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Kemal Özkan, stellvertretender Generalsekretär von IndustriALL global (vorne rechts) besucht eine provisorische Schule im Erdbebengebiet der Türkei. Magazin Mitbestimmung

Solidarität: „Die Bilder wird man nie wieder los“

Ausgabe 02/2023

Kemal Özkan von der Gewerkschaftsföderation IndustriALL global reiste ins türkische Erdbebengebiet. Er sah zerstörte Städte, aber auch große Hilfsbereitschaft. Das Gespräch führte Andreas Molitor

Sie sind Ende Februar in die von der Erdbebenkatastrophe am schlimmsten betroffenen Gebiete im Südosten der Türkei gereist. Wie war Ihr unmittelbarer Eindruck aus Ihren Beobachtungen und den Gesprächen mit den Menschen vor Ort?

Kemal Özkan: In Städten wie Hatay, Adiyaman oder Kahramanmaras sind die Zentren fast komplett zerstört. Dort steht kaum noch ein Haus. Wer das gesehen hat, wird die Bilder nie wieder los. Allein das Wegräumen der Trümmer wird Jahre dauern, bis zum Wiederaufbau werden ganz sicher 15 oder 20 Jahre vergehen. Das wirkliche Ausmaß der Katastrophe wird erst nach und nach ersichtlich. Es ist immer die Rede von 57 000 Todesopfern. Aber es gibt Berichte, dass 300 000 Handys und 150 000 Kreditkarten seit dem Erdbeben nicht mehr genutzt wurden. Was ist mit ihren Besitzern geschehen?

Sie haben auch Industriebetriebe besichtigt, Fabriken und Kraftwerke. Wie viel ist zerstört, was steht noch?

Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass das Erdbeben 150 000 Arbeitsplätze vernichtet hat. Das Ausmaß der Zerstörung in der Industrie ist unterschiedlich, aber generell nicht so gravierend wie bei den Wohnhäusern in den Stadtzentren. Es gibt Schäden an Gebäuden und Maschinen, aber die lassen sich reparieren. Anders sieht es mit vielen der kleinen Betriebe aus, Firmen mit drei oder vier Beschäftigten, die größtenteils in den Stadtzentren beheimatet waren. Diese Betriebe sind mit den Häusern untergegangen.

Wurde denn überhaupt schon wieder gearbeitet?

In den ersten Tagen nach der Katastrophe fast nirgends. Wer seine Frau, sein Kind, seinen Vater oder seine Mutter verloren hatte, war natürlich nicht in der Lage, in die Fabrik zu gehen. Als ich vor Ort war, ging es in vielen Betrieben langsam wieder los mit der Arbeit. Die Menschen sind einfach auf ihren Lohn angewiesen. Viele Arbeitgeber haben auch geholfen, indem sie auf dem Werksgelände Zelte und Container als  Notunterkünfte für Menschen zur Verfügung gestellt haben, die ihre Wohnung verloren hatten.

Viele Menschen sind aus dem Gebiet geflohen...

Es gab einen massenweisen Exodus aus den am stärksten vom Erdbeben betroffenen Gegenden. Für Hunderttausende ging es ja ums nackte Überleben: Wo finde ich einen Platz zum Schlafen, woher bekomme ich etwas zu essen und sauberes Trinkwasser? Wie komme ich an warme und trockene Kleidung? Dass diese Fragen für viele Menschen nach wie vor ungelöst sind, erklärt sich durch das Ausmaß der Katastrophe, aber auch durch das Versagen der Regierung und der Behörden. Der politische Wille mag da sein, aber es existieren im Grunde genommen nur unkoordinierte Einzelmaßnahmen, beispielsweise einmalige Geldzahlungen für Menschen, die Familienmitglieder oder ihre Wohnung verloren haben. Ein planvolles Vorgehen ist nicht zu erkennen.

Was wäre aus Ihrer Sicht nötig?

Das Erdbebengebiet braucht einen groß angelegten Masterplan für den Wiederaufbau, keine vagen Versprechungen wie jetzt, im Vorfeld der Wahlen am 14. Mai. Die Regierung muss das Heft in die Hand nehmen, sie kann sich nicht allein auf internationale Hilfe verlassen. Ich habe viel Frustration bei den Menschen gespürt. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Hilfe der Regierung entweder gar nicht oder viel zu spät kam.

Wie haben Sie den seelischen Schock erlebt, den die Katastrophe ausgelöst hat?

Als ich das Ausmaß der Zerstörung sah, war ich selbst traumatisiert, obwohl ich das Beben ja gar nicht erlebt hatte. Wenn mir das schon so geht – stellen Sie sich mal die Situation der Menschen vor, die diese Katastrophe durchgemacht haben. Das soziale und seelische Trauma ist auf lange Sicht nicht weniger schlimm als die Zerstörung der Städte und der Tod Zehntausender Menschen. Denken Sie nur mal an die Kinder: Viele irrten tagelang ohne Eltern herum, die unter den Trümmern lagen. Sie sind schwer traumatisiert, aber psychologische Hilfe ist nach wie vor nicht vor Ort. Seit Wochen harren sie in ungeheizten Zelten oder in Turnhallen aus.

Was überwiegt bei Ihnen – Hoffnung oder Skepsis?

Es gibt viel Solidarität in der Not: Die Menschen packen an und tun, was sie können. Ich habe provisorische Schulen und Kindergärten besucht, die in Zelten untergebracht waren. Ich habe dort sogar Kinder gesehen, die wieder lachen konnten. Das sind Dinge, die zumindest etwas Zuversicht bringen. Lassen Sie uns hoffen, dass die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ein Ergebnis für mehr Gemeinsinn bringen. In derart schweren Zeiten brauchen wir mehr Demokratie, nicht weniger.


 

Die Reise

Kemal Özkan, Vize-Generalsekretär der 50 Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaftsföderation IndustriALL global, reiste Ende Februar ins türkische Erdbebengebiet. Unmittelbar nach dem Erdbeben hatte IndustriALL Kontakt zu Verbindungsleuten in der Türkei aufgenommen. Die Reise führte Özkan in sieben der zehn von dem Erdbeben heimgesuchten Provinzen. „Es war unsere Initiative“, erzählt Özkan, der aus einer türkischen Gewerkschafterfamilie stammt. „Wir wollten uns aus erster Hand ein Bild vom Ausmaß der Zerstörung verschaffen, aber unseren Kollegen vor Ort auch ein Zeichen der Solidarität überbringen.“

  • Zerstörung nach dem Erdbeben in der Türkei
    Zerstörung bis zum Horizont
  • Menschen in einer Turnhalle im Erdbebengebiet in der Türkei
    Menschen schlafen in einer Turnhalle, in der noch das Transparent von einem Wettkampf hängt.
  • Gewerkschafter Kemal Özkan im Gespräch mit Gewerkschaftern im Erdbebengebiet in der Türkei
    Gewerkschafter Kemal Özkan im Gespräch mit Gewerkschaftern im Erdbebengebiet in der Türkei.

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