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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Die Boards sollten unabhängiger werden"

Ausgabe 06/2012

Wenn die EU-Kommission über „gute Unternehmensführung“ nachdenkt, hat sie vor allem das angelsächsische Modell im Blick. Aber wie funktioniert die Aufsicht in einem Board? Fragen an Damon Silvers, Corporate-Governance-Experte und Chefjurist des US-Gewerkschaftsdachverbandes.

Anders als in Deutschland kennt man in den USA keinen Aufsichtsrat. Wie funktioniert die Unternehmenskontrolle?
In den USA sind Boards monistische Gremien, deren Mitglieder ausschließlich von den Anteilseignern gewählt werden – und zwar aus einer Liste von Kandidaten, die von der Unternehmensleitung und den amtierenden Board-Mitgliedern aufgestellt wird. Das Board hat die Aufgabe, die Mitglieder der Unternehmensleitung einzustellen, zu kontrollieren und – wenn nötig – zu entlassen. Abgesehen davon legt das Board die Vergütung der Topmanager fest, überwacht die Erstellung des Jahresabschlusses, ernennt und beaufsichtigt den externen Rechnungsprüfer und trifft wichtige Unternehmensentscheidungen wie die Ausgabe neuer Aktien, größere Akquisitionen und Veräußerungen oder eine Fusion des Unternehmens. Boards greifen in der Regel nicht in das Tagesgeschäft ein und sind auch nicht der verlängerte Arm der Anteilseigner.

Wie kommen im Board die Belange der Belegschaften oder des Allgemeinwohls zur Geltung?
Die gesetzlichen Bestimmungen in den USA verpflichten die Boards, „zum Wohle des Unternehmens und seiner Anteilseigner“ zu handeln und somit den langfristigen Erfolg des Unternehmens und seiner Anteilseigner im Auge zu behalten. Daher ist das Board in erster Linie dem Unternehmen verpflichtet, dessen strategische Ausrichtung und Interessen sich durchaus von den Interessen einzelne Aktionäre unterscheiden können. Die Belange der Beschäftigten oder des Allgemeinwohls finden insofern Berücksichtigung, als Boards die langfristigen Interessen des Unternehmens und seiner Anteilseigner wahren müssen. So kann ein Board zum Beispiel den Beschluss fassen, den Beschäftigten mehr als nur den Mindestlohn zu bezahlen, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein. Die Beschäftigten haben jedoch nicht das Recht, das Board zu verklagen, wenn ihre Interessen nicht entsprechend berücksichtigt wurden. Aktionäre hingegen können in bestimmten Fällen einklagen, in ihrem Interesse zu handeln.

Das ist bei Enron oder Lehman Brothers gründlich schiefgegangen.
In den letzten 20 Jahren ist der Druck auf die Boards gewachsen, ihrer Aufsichtspflicht gegenüber der Unternehmensleitung sorgfältiger nachzukommen. Der Zusammenbruch großer Unternehmen wie Enron oder Lehman Brothers hat bei einer Reihe wichtiger Akteure, darunter institutionelle Investoren und der US-Kongress, zu der Erkenntnis geführt, dass Boards unabhängiger von der Unternehmensleitung werden sollten.

Ein Resultat dieser Kritik war der Ruf nach mehr sogenannten „unabhängigen“ Board-Mitgliedern. Was versteht man in den USA darunter?
Die Börsen haben ihre eigenen Definitionen und die einzelstaatlichen Gerichte ebenfalls. Im Allgemeinen ist ein unabhängiges Board-Mitglied kein Beschäftigter des Unternehmens und auch sonst in keiner Weise vom Unternehmen wirtschaftlich abhängig. Das kann zum Beispiel der extern hinzugezogene Anwalt des Unternehmens sein, der kein Familienmitglied eines Managers oder eines Mehrheitsaktionärs ist und auch keine wirtschaftliche oder andere Beziehung mit einem Mitglied der Unternehmensleitung oder einem Mehrheitsaktionär des Unternehmens hat.

Im Ausschuss für die Managervergütung dürfen nur Unabhängige sitzen. Trotzdem sind die Managergehälter explodiert.
Durch unabhängige Board-Mitglieder soll eine strengere und kritischere Überwachung der Unternehmensleitung erreicht werden. Doch ist das Kriterium der Unabhängigkeit nur bedingt geeignet, um sicherzustellen, dass ein Board nicht doch unter dem Einfluss der Unternehmensleitung steht. Es gab eine Reihe von Boards, die die Kriterien der Unabhängigkeit formal erfüllt haben, bei denen sich aber im Nachhinein herausstellte, dass sie ganz klar von der Unternehmensleitung beeinflusst wurden. Und es gibt andererseits auch Fälle, in denen Board-Mitglieder den formalen Kriterien der Unabhängigkeit nicht entsprochen haben, als Person aber bekannt für ihre absolut unabhängigen Entscheidungen waren.

Was verändert nun der Dodd-Frank-Act?
Bei der Berufung von Mitgliedern in das Board US-amerikanischer Aktiengesellschaften können Aktionäre der Unternehmensleitung gegenüber Empfehlungen aussprechen. Allerdings steht es dem Nominierungsausschuss einer Aktiengesellschaft auch frei, diese Empfehlungen nicht zu berücksichtigen. Der Dodd-Frank-Act stellt jetzt klar, dass die US-Börsenaufsicht, die SEC, Bestimmungen erlassen kann, die Aktiengesellschaften dazu verpflichten, in die Kandidatenliste auch Vorschläge der Aktionäre aufzunehmen. Dem ist die SEC 2010 nachgekommen. Seither sind US-Unternehmen verpflichtet, Kandidaten in die Liste aufzunehmen, die von drei Prozent der Aktionäre unterstützt werden. Große Konzerne haben gegen diese Vorschrift geklagt, und ein Gericht, das sich vor allem aus noch von George Bush ernannten Richtern zusammensetzt, hat diese Bestimmung der US-Börsenaufsicht für ungültig erklärt. Seitdem üben Investoren auf Unternehmen Druck aus, Vorschläge der Aktionäre für die Ernennung von Board-Mitgliedern zuzulassen, indem sie entsprechende Anträge bei der Hauptversammlung einbringen. Bei einigen Unternehmen funktioniert das inzwischen auch. Von Aktionären ernannte Board-Mitglieder sind im US-System das wirkungsvollste Mittel gegen formal unabhängige Board-Mitglieder, die in Wirklichkeit unter dem Einfluss der Unternehmensleitung stehen.

Der Dodd-Frank-Act sieht auch vor, dass die die Hauptversammlung über die Vergütung des Topmanagements abstimmt. Wie in Deutschland ist auch in den USA dieses Votum nicht verbindlich. Wie sehen Sie das?
Der AFL-CIO ist der Ansicht, dass die abschließende Entscheidung über die schwierige Frage der Vergütung des Topmanagements den Boards überlassen sein sollte, die Aktionäre aber ein Mitspracherecht haben sollten. Wir glauben allerdings nicht, dass eine beratende Stimme der Aktionäre einer übermäßigen Vergütung des Topmanagements Einhalt gebieten kann. Die Lösung liegt vielmehr in einem Steuersystem mit progressiv steigenden Steuersätzen, in mehr Einfluss für die Boards und ganz allgemein in einem stärkeren Bewusstsein der amerikanischen Gesellschaft für die wirtschaftliche Ungleichheit.

Ein interessantes Detail ist die Pflicht zur Veröffentlichung des Verhältnisses des durchschnittlichen Jahresgehalts aller Angestellten zum effektiven Jahresgehalt des CEO. Wird das etwas bringen?
Wir gehen davon aus, dass die US-Börsenaufsicht in Kürze Unternehmen dazu verpflichten wird, gemäß dem Dodd-Frank-Act das Verhältnis zwischen der Vergütung des CEO und dem mittleren Einkommen eines Beschäftigten zu veröffentlichen. Unserer Ansicht nach schreibt das Gesetz vor, dass dabei alle Beschäftigten eines Unternehmens weltweit berücksichtigt werden müssen. Die Unternehmen versuchen allerdings, die Berechnung nur auf die Beschäftigten in den USA zu beschränken. Allgemein wird angenommen, dass ein CEO das 300- bis 400-Fache des Einkommens eines durchschnittlichen Beschäftigten verdient.

Hält die Öffentlichkeit das für angemessen?
Die Reaktion auf die Veröffentlichung dieser Zahlen ist schwer vorherzusagen. Es könnte zu einer erneuten Diskussion über die Nachhaltigkeit von Geschäftsmodellen großer Konzerne kommen.

In Diskussionen über Governance in Deutschland werden die USA oft für ihre kurzen Hauptversammlungen gelobt. Erstaunt Sie das?
Das Ergebnis von Hauptversammlungen wird in den USA meistens durch die Ausübung des Stimmrechtes abwesender Aktionäre durch Bevollmächtigte bestimmt. Dennoch dauern viele Hauptversammlungen in den USA relativ lange, da die Unternehmensleitung und das Board bestrebt sind, den anwesenden und den online zugeschalteten Aktionären einen umfassenden Überblick über die Unternehmenserfolge zu geben. Unternehmen wie Coca-Cola oder Wal-Mart nutzen Hauptversammlungen, um ihren Geschäftserfolg im vorangegangenen Jahr in umfangreichen Multimedia-Präsentationen darzustellen – für ein Publikum, das zum großen Teil aus Beschäftigten des Unternehmens besteht.

Welche Chancen haben Minderheitsaktionäre in einem solchen System?
Sie haben meist nur bedingten Einfluss. Dennoch gelingt es kritischen Pensionsfonds, großen Investmentfonds und lautstarken einzelnen Investoren immer wieder, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Entweder tun sich Minderheitsaktionäre zusammen und bilden so eine Mehrheit, oder sie überzeugen das Board und das Management, ihre Anliegen ernst zu nehmen, auch wenn sie nicht von einer Mehrheit unterstützt werden. Da viele große US-Aktiengesellschaften keinen Mehrheitsaktionär haben, sind sie oft bereit, ihnen Gehör zu schenken. Das führt aber auch dazu, dass kurzfristig orientierte Investoren wie zum Beispiel Hedgefonds ihre starke Position auf den Handelsmärkten und in den Unternehmensführungsstrukturen dazu nutzen, Boards und Management von Maßnahmen wie etwa dem Rückkauf von Aktien zu überzeugen, die vorteilhaft für die Hedgefonds sind, nicht aber für langfristig orientierte Investoren, die eher an einer Reinvestition der Gewinne ins Unternehmen interessiert sind.

Der Kapitalmarkt werde Unternehmen mit schlechter Governance schon abstrafen, gute Unternehmensführung brauche keine schärferen Gesetze, argumentierten die einflussreichen privaten Altersvorsorgefonds in den USA, als sie – rund 25 Jahre ist das her – den Begriff Corporate Governance salonfähig machten. Sind Fonds wie Calpers, der Pensionsfonds der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Kalifornien, davon noch immer überzeugt?
Wie in der Frage anklingt, sind die Positionen derjenigen, die auf mehr Kontrolle der Unternehmensführung durch die Investoren setzen, und derjenigen, die dafür lieber gesetzliche Regelungen hätten, schwer auf einen Nenner zu bringen. Seit Enron und Worldcom ist den meisten langfristig orientierten Investoren allerdings klar geworden, dass ihre Möglichkeiten der wirksamen Kontrolle der Unternehmen, in die sie investieren, von durchsetzbaren Regeln für Corporate Governance abhängig sind – also von Gesetzen. Daher hat sich Calpers zum Beispiel vehement für gesetzliche Regelungen wie das erwähnte Recht der Aktionäre ausgesprochen, Vorschläge für die Ernennung von Board-Mitgliedern machen zu können.

Welchen Einfluss haben die über diese Fonds versicherten Arbeitnehmer auf die Anlagepolitik?
Arbeitnehmer und Bezieher von Rentenzahlungen haben unterschiedlichen Einfluss auf das Investitionsverhalten und die Corporate-Governance-Richtlinien ihrer Pensionsfonds. Große Fonds von öffentlich Bediensteten wie zum Beispiel Calpers haben häufig Boards, deren Mitglieder zumindest teilweise von den Beziehern und Anwärtern von Pensionen gewählt werden, die in diesen Fällen ja auch die Shareholder sind. Die Boards gewerkschaftlicher Pensionsfonds bestehen aus Gewerkschaftsvertretern, die entweder gewählt oder von gewählten Gewerkschaftsvertretern ernannt werden. Die geringste Beteiligung der Anspruchsberechtigten gibt es in Fonds von einzelnen Unternehmen. Hier trifft das Management im Prinzip alle Entscheidungen. Doch das US-Arbeitsministerium hat in den 1980er Jahren selbst diesen Fonds vorgeschrieben, dass sie bei Entscheidungen ausschließlich die Interessen der Rentenbezieher und nicht die des Arbeitgebers berücksichtigen müssen.

Reicht das für eine nachhaltige Ausrichtung der Unternehmen?
Die US-Gewerkschaftsbewegung ist überzeugt, dass Kontrolle durch langfristig orientierte Investoren für eine erfolgreiche Unternehmensführung wichtig ist. Eine solche Kontrolle kann jedoch kein Ersatz für die Einbindung der Beschäftigten durch Tarifverhandlungen oder Systeme wie die Mitbestimmung sein. Sie kann auch kein Ersatz sein für eine angemessene gesetzliche Regelung im Interesse der Allgemeinheit. 

Die Fragen stellte Roland Köstler, Unternehmensrechtler in der Hans-Böckler-Stiftung.
Übersetzung: Martina Wieser / Foto: Rappaport Center for Law and Public Service, Boston

Der Dodd-Frank-Act

Mit dem Dodd-Frank-Act – benannt nach den Initiatoren, Senator Christopher Dodd und dem Kongressabgeordneten Barney Frank – hat der US-Gesetzgeber 2010 ein umfangreiches Gesetzeswerk zur Regulierung der Finanzmärkte verabschiedet. Das Gesetz – mit vollem Namen „Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act“ – zieht Kontrollen in die Geschäfte der Wall Street ein und begrenzt besonders riskante Praktiken. Die neu aufgestellte Finanzaufsicht mit einem neu geschaffenen Rat zur Beaufsichtigung der Finanzstabilität (Financial Stability Oversight Council) an der Spitze soll künftig die Ent­stehung von Risiken für die amerikanische Volkswirtschaft verhindern. Zu den Zielen gehört die Verbesserung der Rechenschaftspflicht und der Transparenz im Finanzsystem. Zum Schutz der Steuerzahler soll es „too big to fail“ nicht mehr geben, wonach große Finanzinstitute mit staatlicher Hilfe rechnen können, wenn sie in Schwierigkeiten geraten sind. Anleger und Verbraucher sollen vor unlauteren Geschäftspraktiken von Finanzdienstleistern besser geschützt werden.

Über Änderungen im Kapitalmarktrecht setzt das Gesetz auch an Governance-Strukturen der US-Unternehmen an, die als krisenbegünstigend identifiziert wurden: Die Börsenaufsicht (SEC) wurde mit der Ausarbeitung neuer Regularien zur Wahl des Board of Directors beauftragt. Die Regeln zur Unabhängigkeit der Mitglieder des Vergütungsausschusses des Board wurden verschärft. Aktionäre erhalten das Recht zum – allerdings nicht bindenden – Votum über die Vergütung des Topmanagements. Die Veröffentlichungspflichten dieser Vergütung (in Korrelation zum Durch­schnittsgehalt aller Angestellten) wurden verschärft. Vergütungsver­einbarungen, die eine übergroße Risikobereitschaft befördern, sind verboten. Bei bestimmten Bilanzverstößen müssen die Boni zurückgezahlt werden.

Überwiegend handelt es sich bei dem 2319 Seiten starken Gesetzeswerk – mit dem sich Obama den Zorn der Wall Street zugezogen hat – um die Rechtsgrundlage zum Erlass von Verordnungen, mit deren Hilfe das Gesetz seit 2010 von den US-Regulierungs- und Aufsichtsbehörden umgesetzt wird.

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