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Magazin MitbestimmungAutoindustrie: „Die Stimmungsmache gegen den Antriebswechsel ist brandgefährlich“
Bei Volkswagen stehen der IG Metall harte Auseinandersetzungen bevor. Ein Gespräch mit Thorsten Gröger, Bezirksleiter der IG Metall Niedersachsen-Sachsen-Anhalt, über unternehmerische und politische Fehlentscheidungen und wie gebrochenes Vertrauen zurückgewonnen werden kann. Die Fragen stellten Kay Meiners und Fabienne Melzer
Bei Volkswagen soll es die massivste Sparrunde seit Jahrzehnten geben. Betriebsrat und IG Metall sprechen vom Bruch einer Tradition der vertrauensvollen Zusammenarbeit, die VW auch wirtschaftlich stark gemacht hat. Wie kann Vertrauen zwischen Management und Belegschaft wieder geschaffen werden?
Bei Volkswagen hat sich über die Jahrzehnte eine Kultur der industriellen Beziehungen entwickelt, die innerhalb und außerhalb der IG Metall treffend als „kooperative Konfliktbewältigung“ bezeichnet wird. Seit September dieses Jahres steht dieses erfolgreiche Modell vor seiner größten Zerreißprobe. Ich meine damit die Ankündigung des Unternehmens, Standorte zu schließen und vor betriebsbedingten Kündigungen nicht haltzumachen. Und ich meine damit vor allem die vom Unternehmen ohne jegliche Andeutungen im Vorfeld durchgezogene formale Aufkündigung zentraler Bestandteile des Haustarifvertrags, darunter des Tarifvertrags zur „nachhaltigen Zukunfts- und Beschäftigungssicherung“. Angesichts eines derartigen Frontalangriffs auf die sozialen und tariflichen Errungenschaften bei Volkswagen ist die Wiederherstellung einer Vertrauensbeziehung eine denkbar schwierige Angelegenheit. Das Mindeste, was hierzu erforderlich ist: Schließungspläne und Kündigungsabsichten vom Tisch nehmen und Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung wieder als gleichrangige Unternehmensziele behandeln.
Wie wollen Sie Werkschließungen und betriebsbedingte Kündigungen verhindern, und was sind Ihre roten Linien?
Die roten Linien sind schnell benannt: Über Werkschließungen und Massenentlassungen ist mit uns nicht zu reden. Um diese zu verhindern, beteiligen wir uns an der Ausarbeitung eines tragfähigen Zukunftskonzepts für alle Standorte.
Wie sieht Ihr Zukunftskonzept aus?
Als IG Metall haben wir nun ein eigenes Zukunftskonzept mit einer solidarischen Werkbelegung vorgelegt. Das wäre ordinäre Aufgabe des bestbezahlten Vorstandes des Landes. Aber wir wollen Teil der Lösung sein, daher sieht unser Ansatz vor, die Sparziele der Unternehmensspitze über Änderungen bei den Personalkosten mit etwa 1,5 Milliarden Euro zu flankieren. Wir haben einen eigenen Plan präsentiert, der ohne Werksschließungen und Massenentlassungen auskommt. Konkret soll bei VW im Gegenzug für ein Gesamtpaket aus Investitionen, Garantien und Sicherheiten für alle Standorte Folgendes geschehen: Die kommende Tariferhöhung bei VW könnte befristet als Arbeitszeit in einen solidarischen Zukunftsfonds eingebracht werden. Darüber bekäme das Unternehmen ein Instrument, um bei Bedarf Arbeitszeiten abzusenken. Falls also durch den Strukturwandel in Produktion oder Verwaltung Unterauslastungen entstehen, würde der Fonds helfen, Personalabbau weiterhin sozialverträglich gestalten zu können. Als weiterer Teil des Konzeptes sollen 2025 und 2026 Teile der Boni – von Vorstand über Management bis in den Tarif – für Zukunftssicherung eingebracht werden. Auf Basis einer Besitzstandssicherung könnte das Entgeltsystem modernisiert werden.
Über Werkschließungen und Massenentlassungen ist mit uns nicht zu reden.“
Fast alle Autohersteller in Deutschland haben zu kämpfen. Welche Teile der Krise sind strukturell?
Die strukturellen Themen für alle deutschen Hersteller lauten: neue technische, beschäftigungs- und wettbewerbspolitische Herausforderungen durch Elektromobilität, chinesische Konkurrenz und chinesischer Markt, mangelnde Ladeinfrastruktur, zu hohe Strompreise für Konsumenten und Autoproduzenten, Planungsunsicherheit der Unternehmen aufgrund der sprunghaften und zaghaften Politik der Bundesregierung und der Opposition. Zu nennen ist hier das abrupte Ende der Kaufprämie für E-Fahrzeuge vor einem Jahr und die Stimmungsmache im politischen Lager. Zu viele Politiker, von konservativ bis liberal, aber auch nationale Kräfte machen derzeit massiv Stimmung gegen den Antriebswechsel zur E-Mobilität. Gefordert wird das „Aus vom Verbrenner-Aus“. Die Konsequenz: Alle sind verunsichert, Konsumenten und Produzenten gleichermaßen. Das ist brandgefährlich.
Und welche Probleme sind hausgemacht?
VW hat zu lange an traditionellen Verbrennungsmotoren festgehalten und die Umstellung auf Elektrofahrzeuge verzögert. Dies hat dazu geführt, dass der Autobauer im Vergleich zu anderen Herstellern, insbesondere zu Tesla und chinesischen Konkurrenten, ins Hintertreffen geraten ist. Während chinesische Hersteller günstige Elektroautos anbieten, haben sich VW und andere deutsche Autobauer auf teure Premiummodelle konzentriert. Dies hat besonders in wichtigen Märkten wie China zu einem Rückgang des Marktanteils geführt. VW hat mehrfach seine Batterie- und Softwarestrategie geändert, was zu Verzögerungen und Ineffizienzen geführt hat. Es gibt im Mehrmarkenkonzern etliche Beispiele von regelrechter Geldverbrennung, weil Dinge doppelt und dreifach entwickelt werden. Viele Entscheidungen wurden getroffen, um kurzfristige Gewinne zu maximieren, anstatt langfristige Investitionen zu tätigen. Insgesamt mangelt es VW an einer Zukunftsstrategie.
Was muss aus Ihrer Sicht passieren, um die Kernmarke wieder flottzumachen?
In guten Jahren konnten die Premiummarken ihr eigenes Süppchen kochen, das geht jetzt nicht mehr. Synergien müssen viel systematischer genutzt werden. VW muss sehr schnell attraktive, bezahlbare Elektrofahrzeuge entwickeln und auf den Markt bringen. Volkswagen muss der Bezeichnung „Volumenhersteller“ durch die Herstellung eines echten Massenfahrzeugs gerecht werden. Das Software Defined Vehicle – und sehr bald auch das autonom fahrende Fahrzeug – ist gerade dabei, die Automobilindustrie vom Kopf auf die Füße zu stellen. VW braucht hierfür klare Konzepte. Wir sagen als IG Metall aber auch, dass der Erfolg von Volkswagen ganz wesentlich von den Beschäftigten abhängt. All die genannten Zukunftsthemen brauchen hoch engagierte und qualifizierte Beschäftigte. Also sind gute und sichere Arbeitsplätze inklusive stabile Perspektiven für Auszubildende viel mehr als nur der übliche Gewerkschafter-Sprech.
Welche Weichen kann die Politik stellen, um der Autoindustrie aus der Krise zu helfen?
Politik muss der Tatsache Rechnung tragen, dass E-Mobilität die Zukunftsfrage für die Automobilindustrie weltweit ist. In China, dem größten Automobilmarkt der Welt, ist schon jetzt die Hälfte der Neuwagen elektrifiziert. Dieser Trend ist nicht mehr aufzuhalten. In einer Übergangsphase muss der Verkauf von E-Fahrzeugen weiterhin gefördert werden; statt durch klassische Kaufprämien könnte dies durch Steuervorteile umgesetzt werden. Die Steuervorteile für Dienstwagen gilt es, auf private Haushalte zu übertragen. Denn im Unterschied zu Kaufprämien, Abwrackprämien oder Mehrwertsteuersenkung haben Steuernachlässe den Vorteil, dass Konjunkturimpulse unmittelbar gesetzt werden können, die Kosten für die öffentlichen Haushalte jedoch zeitlich gestreckt werden, da sie in den Folgejahren anfallen. Es bedarf zusätzlich der Förderung für Leasing-Neufahrzeuge beispielsweise durch Einführung eines „Sozialleasings“ nach französischem Vorbild mit niedrigen Leasingraten für Menschen mit geringem Einkommen. Ganz entscheidend ist ein günstiger Strompreis für E-Autos und Ladeinfrastruktur. Unser Vorschlag lautet: gedeckelter Strompreis für öffentliche Ladesäulen durch Reduzierung von Netzentgelten. Notwendig ist auch der gezielte Ausbau mit Ladesäulen. Wir werden die Regierungsverantwortlichen in Deutschland und Europa sehr genau in die Pflicht nehmen. Denn die Rückstände auf die hochgradig subventionierte und industriepolitisch ziemlich gut aufgestellte E-Mobilität in China sind enorm.
Alle sind verunsichert, Konsumenten und Produzenten gleichermaßen. Das ist brandgefährlich.“
Volkswagen hat sich sehr abhängig von China gemacht, war seit den 1980er Jahren Marktführer. Jetzt ist es BYD. Was ist der richtige Umgang mit China?
Angesichts der starken gegenseitigen Abhängigkeiten spricht sich die IG Metall nicht für „Anti-China“-Zölle aus, sondern für ein CO2-orientiertes Handels- und Förderregime, das die Entwicklung regional-lokaler Wertschöpfungsketten voranbringt. Es sollte für deutsche, europäische, US-amerikanische und asiatische Hersteller gleichermaßen gelten. Ziel der Maßnahmen sollte nicht die Abschottung gegenüber chinesischen Herstellern sein, sondern die Schaffung eines fairen Wettbewerbs und die Stärkung des deutschen und des europäischen Wertschöpfungsanteils an allen hier verkauften Fahrzeugen.
Sie sind für die gesamte Metall- und Elektrobranche in zwei Bundesländern zuständig. Wie zufrieden sind Sie mit der Industriepolitik der scheidenden Ampelkoalition gewesen?
Die Ampelkoalition ist in puncto Industriepolitik auf halber Strecke im wahrsten Sinne stehen geblieben. Für den Bruch der Koalition war der restriktive und ideologisch geprägte Umgang der FDP mit der Schuldenbremse letztlich entscheidend. Und die steht der Umsetzung einer dringend erforderlichen ausgewogenen Industriepolitik im Wege. Der sich vor unseren Augen vollziehende Paradigmenwechsel in der Automobilindustrie ist so einschneidend, dass der Markt als alleiniges Steuerungsinstrument nicht ausreicht. Der Markt kann zwar vieles, ist aber ungeeignet für langfristige Richtungsentscheidungen. Es ist doch völlig klar, dass die erforderlichen Investitionen in neue Technologien und Infrastruktur, von der Batterie bis zum Wasserstoffnetz, für den einzelnen Marktakteur keine kurzfristige Rendite verspricht. All das ist nur mit gemeinsamer politischer Anstrengung zu bewerkstelligen. Dafür braucht es ein kluges, strukturpolitisches und, ja, tatsächlich industriepolitisches Vorgehen. Dem chinesischen Staatskapitalismus auf der einen Seite, der Ansiedlungspolitik mit „America first“-Absichten in den USA auf der anderen Seite müssen und können wir etwas entgegensetzen. Dazu bedarf es aber klarer industrie- und finanzpolitischer Entscheidungen. Da sind Regierung und demokratische Opposition gleichermaßen in der Pflicht. Die zukünftige Regierung kann sich gerne am Elf-Punkte-Zukunftsplan der IG Metall abarbeiten. Darin machen wir Vorschläge für eine verlässliche Industriepolitik, bestehend aus bezahlbaren Energiepreisen, schnellerer Planung und Genehmigung sowie mehr öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur der Energie- und Mobilitätswende.
Die Zeichen stehen zurzeit auf Protektionismus – in China und den USA. Wie muss aus Ihrer Sicht die Antwort der Europäer lauten?
Wir dürfen uns auf keinen Fall in einen Handelskrieg weder mit China noch mit den USA ziehen lassen. Die deutschen Hersteller verdienen sehr viel Geld auf internationalen Märkten. Eine Abschottung unseres Marktes durch Zölle ergibt keinen Sinn und birgt große Gefahren. Uns müssen klügere Strategien einfallen.
Daniela Cavallo, Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzende bei VW
„Dass es eine Antwort auf die Überkapazitäten geben muss, steht für uns auch außer Frage. Uns ist klar, dass die Werke nicht auf dem aktuellen Niveau der Kapazitäten verbleiben können und dass wir gemeinsam verabreden müssen, wo künftig an den einzelnen Standorten die Linie für die Kapazität verlaufen soll. Es geht darum, dass wir in der Lage sind, auf der einen Seite Überkapazitäten abzubauen, auf der anderen Seite aber dafür zu sorgen, dass alle Beschäftigten in der Stammbelegschaft eine Zukunft haben.“
Aktuelle Informationen zur Auseinandersetzung bei Volkswagen unter: igmetall-nieder-sachsen-anhalt.de