Quelle: David Ausserhofer
Magazin Mitbestimmung: Die Filmkritikerin
Grit Lemke leitet das Dokumentarfilmprogramm des Leipziger Filmfestivals. Sie versammelt alljährlich im Oktober die internationale Dokumentarfilmemacher- Szene um sich. Von Fritz Wolf
Ihren Laptop hat Grit Lemke immer dabei. Es kommt vor, dass sie mit ihrem Sohn in die Eishalle fährt, und während er unten kurvt, schiebt sie eine DVD ein – und schaut einen Film. Filme schauen ist Grit Lemkes Beruf. Sie leitet das Dokumentarfilmprogramm beim „Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm“. Sie plant Programmlinien, wählt aus, organisiert, knüpft Netzwerke. Im hellen Sommer hockt sie in dunklen Räumen und sichtet. „Filme schauen, da bin ich glücklich.“ Sie lacht kurz auf. Sie beschließt einen Gedanken gern mit einem kurzen Lachen.
Grit Lemke liebt Dokumentarfilme. Nicht die Dokus im Fernsehen, sondern die künstlerischen Dokumentarfilme im Kino. Was zählt? Beliebig darf ein Film nicht sein, muss Haltung und Anliegen spüren lassen, inhaltlich und ästhetisch: „Ein guter Dokumentarfilm muss wehtun“, sagt sie, „er muss etwas anrühren in Zuschauern.“ Und wenn sie auswählt? „Ich genieße es, etwas beeinflussen zu können, aber es geht mir nicht um Macht. Ich will guten Filmen den Weg bereiten.“
Der Weg geht über das älteste Dokumentarfilmfestival in Deutschland. In der DDR öffnete es vielen ein „Fenster zur Welt“, das Regime nutzte es als liberales Schaufenster. Nach der Wende lag es am Boden, wurde mühsam reanimiert, ist wieder etabliert. Ein Publikumsfestival mit Blick auf den osteuropäischen Film.
Grit Lemke muss viel reisen, Festivals, Jurys, Recherche. Shanghai, Krakau, Lubljana, Toronto. „Ich bin grade dabei, das etwas abzubauen“, sagt sie. Viel zu reisen ist für eine Alleinerziehende mit zwei Söhnen nicht leicht. Aber sie genießt es auch: „Das ist für mich wie nach Hause kommen.“ Die Community der Dokumentarfilmer ist klein, herzlich und nicht ganz so intrigant wie die Branche sonst. Wenn sie unterwegs ist, gehen die beiden Söhne zum Vater, der wohnt um die Ecke. Wenn sie in Berlin ist, läuft das volle Programm. Hier mit den Kindern zum Zahnarzt, da zum Sport. Wir sitzen in einem Café in Berlin-Pankow zum Interview, und es steht ein unangenehmer Termin in der Schule an, Elterngespräch. Ein Sohn hat angeblich was „ausgefressen“. Kurz: Die Tage sind voll und lang. Zum Ausgleich läuft Grit Lemke. Lange Strecke. Halbmarathon hat sie schon, der ganze steht ihr noch bevor. Laufen passt. Das Laufen verlangt ihr Hartnäckigkeit ab, wie die Arbeit und das Privatleben. „Ich bin keinen geradlinigen Weg gegangen“, sagt sie und scheint zufrieden: „Ich habe immer das gemacht, was ich machen wollte.“ In der DDR durfte sie nicht gleich studieren. Es lag nichts Großes an, aber sie fiel als unbotmäßig auf, hatte schlechte Betragensnoten und musste sich erst bewähren. Sie wurde Baufacharbeiterin mit Abitur und weiß: „Es schadet nichts, wenn man mal zwei, drei Jahre lang morgens um sechs an der Werkzeugkiste gestanden hat.“ Sie lacht wieder.
Dann bekam sie den Studienplatz in Leipzig: Kulturwissenschaft, Ethnologie und Germanistik. Sie lernte Dokumentarfilme kennen, die ihr als Alternative zum verlogenen Journalismus erschienen. In der Wendezeit war sie Studentenvertreterin: „Ich war in allen Räten, in denen man sein konnte.“ Sie bekam Kontakt zur Hans-Böckler-Stiftung, die unter den Kommilitonen als gute Adresse galt. Die Stiftung förderte ihre Promotion. Thema: „Wir waren hier, wir waren dort. Zur Kulturgeschichte des modernen Gesellenwanderns“, eine Kultur- und eine Berufsbiografie-Geschichte der Wandergesellen.
Ihren Doktor machte sie an der Humboldt-Uni in Berlin, aber sie wollte nicht in der akademischen Welt bleiben. Die Dissertation schrieb sie fertig, weil sie einmal ein Thema erschöpfend behandeln wollte: „Alles über ein Thema zu wissen, was es gibt, das ist toll.“ Sie schrieb sechs Jahre, denn sie war schon beim Festival engagiert: „Ein halbes Jahr forschen, ein halbes Jahr Festival.“ Die Hans-Böckler-Stiftung hat sie in bester Erinnerung: „Eine sehr gute Betreuung.“ Die Stiftung hat ihr Doppelleben akzeptiert, durchgehalten haben beide.
Hatte ihre wissenschaftliche Arbeit mit dem Dokumentarfilm zu tun? Auf den zweiten Blick schon. Ethnografen, sagt Grit Lemke, lesen die Handlungen von Menschen und suchen herauszufinden, was sie bedeuten. Dokumentarfilmer liefern Bilder, die man ebenso nach ihrer Bedeutung fragen muss: „Ein Bild ist nicht bloß Oberfläche, es ist wie ein Gefäß – man muss gucken, was in dem Bild drinsteckt.“
Grit Lemke liebt Dokumentarfilme. In ihnen, hat sie einmal geschrieben, „kann man die Welt entdecken abseits des verdummenden Medienbreis.“ Und sie hasst es, wenn sie Filme ablehnen muss, wofür es halt auch viele Gründe gibt. Manchmal passt was nicht ins Programm, manchmal ist das Thema gerade inflationär. „Ich freue mich immer, wenn ein abgelehnter Film auf einem anderen Festival doch gezeigt wird“, sagt sie, und man glaubt ihr die Erleichterung. Ausdauer ist auch hier gefragt. Bei Filmpremieren, sagt sie, treffe sie oft auf Filmemacher, deren Filme schon mal abgelehnt wurden. „Die Hälfte der Leute hasst mich, aber damit muss ich leben.“ Und lacht wieder kurz auf.