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Magazin MitbestimmungZitternde Riesen: Die große Transformation
Nach dem „Autogipfel“ bei der Kanzlerin und vor der Zulieferer-Konferenz von Hans-Böckler-Stiftung und IG Metall: Die deutsche Schlüsselbranche in der dreifachen Krise
Die deutschen Autobauer seien „zitternde Riesen“, schrieb unlängst das Nachrichtenmagazin der Spiegel, während das Handelsblatt deren Zulieferer im Strudel von gleich drei Krisen sah, die ihr Geschäftsmodell bedrohten: Nachfragerückgang, Transformation zur E-Mobilität, Corona-Krise. Man könnte auch von einem „perfect storm“ sprechen.
Anruf bei Karoline Kleinschmidt, Erste Bevollmächtigte der IG Metall-Geschäftsstelle in Hameln, in deren Beritt mindestens sechs Autozulieferer gegen diesen „perfect storm“ ankämpfen. Anfang Juli, berichtet Kleinschmidt, wurde der Betriebsrat der Gießerei KSM Castings in Hildesheim eiskalt erwischt von der Mitteilung der Geschäftsleitung, man habe soeben Insolvenz nach dem Schutzschirmverfahren beantragt. Und weil weder die Arbeitnehmervertreter noch die IG Metall im Gläubigerausschuss vorgesehen sind, legten beide nur Stunden später Widerspruch beim Amtsgericht ein. Der Streit darüber ist nur einer von vielen Schauplätzen um Arbeitsplätze bei Zulieferern in der Region. Worst case im Fall KSM: Etwa 400 von 1.800 Mitarbeitern an vier Standorten in Deutschland könnten ihren Job verlieren, darunter knapp 280 in Hildesheim. Das Unternehmen, das chinesischen Eigentümern gehört, habe zwar schon vor Corona geschwächelt, so Karoline Kleinschmidt. Aber die Auftragsbücher seien zu voll für eine Insolvenz. Kleinschmidt argwöhnt, dass Corona benutzt werden könnte, um Personalkosten zu drücken.
Gnadenloser Kostendruck
Schockierende Nachrichten auch vom Zulieferer SEG Automotive, ebenfalls in Hildesheim, den der Branchenkrösus Bosch erst vor zwei Jahren an einen chinesischen Industriekonzern verkaufte. Auch hier kam die Ankündigung zur fast völligen Betriebsschließung für die Betriebsräte „absolut überraschend“, wie Karoline Kleinschmidt berichtet. Von fast 600 Mitarbeitern am Standort sollen nur ein gutes Dutzend übrig bleiben. „Eine Briefkastenadresse?“, fragt Kleinschmidt. Zwar haben rund 500 Beschäftigte ein Rückkehrrecht zu Bosch, doch es sei völlig unklar, wie viele dafür in andere Städte wechseln müssten. IG Metall und Betriebsrat haben nun ein Alternativkonzept vorgestellt, das wenigstens die Hälfte der bedrohten Arbeitsplätze sichern könnte. Der Kostendruck im Geschäft mit den Startern für Pkw und Lkw sei gnadenlos, sagt Kleinschmidt, die Preise der Konkurrenz aus Indonesien oder Ungarn seien ein ständiger Vorhalt gegenüber der deutschen Belegschaft gewesen.
„Kein Produkt ist mehr sicher vor der Verlagerung in Standorte mit geringeren Kosten“, bestätigt Christian Brunkhorst, Experte für die Zulieferer beim IG Metall Vorstand. „Mit Corona rollt die Kostensenkungswelle bei den Herstellern noch stärker als bisher, dort steht jetzt alles auf dem Prüfstand.“ So kündigte etwa Bosch an, Teile der Produktion im badischen Bühl, aber auch Entwicklungskapazitäten, nach Serbien zu verlagern. Verschärfend komme hinzu, meint Brunkhorst, dass die Autohersteller im Zuge der Transformation zur E-Mobilität manche Aufträge an ihre Zulieferer zurückholen, um so die eigenen Überkapazitäten abzubauen und die Lieferketten sicherer zu machen, die durch Corona teilweise unterbrochen wurden (siehe dazu den aktuellen Report der Hans-Böckler-Stiftung „Die neue Komplexität von Wertschöpfung“). „Mit dem schwindenden Anteil der klassischen Antriebe sinkt tendenziell auch das Auftragsvolumen in die Zuliefererkette, der Rückgang der Arbeitsplätze wird dort höher ausfallen als bei den Herstellern“, weiß Brunkhorst, der in den Aufsichtsräten von Bosch und Ford sitzt. „Damit dürfte auch eine Umverteilung einhergehen zulasten der mittleren und kleinen Zulieferer.“ Denn anders als die Großen – allen voran Bosch, Conti und ZF Friedrichshafen – haben die kleineren Zulieferer in der Krise oft keine Mittel mehr, ihre Spielräume durch neue Produkte für die aufkommende E-Mobilität zu erweitern. Spezialisiert auf Komponenten für den Verbrennungsmotor, sitzen sie in der Falle – wie Halberg Guss in Saarbrücken, eine der letzten drei großen Motorblockgießereien, die Ende 2019 Insolvenz anmelden musste und im Juni 2020 endgültig schloss.
Stunden, nicht Beschäftigte abbauen
Aber auch die großen Zulieferer sind massiv unter Druck, den sie an ihre Belegschaften weitergeben. So will Conti sein bestehendes Sparprogramm verschärfen und dabei 13.000 Stellen hierzulande abbauen. Ähnliche Größenordnungen auch bei ZF Friedrichshafen, der Nummer drei unter den deutschen Zulieferern: Das Unternehmen kündigte an, bis 2025 etwa 15.000 Stellen abbauen zu wollen (von weltweit fast 150.000), davon die Hälfte in Deutschland. Bei ZF ist die Lage allerdings sehr ambivalent, wie GBR-Vorsitzender Achim Dietrich berichtet. Nicht nur, weil zum 1. Juli diesen Jahres – mitten in der Krise – ein Tarifvertrag mit dem Titel „Transformation“ geschlossen wurde, der in einer ersten Phase bis Ende 2022 – „Rettungsgasse genannt – weder betriebsbedingte Kündigungen noch Standortschließungen zulässt und außerdem regelt, dass bis dahin auch alle Auszubildenden übernommen werden.
Bemerkenswert ist vor allem, dass in den großen Standorten schon wieder Überstunden und volle Schichten gefahren werden. „Alle glaubten, dass wir in einer der schwersten Krisen überhaupt sind, die lange anhalten wird“, sagt Achim Dietrich. Doch momentan laufen die Geschäfte in einigen Bereichen besser als erwartet. Der Umsatzeinbruch im April und Mai sei zwar nicht mehr wettzumachen, aber die aktuellen Zahlen widersprächen einem lang anhaltenden Krisenszenario. „Das kann sich keiner wirklich erklären“, gesteht Dietrich. „Die entscheidende, aber offene Frage ist: War es das schon? Was passiert nächstes Jahr? Kommen neue Aufträge in die Bücher?“ Dietrich wirbt dafür, trotz der aktuellen wirtschaftlichen Situation wieder mutiger in die Zukunft zu schauen und in die weitere Transformation hin zur E-Mobilität, Hybridisierung und zum Autonomen Fahren zu investieren, für die ZF schon viel geleistet habe. Dafür brauchen die Beschäftigten Vorbereitung. „Deshalb müssen Kurzarbeit und Qualifizierung verknüpft werden. Und dort, wo die Arbeit weniger wird, müssen wir Stunden abbauen – und nicht Beschäftigte.“
So unsicher die weitere Entwicklung ist, so notwendig bleibt der Austausch über die besten Antworten auf die Krise. Die dafür erforderliche Datenbasis liefert die Hans-Böckler-Stiftung mit ihrem im Juni 2020 veröffentlichten Branchenmonitor zur Automobilindustrie (Hersteller und Zulieferer), der schon Ende des Jahres außerplanmäßig in einer aktualisierten Fassung vorgelegt werden soll. Zudem veranstaltenHans-Böckler-Stiftung und IG Metall am 20. Oktober eine Online-Konferenz zur Lage der Zulieferer. „Wir nehmen dabei alle relevanten Themen in den Blick von der Resilienz der Wertschöpfungsketten über Transformationsvereinbarungen bis zur Zukunft der Antriebstechnik“, verspricht Oliver Emons vom Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung, der den Branchenmonitor verantwortet und die Konferenz mit der IG Metall koordiniert. Mit-Veranstalter Christian Brunkhorst: „Wir müssen uns vorbereiten auf finanzielle Engpässe in den Betrieben, auf Stellenabbau und Insolvenzen und zeigen, dass wir dabei nicht allein den Vorgaben der Unternehmen unterliegen, sondern weiterhin Einfluss nehmen auf die Geschicke der deutschen Schlüsselbranche.“