Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Die Schere im Kopf
In vielen Ländern Europas wurden sozialdemokratische Regierungen abgewählt, in Deutschland droht Gerhard Schöder das gleiche Schicksal. Die SPD war nicht zu modern, sondern zu traditionalistisch. Sie tat das Richtige, jedoch zu spät und nicht genug.
Von Wolfgang Merkel
Der Autor ist Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor für politische Wissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin.
wolfgang.merkel@wz-berlin.de
Noch im Jahr 1999 führten in zwölf EU-Mitgliedstaaten Sozialdemokraten die Regierung oder waren prominent in Koalitionen vertreten. Sie dominierten den Europäischen Rat und das Europäische Parlament. Wahlerfolge schienen die prophetische Schau Ralf Dahrendorfs, der bereits vor einem Vierteljahrhundert das Ende der Sozialdemokratie voraussagte, zu dementieren. Inzwischen regieren in vielen Ländern wieder die Konservativen. Sie wurden nicht triumphal ins Amt gewählt - vielmehr wurden die amtierenden sozialdemokratischen Kabinette abgewählt.
Sieht man einmal von Belgien ab, wo sich die Sozialdemokraten seit 1999 als Juniorpartner in der Regierung befinden, regieren von Europas Sozialdemokraten im Jahre 2005 nur noch New Labour in Großbritannien, die Arbeiterpartei SAP in Schweden und die SPD in Deutschland. Hier zeichnet sich nun ein Wechsel ab. Gedemütigt von einer Serie beispielloser Niederlagen bei Landtagswahlen und enerviert von traditionalistisch-reformfeindlicher Kritik aus den eigenen Reihen inszenierte Bundeskanzler Gerhard Schröder den vorzeitigen Abschied von der Macht und verlangte nach Neuwahlen.
Mehr Arbeitslose, weniger Gerechtigkeit
Dass ab September die rot-grüne Koalition die politischen Geschicke des Landes nicht mehr bestimmt, bedarf keiner riskanten Spekulation. Was ist los mit Europas Sozialdemokraten? Haben sie die Gunst der Stunde am Ende des 20. Jahrhunderts nicht erkannt? Hat sich bewahrheitet, was neoliberale und spätmarxistische Globalisierungsgläubige schon immer gewusst haben - dass die Politik abgedankt hat und die Herrschaft der Märkte unumschränkt ist? Sind die abgewählten Sozialdemokraten allesamt gescheitert? Oder können wir Verlierer und Gewinner unterscheiden, gar aus ihren Erfolgen und Fehlern lernen? Sehen wir uns sechs sozialdemokratisch geführte Regierungen etwas näher an. In Großbritannien regiert seit 1997 die Labour Party, in Schweden seit 1994 eine Minderheitsregierung der SAP. Sozialistisch und sozialdemokratisch dominierte Koalitionen gab es in Frankreich von 1997 bis 2002, in Deutschland seit 1998, in Dänemark von 1994 bis 2001, in den Niederlanden von 1989 bis 2002.
Zieht man nur Beschäftigungs-, Sozial- und Haushaltspolitik in Betracht, ergibt sich eine eindeutige Bilanz: Die beiden skandinavischen Länder waren bei weitem die erfolgreichsten, mit sichtbarem Abstand gefolgt von den Niederlanden und Großbritannien. Danach folgen als eindeutige Verlierer dieses Leistungsvergleichs die rot-grüne Koalition in Deutschland und die sozialistisch geführte Linkskoalition in Frankreich. Dänemark und insbesondere Schweden zeigten in den 90er Jahren einen Weg aus hoher Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit, ohne den Wohlfahrtsstaat "neoliberal" zurückzuschneiden.
Die Reformen der sozialen Sicherungssysteme zielten vor allem darauf ab, die Menschen über verbesserte Schulungsangebote, effiziente Beratung und Vermittlung, verstärkte Pflichten - wie in Dänemark - oder eine angemessene private Beteiligung - wie in Schweden - für den veränderten Arbeitsmarkt fit zu machen. Eine längere Lebensarbeitszeit bis 67 Jahre wird nicht als soziale Ungerechtigkeit, sondern als eine erfolgreiche Integration der älteren Menschen in die Gesellschaft und eine Notwendigkeit zur Sicherung des Wohlstands betrachtet.
Anders als in Skandinavien konnten die sozialdemokratisch geführten Regenbogenkoalitionen in den Niederlanden die beeindruckende beschäftigungspolitische Bilanz und eine erfolgreiche Finanzpolitik nicht mit vergleichbaren Erfolgen in der Sozialpolitik verknüpfen. Anders Großbritannien: New Labour erzielte seit 1997 in allen drei Politikbereichen Fortschritte. Besonders auf dem Arbeitsmarkt und im Haushalt können die drei Regierungen von Tony Blair mit sehr guten Ergebnissen aufwarten. Selbst bei der sozialen Sicherung, der Bildung und in der Armutsbekämpfung sind die Fortschritte gegenüber den 18 Jahren vorhergehender konservativer Politik unübersehbar. Allerdings weist Großbritannien nach wie vor die höchsten Armutsquoten innerhalb der alten EU-15 auf. Dies ist zweifellos ein dunkler Schatten auf der Erfolgsbilanz von New Labour.
Gemessen an diesen Ergebnissen versagten die französische Linksregierung und die deutsche rot-grüne Regierungskoalition in allen drei Politikbereichen. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Die Gesamtverschuldung nahm zu, und die Nettoneuverschuldung verfehlte wiederholt die - freilich unsinnige - Drei-Prozent-Marke des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Das Wachstum wurde nicht stimuliert, und die Arbeitslosigkeit stieg auf hohem Niveau noch weiter an. Aber ohne wirtschaftlichen Erfolg ist jede Sozialpolitik auf Sand gebaut. Auch deshalb nahmen in Deutschland Armut und Einkommensunterschiede zu. Empirische Analysen zur sozialen Gerechtigkeit bestätigen Frankreich und Deutschland innerhalb der OECD-Welt nur noch mittlere Plätze mit sinkender Tendenz.
Drei verschiedene Sozialdemokratien
Diese Ergebnisse kommen nicht von ungefähr. Während die dänischen und die schwedischen Sozialdemokraten als modernisiert, die niederländischen und die britischen Sozialdemokraten als liberal eingeordet werden, muss man die französische PS und die deutsche SPD als traditionalistisch bezeichnen. Was kennzeichnet diese Typen sozialdemokratischer Politik?
Die modernisierte Sozialdemokratie liberalisiert den Sozialstaat und Arbeitsmarkt nicht, sondern modernisiert ihn. Sie setzt auf einen Sozialinvestitionsstaat, der die sozialen Sicherungssysteme reformiert, indem er Arbeitslose aktiviert und in das Humankapital investiert. Er soll die Menschen befähigen, selbstbestimmt ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. Insofern ist der Sozialinvestitionsstaat ein "ermöglichender Staat", wie der britische Soziologe Anthony Giddens dies nennt. Er mutet den Menschen Pflichten in Bildung und Arbeit zu, garantiert aber soziale Sicherheit und wirtschaftliche Wohlfahrt. Die modernisierte Sozialdemokratie ermöglicht damit auch unter den Bedingungen von Globalisierung und Individualisierung ein hohes Maß an gerecht verteilten Lebenschancen.
Die liberale Sozialdemokratie ersetzt zunehmend etatistische Regulierungen durch Marktmechanismen. Sie bindet die Sicherung eines sozialen Mindeststandards an wirtschaftliche Bedürftigkeit. Die Inklusion in den Arbeitsmarkt erfolgt stärker über wirtschaftlichen Druck oder fiskalische Anreize als durch ökonomische Sicherheit und Weiterbildung. Insbesondere New Labour versucht, sich so den geänderten Bedingungen globalisierter Märkte und individualisierter Gesellschaften anzupassen. Dies ist ihr auf dem Arbeitsmarkt und in der wirtschaftlichen Wohlfahrt gelungen. Diejenigen jedoch, die dennoch arbeitslos bleiben, leben - zumindest in Großbritannien - schlechter als in den meisten anderen Sozialstaaten Westeuropas.
Die traditionalistische Sozialdemokratie dagegen hat die traditionellen Regulierungen und Instrumente in der sozialen Sicherung und auf dem Arbeitsmarkt nur wenig verändert. Es ist ein Paradox, wenn nicht Ironie, dass gerade jene Parteien, die am treuesten den gewohnten Wegen vertrauten, die traditionellen Ziele von sozialer Gerechtigkeit, Vollbeschäftigung und Zukunftsfestigkeit am deutlichsten verfehlt haben. Warum ist die rot-grüne Regierungskoalition - ohne ihre Erfolge in der Außenpolitik und im Staatsbürgerschaftsrecht klein reden zu wollen - an der wirtschafts- und sozialpolitischen "Hardware" der Republik gescheitert?
Als der damalige SPD-Vorsitzende und Finanzminister Oskar Lafontaine im Frühsommer 1999 aus der politischen Verantwortung desertierte, beging die Regierung den Fehler, sich von den europäisch-keynesianischen Ambitionen Lafontaines und seines französischen Amtskollegen Dominique Strauss-Kahns zu verabschieden. Die Sparpolitik von Hans Eichel war weder sozialdemokratisch noch wachstumstauglich. Der Frühsommer 1999 wäre die Gelegenheit gewesen, die schmerzhaften Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialversicherungssystemen zu beginnen. Knapp formuliert: Lafontaines Finanzpolitik plus die dänische Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt und die skandinavische Aktivierung in der Sozialpolitik - das wäre das Gebot der Stunde gewesen.
Die längst fälligen Hartz-IV-Reformen 20 Monate vor Ende der zweiten Legislatur zu implementieren war ein machtpolitisches Harakiri. Denn die sozialen Kosten fielen sofort an, während der arbeitsmarktpolitische Nutzen vorhersehbar erst der Nachfolgeregierung gut geschrieben werden kann. Es erstaunt, dass gerade ein so machtbewusster Kanzler wie Gerhard Schröder einen Grundsatz der Lehren Niccolo Machiavellis fahrlässig missachtet hat: die Grausamkeiten jeder Regierung gleich am Anfang zu begehen.
Der Regierung fehlte zudem eine nachvollziehbare Strategie in der Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Dem Keynesianer Lafontaine folgte ein zögerlicher Finanzminister Eichel, der Sparpolitik zur ersten sozialdemokratischen Tugend erklärte, um am Ende seiner Amtszeit wieder stärker ausgabenorientiert zu agieren und zu formulieren. Die Steuersenkungen, die für die unteren Einkommensgruppen zu gering und für die höheren Einkommen zu hoch ausfielen, stärkten weder den Konsum, noch führten sie zu höheren Investitionen. Mit diesen Ergebnissen muss die Steuerreform als sozial ungerecht, makroökonomisch irrelevant und haushaltspolitisch schädlich beurteilt werden.
In der Sozialpolitik wurden die wenigen Reförmchen aus den bleiernen Jahren der Kohl-Ära zurückgenommen und als soziale Grausamkeiten verteufelt, um sie später - und richtigerweise - verschärft unter dem Rubrum "Agenda 2010" neu aufzulegen. Der größte Fehler war es, an den konservativen Sozialversicherungssystemen festzuhalten, die auf dem Normalarbeitsverhältnis aufbauen, Frauen diskriminieren und den Arbeitsmarkt belasten. Die Debatte, die Lohnnebenkosten um 0,2 oder 0,3 Prozentpunkte zu senken, war geradezu gespenstisch.
Um wirkliche Effekte auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen, müssten die Lohnnebenkosten um mehrere Prozentpunkte gesenkt werden. Dies ist aber nur möglich, wenn die sozialen Sicherungsleistungen privatisiert (das "neoliberale" Modell) oder über Steuern (die sozialdemokratische Variante) finanziert werden. Die Mehrwertsteuer und die Erhöhung der Beschäftigungsquote bei Frauen und Älteren bieten dafür ein erhebliches Reservoir. Nicht die CDU, sondern Skandinavien lässt hier grüßen.
Die Arbeitsmarkt-, Steuer-, Bildungs- und Sozialpolitik waren zu wenig aufeinander abgestimmt. Eine Gesamterzählung, die eine rationale, aber auch mitreißende strategische Vision an Partei und Bürger vermittelt hätte, fehlte. Zwar hat die Bildungspolitik gerade in Deutschland Frauen gleiche Chancen verschafft - Mädchen und Frauen schließen ihre schulische und universitäre Bildung mittlerweile mit besseren Resultaten ab als ihre männlichen Mitschüler -, doch gleichzeitig werden mit der Haushalts- anstelle der Individualbesteuerung, sozial- und arbeitsmarktpolitische Sperren gegen Teilzeitbeschäftigung sowie eine groteske Unterversorgung mit Kindertagesstätten und Ganztagsschulen Anreize gesetzt, Frauen nicht in den Arbeitsmarkt zu ziehen. Die niedrige Beschäftigungsquote der Frauen mit ihren erheblichen volkswirtschaftlichen Kosten ist hausgemacht.
Misst man die wirtschafts- und sozialpolitischen Ergebnisse mit sozialdemokratischer Elle, dann ist die rot-grüne Regierung gescheitert. Das ist richtig. Richtig ist allerdings auch, dass sie von allen sechs Regierungen die schwierigsten Bedingungen hatte. Die vollkommene Reformenthaltsamkeit in der Ära Kohl wog schwer und stellt ein fast einmaliges reformpolitisches Versagen in der OECD-Welt der 80er und 90er Jahre dar. Das politische System der Bundesrepublik weist zudem die meisten institutionellen Vetospieler im Prozess der Politikformulierung auf.
Dies gilt insbesondere für den von der Opposition parteipolitisch instrumentalisierten Bundesrat. Der eigentliche Vetospieler sitzt jedoch im rot-grünen Regierungslager selbst: die Traditionalisten, die glauben, die Welt des globalisierten 21. Jahrhunderts mit den Instrumenten und nationalen Regulierungsformen aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts lenken zu können. Sie waren die Schere im Kopf, die zu ernst genommene Zensur, die den Bundeskanzler an einer frühzeitig und konsequent umgesetzten Modernisierungspolitik hinderten.
Zum Weiterlesen
Wolfgang Merkel/Christoph Egle/Christian Henkes/Tobias Ostheim/Alexander Petring: Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005