene Manager, die sie loswerden wollten, später in psychiatrische Behandlung mussten“, beklagte er in einem Interview. Solche Aktionäre seien „für das Unternehmen kein Gewinn“. Er wehre sich weiter gegen eine Zerschlagung. Selber daran arbeiten wollte er aber nicht mehr: Ein paar Tage später trat auch Lehner von der Bühne ab.
Diesmal war es an Markus Grolms, „vollkommen überrascht“ zu sein. Der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats befand sich mitten in einem Umzug, als ihn Ulrich Lehner am Telefon über seinen Entschluss informierte. Grolms, Sekretär im Ressort Betriebspolitik/Betriebsverfassung im IG-Metall-Vorstand, mochte kaum glauben, was er da hörte. „Die Zukunft von thyssenkrupp steht auf dem Spiel, und das Führungspersonal haut einfach ab!“ Auch sein Aufsichtsratskollege Norbert Kluge, Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung, fiel dazu nichts mehr ein: „Das muss ein gestandener Aufsichtsratsvorsitzender mit seinem Erfahrungshintergrund des Rheinischen Kapitalismus einfach mal aushalten!“
Irritiert beobachtete die Arbeitnehmerbank, dass die verbliebenen neun Aufsichtsratskollegen der anderen Seite es nicht schafften, pflichtgemäß einen Nachfolger Lehners zu benennen. Keiner von ihnen wollte diese Verantwortung übernehmen. Grolms wusste, dass nun die reale Gefahr bestand, „dass die Finanzinvestoren sich durchsetzen und den Ausverkauf von thyssenkrupp einleiten könnten“. Ruhiges und zügiges Handeln war geboten: Am 1. August zog also Grolms in Lehners ehemaliges Büro ein und rief das Corporate-Office-Team zusammen. Für den Gewerkschafter gab es da kein Vertun: Wenn schon Aufsichtsratsvorsitzender, dann mit allen Konsequenzen. Auch den Vorsitz im Strategie-, Finanz- und Investitionsausschuss übernahm er – niemand sonst wollte den Posten haben.
Arbeit gab es genug: den Suchprozess für den Vorstandsvorsitzenden einleiten, Personalausschusssitzungen leiten, Tagesordnungen für die Aufsichtsratssitzungen ausarbeiten. Grolms musste sich mit operativen Themen von Geschäftsbereichen ebenso befassen wie mit der Suche nach wirtschaftlich tragfähigen Strategien. Und er musste für mögliche Zukunftspläne eine gemeinsame Basis zwischen Vorstand und unterschiedlich denkenden Anteilseignern suchen.
Zum Wohl des Unternehmens
„Der Aufsichtsrat überwacht den Vorstand, und es geht ihm um das Wohl des Unternehmens“, das sei – wie im Gesetz verankert – das Verständnis der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, berichtet Norbert Kluge. Ob auch die andere Bank das so sehe, zieht er nach der Erfahrung im Sommer in Zweifel: Es gehe einigen gar nicht in erster Linie um eine nachhaltige Zukunft des Konzerns, sondern vorrangig darum, ihre eigenen Partikularinteressen als Aktionäre einseitig zu verfolgen. Im Zuge des Joint-Venture-Disputs zeigte sich für Kluge, „dass mindestens der Cevian-Vertreter im falschen Gremium sitzt. Er will für den Investor aus viel Geld mehr Geld machen.“ Deshalb gehöre der nicht in den Aufsichtsrat, sondern in die Hauptversammlung. Stattdessen habe er weiter doppelten Einfluss, „als Aktionär und zusätzlich als Aufsichtsrat, damit er noch mehr Informationen kriegt und sich Vorteile verschaffen kann. Das finde ich systematisch falsch.“
Dass Markus Grolms selbstbewusst den Vorsitz im Aufsichtsrat übernehmen konnte, lag zum großen Teil daran, dass er das professionell eingespielte Team der Arbeitnehmervertreter hinter sich wusste. „Wir mussten eigentlich nur arbeiten, wie wir das immer tun, nur in einer andere Rolle“, beschreibt er. „Für uns hat es sich im Sommer bezahlt gemacht, über Jahre hinweg zu einer gut eingespielten Formation der Interessenvertretung geworden zu sein.“
Bereits Anfang 2018 hatten sich Grolms und seine Kollegen im Zuge des Streites um die Zukunft der Stahlsparte intensiv mit dem Thema Strategie befasst und sich über die Erfahrungen in anderen Unternehmen schlaugemacht. „Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat begreifen Mitbestimmung auch immer als Mitverantwortung für die nachhaltige wirtschaftliche Zukunft des Unternehmens mit Perspektiven für Arbeitsplätze und Standorte“, betont Norbert Kluge. Mit Unterstützung externer Wirtschafts- und Rechtsexperten arbeiteten sie über eigene Pläne aus, und das vor allem auch zwischen den Sitzungen des Aufsichtsrates. „Professionalität und Solidarität sind für uns aber zwei Seiten derselben Medaille. Das unterscheidet unser wertorientiertes Handeln von dem der anderen Beteiligten“, sagt Markus Grolms.
Dazu gehört auch eine strategische Kommunikation mit der Außenwelt. So sandte er als Aufsichtsratsvorsitzender durch Interviews über die Presse interne Signale aus. „Die Botschaft an die Finanzinvestoren war: Wenn ihr an Lösungen für thyssenkrupp beteiligt sein und mit uns zusammenarbeiten wollt, müsst ihr für die Beschäftigten Verantwortung übernehmen“, erzählt Markus Grolms. Und siehe da: Schon bald sagte Cevian öffentlich, dass bei allem, was mit dem Konzern passieren werde, „die berechtigten Interessen der Beschäftigten umfassend berücksichtigt werden“. Grolms war zufrieden: „Das hat uns ermöglicht, die unterschiedlichen Parteien miteinander zu verbinden.“
Der damalige Interims- und heutige Vorstandsvorsitzende Guido Kerkhoff präsentierte schließlich eine Strategie, die von den Arbeitnehmervertretern positiv aufgegriffen wurde: die Zweiteilung des Konzerns in die Bereiche Industrials und Materials. Vor dem Aufsichtsratsbeschluss darüber stand eine Grundlagenvereinbarung zwischen IG Metall und dem Unternehmen, die die Interessen der Beschäftigten schützt und eine Beschäftigungsgarantie im Zusammenhang mit der Teilung enthält. Eine Verpflichtung, die damit auch Investor Cevian und der Hauptaktionär Krupp Stiftung eingegangen sind. Markus Grolms gab nach getaner Arbeit im Oktober die Geschäfte als Aufsichtsratsvorsitzender an Bernhard Pellens ab, inzwischen hält Martina Merz das Ruder in der Hand.
Schwierigstes und zugleich spannendstes Jahr
Es sei ihr schwierigstes und spannendstes Jahr in der Mitbestimmung gewesen, zieht Susanne Herberger ein paar Monate später Bilanz. „Ich habe noch nie so intensiv mitgestaltet wie in den letzten Monaten“, sagt sie und lobt ihren Aufsichtsratskollegen: „Markus hat eine Brücke zwischen beiden Seiten geschlagen, bis Bernhard Pellens ins Amt kam. Er hat es immer wieder geschafft, alles gut einzufangen und mit allen Leuten zu sprechen.“
Norbert Kluge sieht die Arbeitnehmerbank nach der Krise enger zusammengerückt und „mental gestärkt“. Er habe viel gelernt darüber, „was Mitbestimmung überhaupt ist, wenn der Kapitalismus sich ändert und Spieler auf dem Feld sind, in deren Logik es nicht vorgesehen ist, dass es das Unternehmen morgen noch gibt“. Dann sei es nötig, die „Workers’ Voice“ zu bündeln und mit diesem Rückhalt die Bedingungen zu diktieren, nach denen das Kapital einsteigt. „Wie oft wir das hinkriegen, weiß ich nicht, es kostet viel Kraft. Aber ich glaube, dass wir für so einen Weg politische Unterstützung bekommen.“
Mitbestimmung wirkt als „letzte Barriere“
DGB-Chef Reiner Hoffmann, Vorstandsvorsitzender der Hans-Böckler-Stiftung, zollte Markus Grolms und der gesamten Arbeitnehmerbank seinen Respekt: „Was das Team hier im Aufsichtsrat bei thyssenkrupp leistet, ist wirklich beeindruckend und ein herausragendes Beispiel für professionelle Mitbestimmung“, lobte er. Für Grolms selbst ist nach dieser Erfahrung mehr denn je klar: „Wenn das Unternehmen in schwieriger wirtschaftlicher Lage unter derartigen Druck von Finanzinvestoren kommt, erweist sich die Mitbestimmung als letzte Barriere gegen den Durchmarsch von Aktionärsinteressen an der renditeträchtigen Zerschlagung des Konzerns. Wäre das nicht gewesen, wäre thyssenkrupp heute kaputt.“