Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Die Nagelprobe steht noch aus
BESCHÄFTIGUNGSSICHERUNG Kurzarbeit ist das probate Mittel gegen Entlassungen. Aber hält die "Jobgarantie" auch dann noch, wenn die Renditen gefährdet sind?
Von STEFAN SCHEYTT, Journalist in Rottenburg, Baden-Württemberg
Jobgarantie - das Wort war in der Welt, kaum dass beim "Konjunkturgipfel" kurz vor Weihnachten im Kanzleramt der Gedanke ins Spiel gebracht worden war, die 30 größten Dax-Unternehmen könnten in der immer stärker aufziehenden Krise versuchen, möglichst keine Mitarbeiter zu entlassen. Natürlich wussten alle Teilnehmer - darunter Unternehmer, Gewerkschafter, Banker und Wissenschaftler - dass es eine "Jobgarantie" nur sehr bedingt gibt, in der Krise noch viel weniger als in Boomzeiten. Mancher dürfte sich dennoch still darüber gefreut haben, wie der Begriff dann durch die Medien rauschte: 2009 ist ein Superwahljahr, in dem Politiker mehr denn je versucht sind, sich als Sicherheitsgaranten in stürmischen Zeiten zu zeigen.
In der Realität indes muss die Rede von der "Jobgarantie" für viele wie Hohn klingen. Zum Beispiel in der Region um die badische Stadt Gaggenau, wo von 25 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Organisationsbereich der IG Metall gut 18 000 im Fahrzeugbau arbeiten. Roman Zitzelsberger, der Erste Bevollmächtigte der Verwaltungsstelle Gaggenau, spricht von einer "Monostruktur rund um die Automobilbranche", weshalb "bei uns die Krise früher und härter zuschlägt als in den meisten anderen Regionen Deutschlands". Während die Stammbelegschaften in den Daimler-Werken in Gaggenau und Rastatt sowie bei deren Zulieferern noch gesichert scheinen, haben seit Oktober 2008 bereits rund 1000 Leiharbeiter und Mitarbeiter mit befristeten Verträgen ihren Job verloren, darunter fast 400 IG-Metall-Mitglieder. "Die Dimension und Geschwindigkeit dieses Stellenabbaus hat selbst uns überrascht", gesteht Zitzelsberger und fügt an: "Hätte ein Betrieb aus unserer Region angekündigt, 1000 Leute zu entlassen, es hätte einen Auflauf von Politikern gegeben, es wäre an sämtlichen Strippen gezogen worden. Aber hier ging es ja nur um 1000 prekär Beschäftigte. Deshalb passierte so gut wie nichts. Und das ist inakzeptabel."
EINSATZ FÜR ENTLASSENE KOLLEGEN_ Die Verwaltungsstelle hat deshalb eine in Deutschland einmalige Initiative für die frisch Gekündigten gestartet: Unter dem Titel "Mehr Chancen im Berufsleben - Einsatz für alle" erfahren die arbeitslosen IG-Metaller umfangreiche Unterstützung. "Wir können zwar keine neuen Jobs schaffen, aber wir können den Kollegen anbieten, uns ganz individuell um sie zu kümmern", erläutert Zitzelsberger. Dazu gehört, dass die ehemaligen Leiharbeiter in Fragen des Sozial- und Arbeitsrechts beraten werden, dass sie Hilfe bei der Beschaffung und Prüfung ihrer Arbeitszeugnisse bekommen sowie beim Dialog mit der Arbeitsagentur. Mehr noch: Mit Hilfe von Spezialisten einer Transfergesellschaft erarbeiten die Entlassenen weitere Qualifizierungsschritte und bereiten sich auf Bewerbungsgespräche und auf die immer häufiger geforderten Online-Bewerbungen vor. "Und selbstverständlich nutzen wir unser Netzwerk, um den Kollegen einen Zugang zu anderen Betrieben und Branchen zu organisieren", verspricht Zitzelsberger. Und dennoch ist das Angebot nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts von bis 250 000 entlassenen Leiharbeitern - von insgesamt 750 000 - mit denen Hartmut Seifert, Arbeitsmarktexperte der Hans-Böckler-Stiftung, im schlimmsten Fall rechnet.
Noch müssen sich die Stammbelegschaften derlei Sorgen nicht machen, noch sind sie relativ gut geschützt durch mehrere Puffer. Vor allem größere Firmen haben die Möglichkeit, die Beschäftigung dem zum Teil dramatischen Auftragseinbruch anzupassen. "Nach der letzten größeren Krise in der Metall- und Elektroindustrie 1993/94 wurde durch die Tarifvertragsparteien eine ganze Reihe brauchbarer Instrumente entwickelt, um Beschäftigung über die Krise hinweg zu erhalten", sagt Jörg Hofmann, Bezirksleiter der IG Metall im Autoland Baden-Württemberg. "Die Arbeitgeber haben damals gemerkt, dass es sich bitterlich rächen kann, Fachkräfte rauszuwerfen, deren Wissen dem Betrieb dann fehlt, wenn es wieder aufwärtsgeht."
KÜNDIGUNGSSCHUTZ HIER, STELLENABBAU DORT_ Der Instrumentenkasten wider die Krise hält viele Optionen bereit: Einstellungsstopp und Altersteilzeit, das Aufzehren von Arbeitszeitkonten und alten Urlaubsansprüchen, den Abbau von Überstunden und den Aufbau von Minusstunden, die Auflösung von 40-Stunden-Verträgen und das Zurückfahren von Sonder- und Wochenendschichten; nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Bundesagentur für Arbeit entsprachen allein die angesammelten Zeitguthaben der Jahresarbeitsleistung von 150 000 Vollzeitkräften. Zudem bieten gerade im Bereich der Metall- und Elektroindustrie mehr als 1300 betriebliche Vereinbarungen auf der Grundlage des "Pforzheimer Abkommens" die Möglichkeit, durch ein Absenken der Arbeitszeit - mit den entsprechenden negativen Folgen für Entgelt und Sozialversicherung - betriebsbedingte Kündigungen für bestimmte Laufzeiten auszuschließen. "Alle diese Instrumente erlauben es, die Produktion um circa 30 Prozent herunterzufahren", weiß Bezirkschef Jörg Hofmann.
Und die meisten dieser Instrumente kosten die Arbeitgeber wenig oder nichts. Insofern ist der Eindruck, die Unternehmen würden jetzt mitten in der Krise mutig "Jobgarantien" aussprechen, relativ billig erkauft, eine "Mogelpackung", wie manche finden. Denn viele Jobs in den Stammbelegschaften sind durch entsprechende Betriebsvereinbarungen ohnehin längst vor betriebsbedingten Kündigungen geschützt, bei BMW bis 2014, bei Daimler, RWE und E.ON bis 2012, bei VW bis 2011. Was für viele kein Hinderungsgrund war und ist, auch ohne betriebsbedingte Entlassungen tausende Stellen abzubauen.
ZUR NOT AUCH IN DIE VERLUSTZONE?_ Doch diese "Konjunkturpuffer" sind vielfach schon ausgereizt. Um die massiven Auftragseinbrüche länger aufzufangen, ist Kurzarbeit jetzt oft das letzte Mittel gegen Entlassungen. Allein Daimler schickte im Januar gleich mehrere zehntausend Mitarbeiter in die Kurzarbeit. Im Dezember stieg die Zahl der Kurzarbeitsmeldungen auf 300 000, ein Jahr zuvor waren es nur 10 000 gewesen. "Es war absolut richtig und wichtig, die mögliche Dauer der Kurzarbeit von zwölf auf 18 Monate zu verlängern. Das verschafft den Unternehmen Luft, weil dadurch die Kostenbelastung deutlich nach unten geht", sagt Bezirksleiter Jörg Hofmann. Allerdings: Auch wenn die Bundesagentur für Arbeit einen großen Teil der Kosten trägt, umsonst ist Kurzarbeit für Unternehmen nicht. "Ein Mitarbeiter, der auf Kurzarbeit null gesetzt ist, kostet seinen Arbeitgeber 20 bis 30 Prozent", schätzt Jörg Hofmann. So müssen zum Beispiel Betriebe der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg durch eine Flächentarifbestimmung Aufzahlungen auf das Kurzarbeitergeld aus Nürnberg leisten, die Arbeitnehmer erhalten dadurch rund 80 Prozent ihres Brutto- und mehr als 90 Prozent ihres Nettogehalts.
Und das drückt auf die Rendite. "Die Frage ist deshalb, wie lange die Hemmschwelle der Arbeitgeber hält, Mitarbeiter zu entlassen", sagt Jörg Hofmann. Noch hält sie, weil die Instrumente helfen und nicht allzu viel kosten. Aber etwa ab Mitte 2009 beginnt die Zeit der Wahrheit. Hofmann: "Dann zeigt sich, ob Unternehmen aus Verantwortung für ihr Personal bereit sind, zur Not auch einen Verlust in Kauf zu nehmen." Die Nagelprobe steht also noch aus. Und wahrscheinlich wird sie zuerst in Regionen wie der von Roman Zitzelsberger geführt werden. "Wenn einem kleineren Automobilzulieferer mit einer Gewinnmarge von zwei oder drei Prozent innerhalb weniger Monate fast die Hälfte des Umsatzes wegbricht, kann der in existenzielle Liquiditätsprobleme kommen. Und bevor er in die Insolvenz geht, wird er wohl auch eine Vereinbarung zur Beschäftigungssicherung brechen."
WEITERBILDUNG UNTER ZEITDRUCK_ Noch ist aber ein paar Monate Zeit, jedenfalls bei vielen großen und mittleren Unternehmen - Zeit, die jetzt genutzt werden soll durch die Qualifizierung von Arbeitnehmern. So empfiehlt es jedenfalls das Konjunkturprogramm II und lockt die Unternehmen mit einem Angebot: Für Kurzarbeiter, die von betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen profitieren, übernimmt die Bundesagentur für Arbeit (BA) die vollen Beiträge zur Sozialversicherung (bei allen anderen Kurzarbeitern zahlt sie immerhin noch die Hälfte). So naheliegend und überzeugend der Gedanke ist, erzwungene Freizeit sinnvoll zu nutzen, so schwierig ist die Umsetzung. "Während der Hochkonjunkturphase ist auf diesem Gebiet viel zu wenig gemacht worden, noch vor einem halbem Jahr fragten uns doch viele Personalchefs, wo sie qualifizierte Lackierer oder Schweißer finden", sagt Roman Zitzelsberger. Keine Frage, in den vergangenen Jahren hatte Weiterbildung keinen hohen Stellenwert; aber zu Recht behauptet Reinhold Weiß, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), die BA könne "nicht das an Qualifizierung nachholen, was ein Betrieb über Jahre versäumt hat", und kritisiert: "Betriebe sozialisieren damit einen Teil ihrer Weiterbildungsausgaben."
Eine der großen Hürden ist es, zu ermitteln, welchen Weiterbildungsbedarf Mitarbeiter eines bestimmten Unternehmens überhaupt haben und wer diese Weiterbildung leisten kann. Gerade ist Roman Zitzelsberger mit Kollegen für mehrere Tage in Klausur gegangen, um das zu klären. "Wenn Betriebsräte mit solchen Fragen auf die Arbeitgeber zugehen, erleben sie sehr unterschiedliche Reaktionen: Große Unternehmen mit Arbeitsstäben haben teilweise ein fertiges Konzept in der Schublade liegen; bei kleineren Firmen kann es sein, dass der Personalchef bei Adam und Eva anfangen muss." Ohne exakte Bedarfsermittlung sieht Gewerkschafter Zitzelsberger die Gefahr, dass das Angebot über die Qualifizierungsmaßnahmen entscheidet: "Dann tauchen plötzlich wieder komische Weiterbildungsgesellschaften auf, die zwar BA-zertifizierte Kurse anbieten, die aber mit der Realität in den Betrieben nichts zu tun haben." So könnte es passieren, dass in aller Eile wieder Maßnahmen aus dem Boden gestampft werden und Kurzarbeiter "den 17. PC-Kurs oder den 18. Lagerlogistikkurs absolvieren", wie Zitzelsberger ironisch anmerkt. Das wären nicht nur sinnlose Ausgaben aus der BA-Kasse, es würde die Weiterbildung insgesamt weiter diskreditieren. Eine weitere Gefahr sieht Roman Zitzelsberger auch darin, dass Betriebe die Weiterbildung dazu nutzen könnten, das nächste Rationalisierungsprogramm lautlos aufs Gleis zu setzen.
UND WAS WOLLEN DIE MITARBEITER?_ Nicht zuletzt steht die Frage im Raum, wie viele Kurzarbeiter sich überhaupt qualifizieren wollen. Die Aussage des IAB, nur fünf Prozent von ihnen hätten in der Vergangenheit derlei Angebote genutzt, spricht eher dafür, dass die Idee des Konjunkturprogramms ins Leere läuft. Und von den über 55-jährigen Mitarbeitern in deutschen Unternehmen besuchen nur ein Viertel Weiterbildungsmaßnahmen - ein Wert, mit dem Deutschland hinter allen Ländern Nord- und Westeuropas auf dem 16. Platz liegt. "Ja", bestätigt Roman Zitzelsberger den Befund, "mancher Kollege fragt sich schon: Warum soll ich in den Betrieb kommen, wenn ich daheim mein Wohnzimmer tapezieren könnte? Einzelne werden die Chance erkennen, aber das wird wohl nicht die Regel sein." IG-Metall-Bezirkschef Jörg Hofmann gibt zu bedenken: "Menschen, die 20 oder 30 Jahre gearbeitet haben, ohne dass sie in ihrer Qualifizierung groß gefördert wurden, es sei denn, sie mussten in eine neue Maschine eingelernt werden oder die Arbeitsprozesse wurden umgestellt - solche Menschen tun sich natürlich schwer. Man kann den Hebel nicht einfach umlegen. Das kostet viel Mühe und Überzeugung."
Doch genau das wollen nicht nur IG-Metaller wie Roman Zitzelsberger und seine Kollegen in der Autostadt Gaggenau versuchen: "Wir müssen die Kollegen ermuntern und sie mit dem Argument gewinnen, dass sie durch Weiterbildung ihre Aufstiegschancen verbessern und sich damit außerdem unabhängiger machen."
All das braucht Zeit; Zeit, die hoffentlich nicht da sein wird - weil die Krise viel schneller zu Ende geht als erwartet und Qualifizierung für Kurzarbeiter, aus der Not geboren und hektisch umgesetzt, kein Thema mehr ist. Roman Zitzelsberger: "Möglicherweise machen wir uns jetzt viel Mühe, die am Ende umsonst war, weil der Wirtschaftsmotor wieder anspringt. Aber dieses Risiko ist doch viel angenehmer als das Risiko, keine Arbeit mehr zu haben."