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Magazin Mitbestimmung

Altstipendiatin: Die Integratorin

Ausgabe 01+02/2013

Theoretische Auseinandersetzung und berufliche Praxis haben bei der Sozialpädagogin Christine Baur immer ein Ziel: Sie will die Lebenssituation benachteiligter Kinder verbessern. Von Annette Jensen

Eine Doktorarbeit zu schreiben war für Christine Baur alles andere als selbstverständlich – und doch war sie in ihrer Biografie ganz und gar folgerichtig. Schon früh hatte Baur sich für ein gutes Zusammenleben von Migranten und Deutschen engagiert und später als Sozialpädagogin 19 Jahre lang an einer Kreuzberger Schule gearbeitet, Kinder in Notlagen begleitet und Netzwerke im Stadtteil aufgebaut. „Ich habe sehr viele Kräfte mobilisiert. Vieles war vergeblich; ich wollte verstehen, warum“, sagt die 52-Jährige mit dem glatten, blonden Haaren ganz sachlich. Drei Jahre lang hat sie als Promotionsstipendiatin geforscht; seit einem Jahr ist sie nun Dr. phil. Christine Baur stammt aus „kleinen Verhältnissen“. Ihre Mutter arbeitete ihr ganzes Berufsleben Akkord als Textilnäherin in einer süddeutschen Fabrik, ihr Vater schuftete auf dem Bau. Obwohl es finanziell knapp war, hatte die Ausbildung der beiden Töchter hohe Priorität. Zugleich erlebte Baur bei einer guten Freundin die Folgen von Gewalt in der Familie. Das alles führte zu dem Entschluss: „Ich wollte mich dafür einsetzen, die Lebenssituation von benachteiligten Kindern zu verbessern.“

Nach dem Abitur floh Christine Baur aus der dörflichen Enge auf der Schwäbischen Alb, landete in Berlin und begann zu studieren. Viele Nachbarn ihrer Kreuzberger Wohngemeinschaft waren Türken, und so lernte Baur Türkisch und baute zusammen mit Freunden und Leuten aus der Umgebung einen Nachbarschaftsladen auf. „Elele“ nannten sie den – „Hand in Hand“. Sie organisierten Hausaufgabenhilfe und Nähkurse, Elterncafés, und jeden Sonntagmorgen brachte Baur türkischen und griechischen Schichtarbeitern Deutsch bei. Ausbildung, Privates und Berufliches verwoben sich untrennbar miteinander.

Baur machte Examen, wurde Jugendberaterin im Bezirksamt Wilmersdorf und unterstützte Jugendliche, die Gewalt und Missbrauch erlebt hatten. Es gab dort auch kriminelle Banden – und ein Foto belegt, wie Baur damit umging: Sie besuchte die jungen Männer an ihrem Treffpunkt im Park, setzte sich mit ihnen auf den Rasen und diskutierte. Wenig später bekam sie die Stelle an einer Kreuzberger Schule. „Haben Sie sich das auch wirklich gut überlegt?“, wollte der Schulrat wissen. Für Baur war das keine Frage: „Das war es – genau das wollte ich.“ Allerdings musste sie bald erfahren, dass viele Lehrer über die Methoden der jungen Kollegin nicht allzu erbaut waren. Zugleich erlebte sie auch rohe Gewalt bei den Jugendlichen. Mitschüler prügelten einen Jungen halb tot, und zwei Tage nach dem Mord an Hatun Sürücü stand die Polizei in Christine Baurs Büro: Die Brüder, die die angehende Elektroinstallateurin umgebracht hatten, waren hier früher zur Schule gegangen; die Schwester hatte auch schon Baurs Rat gesucht, weil sie sich aus der familiären Enge befreien wollte. In dieser Situation entschied Baur sich wieder für das direkte Gespräch – und fühlte sich nach dem Besuch bei der Familie zutiefst unwohl. „Es war gruselig. Die taten alle so, als hätten sie nichts damit zu tun.“

Auch die Bilanz ihrer Bemühungen, den Schulabgängern durch Praktika und intensives Bewerbungstraining Perspektiven zu eröffnen, fiel sehr mager aus: Von 19 Schülern, die 2007 die Schule verließen und deren Werdegang Baur verfolgte, befand sich ein einziger drei Jahre später in einer Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt; der Rest drehte Schleifen in irgendwelchen Berufsvorbereitungskursen oder saß zu Hause.

Um die Gründe zu verstehen, entschloss sich Christine Baur zu einer Promotion – und gewann den (dann Ende 2011 verstorbenen) Stadtsoziologen Hartmut Häußermann als Doktorvater. Ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung sicherte in dieser Zeit ihren Lebensunterhalt und den ihres Sohnes. Und was hat sie herausgefunden? Die Stärke ihrer Arbeit liegt darin aufzuzeigen, wer und was alles dazu beiträgt, dass Schüler mit Migrationshintergrund bildungsbenachteiligt sind. Beispiel Fehlzeiten: Viele Eltern schicken die Kinder unregelmäßig zum Unterricht – und einige Lehrer sind froh, wenn die Störer nicht auftauchen. Auch im Stadtteil reagiert kaum jemand, wenn Jugendliche morgens irgendwo herumhängen. Wer der Benachteiligung entgegenwirken will, muss vor allem der sozialen und kulturellen Entmischung von Schulen entgegenwirken, so Baurs Fazit. Ein Vorbild könnte das sogenannte „busing“ in den USA sein, wo die auf kostenlose Schulspeisung angewiesenen Kinder nicht an einzelnen Schulen konzentriert werden. Zugleich haben alle Eltern die Garantie, dass keine Schule mehr als zehn Prozent vom sozialen Durchschnitt abweicht. „Man muss über das Quartier hinausdenken“, fordert Baur auch für Deutschland.

Zur Zeit ist sie Referentin für Ganztagsschulen in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Ihre Dissertation heißt „Schule, Stadtteil, Bildungschancen – wie ethnische und soziale Segregation Schüler/innen mit Migrationshintergrund benachteiligt“ und ist jetzt erschienen. 

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