Quelle: Jörg Volz
Magazin MitbestimmungPolitik: Die Macht der Vetospieler
Die EU mit 28 Mitgliedern ist schwer regierbar geworden. Die Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin war eine Zäsur. Ob positiv oder negativ, entscheidet sich noch. Von Henning Meyer
Europa hat eine neue Kommissionspräsidentin. Nachdem der Europäische Rat in einer Reihe von Marathonsitzungen in Konklave ging, kam es zu einem überraschenden Ergebnis. Als die Chancen der früheren Spitzenkandidaten Manfred Weber von der CSU und Frans Timmermans von den niederländischen Sozialdemokraten in schwarzem Rauch aufgingen, wurde ein überraschender Name verkündet: Ursula von der Leyen. Wie kam es dazu, dass die deutsche Ex-Verteidigungsministerin, die im Vorfeld nichts mit der Europawahl am Hut hatte, nun der europäischen Exekutive vorsteht? Das Europäische Parlament ist daran nicht ganz unschuldig.
Die direkt gewählte Volksvertretung hat es nach der Wahl versäumt, sich auf einen eigenen Kandidaten zu einigen. Der Europäische Rat hat dieses Vakuum genutzt, um dem Prozess seinen Stempel aufzudrücken und das Parlament zu schwächen. Man kann dies mit einer einfachen Theorie erklären: Der US-Politologe George Tsebelis hat mit seiner Vetospieler-Theorie einen Rahmen entworfen, mit dem man die Steuerungsfähigkeit eines politischen Systems beurteilen kann. Es wird umso schwieriger, Entscheidungen zu treffen, je mehr Akteure politischen Einfluss auf Entscheidungen nehmen – in der Sprache von Tsebelis: je mehr Vetospieler es gibt.
Die Anzahl der EU-Mitgliedstaaten hat sich seit der Osterweiterung auf 28 erhöht. Wenn ein französischer Präsident sich querstellt, wie im Falle von Manfred Weber geschehen, hätte es auch früher keine Einigung gegeben. Aber dass die Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, die Slowakei und die Tschechische Republik in der Lage waren, Frans Timmermans zu verhindern, weil dieser schlicht seinen Job ernst genommen hat, ist so bisher noch nicht vorgekommen.
Zu den 28 Vetospielern auf staatlicher Ebene gesellt sich eine politische Fragmentierung innerhalb der Mitgliedstaaten, die neueren Datums ist. Egal wie viele Mitgliedstaaten die EU hatte, das Europäische Parlament war immer anhand von politischen Gruppen organisiert, die eine inhaltliche Klammer darstellten. Zwar gab es auch innerhalb dieser Gruppen erhebliche Unterschiede zwischen den Staaten. Gleichwohl boten die Fraktionen im Parlament einen potenten Organisationsrahmen. Das Problem der Fragmentierung besteht heute darin, dass es seit dieser Europawahl zum ersten Mal keine eigene Mehrheit mehr für eine Große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten gibt und sich über die Jahre die Anzahl der Fraktionen erhöht hat. Bisher konnten die beiden Blöcke der traditionellen Volksparteien immer eine Mehrheit auf sich vereinen. Diese Zeiten sind vorerst vorbei. Es gibt auch innerhalb der Mitgliedstaaten mehr Vetospieler, die politische Einigungen erschweren oder unmöglich machen. Bei der Wahl der Kommissionspräsidentin haben diverse Vetospieler ihre Muskeln spielen lassen, was die Chancen der Spitzenkandidaten zunichte machte und einen kompletten Neuanfang verlangte.
Was bedeutet das nun für die zukünftige Regierungsfähigkeit der EU? Es gibt zwei denkbare Szenarien. Im negativen Szenario kann die erhöhte Anzahl der effektiven Vetospieler zur faktischen Unregierbarkeit der EU führen. Sie wäre paralysiert und handlungsunfähig. Es gibt aber auch ein positives Szenario, das Ursula von der Leyen anscheinend sehr gut verstanden hat. Wie genau dieses aussieht, kann man am dritten Akt dieses Schauspiels erkennen, der wieder im Europäischen Parlament stattfand. Laut den EU-Verträgen müssen die Abgeordneten den Vorschlag des Europäischen Rates bestätigen. Wie kann man eine Mehrheit in einer Volksvertretung organisieren, in der selbst die Spitzenkandidaten das nicht geschafft haben?
Die Antwort ist, den Außenseiterfaktor zu nutzen. Ursula von der Leyen war mit keinem Wahlversprechen assoziiert und warb mit einer Politikagenda, die so breit war, dass sich Konservative, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale soweit darin wiederfinden konnten, dass eine Mehrheit zustande kam. In ihrer Bewerbungsrede vor der entscheidenden Abstimmung schlug Ursula von der Leyen genau solche Töne an. Dass plötzlich eine ambitionierte Klimapolitik, eine Arbeitslosenrückversicherung und – womöglich um das Parlament für den wahrscheinlichen Verlust der Spitzenkandidaten zu entschädigen – eine Art parlamentarisches Initiativrecht für Gesetze auf der Tagesordnung steht, war vor Kurzem noch nicht denkbar. Im positiven Szenario entwickelt sich eine breite Politikagenda, die so viel Zuspruch hat, dass die EU besser regierbar würde.
Welches Szenario wird nun zum Tragen kommen? Das wird die Politik der neuen Legislaturperiode zeigen. Ursula von der Leyen hat es geschafft, mit einer auf breiten Konsens angelegten Agenda ins Amt gehievt zu werden. Ob das positive Szenario Wirklichkeit wird oder die Kakophonie der Vetospieler die EU doch noch unregierbar macht, wird sich daran entscheiden, ob sie die Kernelemente ihrer Agenda umsetzen kann. Sie ist dabei auf die Hilfe der Mitgliedstaaten angewiesen. Es wird sehr spannend, zu beobachten, welcher Modus Operandi sich durchsetzt. Es steht viel auf dem Spiel.