Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungWertschöpfung: Die Kraft, die alles verändert
Kunden steuern die Maschinen in unseren Fabriken mit, Produkte werden intelligent. Es entstehen cybertechnische Systeme, die man nicht mehr zentral lenken kann. Es ist Zeit für Industrie 4.0. Von Stefan Scheytt.
Drei Studenten waren es, die vor sechs Jahren in Passau das Unternehmen MyMuesli gründeten: Hubertus Bessau, Philipp Kraiss und Max Wittrock. Ihr Beispiel wird oft bemüht, um zu erklären, wie eine neue Technik, konsequent umgesetzt, ein bewährtes, ja geradezu langweiliges Produkt verändert. Auf ihrer Website www.mymuesli.com können Kunden sich am Bildschirm ihre persönliche Müsli-Mischung zusammenstellen. „Custom-mixed cereals“ heißt das Produkt, und selbstverständlich steht auf der Verpackung der vom Kunden gewünschte Name. „Mähdrescher“ zum Beispiel oder „Rentierfutter“.
Der Bestellvorgang beginnt damit, dass man zunächst eine „Müslibasis“ wählt – Bircher de luxe, Chocolate-Dream, Urgetreide oder die Weihnachtsbasis („nur bis zum 24.12.“). Diese Basis wird dann weiter verfeinert (Amaranth, gepufft, Plantago-Samen oder Quinoa-Flocken); sodann wählt der Kunde unter diversen Trockenfrüchten von A wie Ananas über G wie Gojibeeren bis P wie Physalis, schließlich auch noch „Nüsse und Kerne“ (Hanfnüsse, Kokoschips), nicht zu vergessen die „Extras“ wie Sultana-Chocs, kernlose Beeren mit Schoko-Überzug. Die Optionen sind wichtig für alle, denen die Fertigmischungen wie das Schlanker-Leben-Müsli, das mymuesli2go, das Kinder- oder das Love-Crunch-Müsli für Verliebte noch nicht individuell genug sind.
Die Müsli-Macher, die inzwischen 150 Mitarbeiter beschäftigen (viele in Teilzeit) und nach Österreich, England, in die Niederlande und die Schweiz expandiert haben, werben damit, dass ihre Mix-Maschine theoretisch 566 Billiarden verschiedene Müsli-Variationen abfüllen kann. Eine verrückte Zahl, unvorstellbar größer als die Zahl der Menschen, die auf der Welt leben. Es sind solche Zahlen, die die Fantasie von Investoren und Zukunftsforschern anregen, die an die Spielfreude und Detailversessenheit des Kunden appellieren und ihn dazu bringen, ein Produkt per Mausklick zu bestellen, damit die Produktion zu steuern und sich das eigene Produkt nach Hause liefern zu lassen, das man so ähnlich auch im Supermarkt um die Ecke bekommen kann. Niemand braucht das zum Leben, aber es macht vielen Spaß.
VOM CONSUMER ZUM PROSUMER
Das Internet hat die Welt verändert. Es macht möglich, dass drei Studenten, die es vor 20 Jahren im besten Fall zu einer regionalen Müsli-Ladenkette gebracht hätten, innerhalb weniger Jahre Kunden in ganz Deutschland und Europa finden. Vergleichbare Gründergeschichten gibt es tausendfach, und sie erzählen nicht nur von einer dramatischen Vergrößerung der Reichweiten und Geschäftsmodelle.
Es geht auch um eine neue Rollenaufteilung zwischen dem Kunden einerseits und dem Hersteller oder Dienstleister andererseits. Wir buchen Hotels und Reisen selbst, checken am Flughafen eigenhändig ein, schicken unsere Fußabdrücke per E-Mail zu Sandalen- und Sportschuhfirmen und kreieren online unsere Visitenkarten. Der Konsument („Consumer“) übernimmt immer mehr Aufgaben des Produzenten („Producer“) – er wird schleichend zum „Prosumer“. Vielleicht vermarktet er seine eigenen Kreationen am Ende selbst, ist Produzent und Konsument zugleich, der mit anderen zusammen produziert.
INTERNET DER DINGE
Müslimixen und Fußbettpressen nach Kundenwünschen mögen überschaubare Logistik-Leistungen sein. Doch sie zeigen, wie die Digitaltechnik sich über die Produktion ausbreitet wie ein Teppich. Sie ist die Kraft, die alles verändert – den Müsli-Handel wie die Großindustrie. Der Begriff, den Wirtschaft, Politik und Wissenschaft dafür verwenden, ist Industrie 4.0. Nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung erleben wir den Einzug des „Internets der Dinge und Dienste“ in die Fabriken. Henning Kagermann, ehemals Chef der Softwareschmiede SAP und heute Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und bei der Forschungsunion Wirtschaft-Wissenschaft für die Themen „Geschäft im Internet“ und „Industrie 4.0“ zuständig, sieht die produzierenden Unternehmen „auf dem Weg zur vierten industriellen Revolution“. Sie wandeln sich zu cyberphysikalischen Systemen, in denen die vernetzten Maschinen, Lager und IT-Systeme eigenständig Daten austauschen, Aktionen auslösen und sich steuern. Die Welt existiert zugleich immer auch als Datensatz, als ihre eigene Simulation.
Die Vernetzung soll zu einer erhöhten Produktivät der Ressourcen – einschließlich Energie – führen. Neue Dienstleistungen entstehen rund um die produzierenden Kerne. Idealerweise ermöglicht das Modell Industrie 4.0 neue Laufbahnmodelle, die den demografischen Wandel abfedern, weil es ganz verschiedene Tätigkeiten integriert. Eine intelligente, flexibel und einfach handhabbare Arbeitsorganisation könnte dazu beitragen, Arbeit und Privatleben wieder in eine Balance zu bringen. Starrheit wird selbst zum Stressfaktor, wenn sich die Umwelt ständig verändert. Sie ist von gestern. In den neuen Smart Factories sind auch die Produkte „intelligent“. Jedes einzelne ist eindeutig identifizierbar und jederzeit lokalisierbar, es kennt seine Produktionshistorie, seinen aktuellen Bearbeitungsstand und seine noch anstehenden alternativen Produktionspfade. Was wird es für Arbeitnehmer bedeuten, wenn Kunden die Produktion steuern, wenn Ausfälle im System in Echtzeit kompensierbar sind, wenn räumliche Entfernungen kaum noch eine Rolle spielen?
„Die Grundlage des Unternehmens der Zukunft ist ein global vernetzter Informationsraum, in dessen gigantischer Cloud aus Bits und Bytes alle Fäden aus Management, Entwicklung und Produktion zusammenlaufen“, erklärte der Arbeits- und Industriesoziologe Andreas Boes vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) unlängst bei einem Symposium der IG Metall. Wie können sich in einer solchen Welt Arbeitnehmer anders organisieren als global? Werden Kampagnen in sozialen Medien die Macht haben, in Verruf gekommene Subunternehmer per Mausklick auszuschalten?
ALLES WIRD AUF DEN KOPF GESTELLT
Welf Schröter, Mitbegründer des Forums Soziale Technikgestaltung beim DGB in Baden-Württemberg, gehört zu den Menschen, die sich schon sehr früh für die neue Technik interessiert haben. Er betont: „Es geht heute nicht mehr nur um die digitale Integration eines Herstellungsprozesses innerhalb eines Unternehmens, sondern um die Integration aller Zulieferer weltweit. Jeder Betrieb, der sich nicht digital abbilden lässt, fliegt raus.“
Heute ist es in der Regel so, dass der Kunde direkt bei einem Unternehmen kauft. In Zukunft könnte der Kunde Agenten beauftragen – Menschen oder Software –, die seinen Wunsch in eine individuelle Produktionskette übersetzen. Vorstellbar ist, dass der Kunde beim Verkaufsagenten nur „einen Kleinwagen“ mit bestimmten Designmerkmalen zu einem bestimmten Preis ordert und der Agent ihm mal einen VW aus Deutschland liefert, mal einen Renault aus Frankreich, mal einen Toyota aus einem US-Werk.„Das Modell von Industrie 4.0 stellt unser bisheriges Verständnis von industrieller Arbeit auf den Kopf“, meint Schröter, „weil es in der digitalen Wertschöpfungskette keinen zentralen Produktionsort mehr gibt, der das Bewusstsein der Mitarbeiter prägt, sondern viele dezentrale Montageplätze.“ Futuristisch muten Überlegungen an, wonach Minifabriken zu Hause die industrielle Massenproduktion ablösen könnten: Mit 3-D-Druckern, die heute schon Erstaunliches leisten, könnten Konsumenten sich eines nicht mehr fernen Tages ihre eigenen Waren bauen, so wie sie heute am PC Waren bestellen.
VOR DEM KAUF KOMMT DER KONFIGURATOR
Noch niemand kann sagen, ob die standardisierte Massenproduktion sich einmal komplett überleben wird. Sicher ist nur, dass sie an Bedeutung verliert. Längst setzen auch Großunternehmen auf Prinzipien der kundenindividuellen Massenfertigung. Der Automobilhersteller Audi etwa bietet seinen Kunden beim Geländewagen Q3 rund 3,5 Millionen Kombinationsmöglichkeiten für Motorisierung, Exterieur, Interieur, Ausstattung und Zubehör an. Auf der Audi-Website laufen die von Kunden zusammengestellten Neuwagen in Echtzeit von rechts nach links wie Models über den Laufsteg. Online-Konfiguratoren sind beim Autokauf längst Standard. Was Audi erst zum „Digital Brand Champion“ macht – so die aktuelle Auszeichnung durch die „Wirtschaftswoche“ –, ist die Präsenz auf allen digitalen Kanälen von Facebook bis Twitter, von Tumblr bis Pinterest – und deren größtmögliche Integration. Durch diese Querverbindungen – man kann zum Beispiel seine Konfiguration auf das eigene Facebook-Profil hochladen und dort mit Freunden diskutieren – werde Audi „zum digitalen Raum“, so Pressesprecher Moritz Drechsel, in dem der Konzern Kontakte mit Millionen potenziellen und realen Kunden pflegt.
Das Verhältnis zwischen Produzent und Konsument wird zugleich persönlicher (Audi-Mitarbeiter beraten schon heute via Bildtelefonie von Bildschirm zu Bildschirm) und virtueller: Jüngst hat der Konzern in London und Peking sein futuristisches Cyberstore-Konzept der „Audi City“ vorgestellt, das es bald auch in Berlin und anderen Metropolen geben soll. Es ist eine Art digitale Auto-Boutique in gehobener Einkaufslage zwischen Armani und Prada, in der überhaupt kein Auto mehr steht oder nur noch ganz wenige, dafür aber jede Menge Hochleistungsserver. Die braucht es, um das am Tablet-Computer konfigurierte Modell in Originalgröße auf riesige digitale „Powerwalls“ zu beamen und später über YouTube und Facebook an Freunde zu verschicken. Das virtuelle Auto fährt über virtuelle Straßen, man kann durch den Innenraum bis ins Handschuhfach fliegen und per Fingergeste die Türen öffnen, während „Sound-Duschen“ Echtheit simulieren; der Kunde kann seinen Audi sogar „explodieren“ lassen, um sich Details ganz genau anschauen zu können. Wer nicht gleich einen Kaufvertrag abschließen will, kann sein persönliches Auto auf einem USB-Stick in der Hosentasche oder als gedruckte Hochglanzbroschüre nach Hause nehmen.
DIE ONLINE-WELT BRAUCHT DIE OFFLINE-WELT
Während manche befürchten, das „Autohaus für die iPad-Generation“ („FAZ“) könne die Händler in den Gewerbegebieten zu einem Opfer des digitalen Zeitalters machen, betont Audi, das neue, digitale Format sei eine „Brücke“ zu den realen Showrooms in den Autohäusern; die Händler blieben weiterhin wichtig für die persönliche Beziehung zum Kunden. Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte liegen: dass die digitale Verkaufsanbahnung den Verkäufern im Autohaus zwar Arbeit wegnimmt, sie aber nicht völlig überflüssig macht.
Dass sich beide Welten brauchen, ist die Erfahrung vieler Online-Händler. Sagt Max Wittrock, einer der Passauer Müsli-Mixer: „Zu Beginn dachten wir, die internationale Expansion wäre eine einfache Sache: mit der Website online gehen und dann in neue Märkte durchstarten. Doch unsere Erfahrung hat uns eines Besseren belehrt. Wir brauchten idealerweise eine Präsenz vor Ort.“ Mymuesli hat deshalb seinem ersten Laden am Passauer Stammsitz acht weitere in München, Regensburg, Stuttgart, Düsseldorf, Augsburg, Köln, Tübingen und Bamberg folgen lassen. Die Strategie lautet: online wachsen, offline entwickeln. Die Arbeitswelt steht vor einer historischen Zäsur. Die Auswirkungen werden nicht nur IT-Spezialisten und Ingenieure betreffen, sondern nahezu alle Arbeitnehmer, wie der Arbeits- und Industriesoziologe Andreas Boes vom IFS meint. Der Umbruch zum völlig neuen Unternehmen biete Chancen, berge aber auch die Gefahr des Rückschritts. So könnten Unternehmen ihren weltweit zugänglichen Informationsraum als Markt für Werkverträge nutzen und je nach Bedarf freiberufliche Cloud-Worker anheuern. „Es muss darum gehen, die Industrialisierung neuen Typs im Interesse der betroffenen Menschen zu gestalten“, sagt Boes. Beteiligung sei jetzt so wichtig wie lange nicht mehr.
KOMMT DIE OPEN-SOURCE-GEWERKSCHAFT?
Welf Schröter vom Forum Soziale Technikgestaltung empfiehlt den Gewerkschaften, sich der Digitalisierung noch stärker zu öffen. „Ich glaube, dass Open-Source-Gewerkschaften und Flashmob-Aktionen in der Industrie 4.0 mehr gebraucht werden als starre Organisationsmodelle. Dahinter steht ein Partizipationsansatz, der große Stärken entwickeln kann.“ Das erschrecke manche, die noch in den Kategorien von Mitgliederbeiträgen und Beschlusslagen dächten; aber wie in den 1970er und 1980er Jahren, als sich viele erfolglos gegen den Einzug der Mikroelektronik in den Betrieben stemmten, könne man die neuen Veränderungen nicht aufhalten.
„Ich quäle manchen Betriebsrat mit der Aussage, dass sich der Betrieb alter Prägung genauso auflösen wird wie das Normalarbeitsverhältnis“, sagt Schröter, der in Beiräten und Enquetekommissionen von Landtagen und Ministerien zu Technologiethemen saß. Für ihn ist das keine Schreckensvision. Er sieht Chancen wie seit Jahrzehnten nicht mehr, Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen. „Die Arbeitgeber stehen unter einem ernormen Modernisierungsdruck: Um global bestehen zu können, müssen sie Massenprodukte billiger, schneller, aber auch personalisierter herstellen. Sie sind dabei, ihre Verfasstheit einzureißen und den Wertschöpfungprozess völlig neu zu organisieren – horizontal und dezentral.“
Kluge Betriebsräte, glaubt Schröter, könnten diese Situation dazu nutzen, endlich zu realisieren, was schon vor Jahrzehnten in gewerkschaftlichen Publikationen eingefordert wurde: bessere Qualifizierung, mehr Autonomie und die Delegation von Verantwortung. Jetzt geht es darum, mitzuwirken und mitzubestimmen beim großen Transformationsprozess. Denn zentral, glaubt er, können die komplexen Systeme nicht mehr beherrscht werden. Das klingt fast zu positiv. Wahrscheinlicher ist, dass Industrie 4.0, wie jede Revolution, Gewinner und Verlierer hervorbringen wird. Und wer zu den Gewinnern gehören will, wird dafür kämpfen müssen. Das wird schwieriger werden, als im Internet sein persönliches Müsli zu bestellen.