Quelle: Mario Gentzel
Magazin MitbestimmungAltstipendiatin: Die Ausstellungsmacherin
Annegret Schüle hat sich kein einfaches Thema für ihre historischen Forschungen ausgesucht: die Ofenbauer von Auschwitz. Von Susanne Kailitz
Ruhige Minuten sind in Annegret Schüles Terminkalender derzeit nicht vorgesehen. Fast rund um die Uhr ist die 51-Jährige auf der Baustelle – ihrer Baustelle. Hier im Sorbenweg, im Herzen Erfurts, steht Annegret Schüle kurz vor der Fertigstellung ihres bislang wichtigsten beruflichen Projektes, der Ausstellung „Topf und Söhne – die Ofenbauer von Auschwitz“. Fast neun Jahre lang hat sie dieser Arbeit ihre Zeit und Energie gewidmet. Am 27. Januar ist nun die Ausstellung eröffnet worden, und Schüle hofft, dass sie vielen Menschen zu denken geben wird. Denn es ist kein gemütliches Thema, das Annegret Schüle zu dem ihren gemacht hat. Seit 2002 erforscht die Historikerin und Altstipendiatin die Geschichte der Erfurter Firma „Topf und Söhne“, ohne deren Verbrennungsöfen und Gaskammer-Lüftungstechnik der industrielle Massenmord der Nationalsozialisten in Auschwitz, Buchenwald und anderen Konzentrationslagern nicht möglich gewesen wäre.
Schüle hat untersucht, wie das Thüringer Traditionsunternehmen zum direkten Auftragnehmer der SS wurde – und sie hat sich in einer viel beachteten Wanderausstellung und einem 2010 erschienenen Buch den Menschen angenähert, die ihr tägliches Tun in den Dienst des Massenmords stellten. Das frühere Verwaltungsgebäude der Firma wird nun zum Erinnerungsort, finanziert durch die Landeshauptstadt Erfurt, das Land Thüringen und den Bund. Hier, im ehemaligen Zeichensaal der Firma, der heute die Ausstellung beherbergt, entwarf der Chefingenieur des Unternehmens, Kurt Prüfer, die Zeichnungen für die KZ-Verbrennungsöfen. Zum Jahrestag der Auschwitz-Befreiung am 27. Januar gedachten hier die Landesregierung und der Landtag Thüringens der Opfer des Holocaust. Dass damit die immense Bedeutung des Ortes gewürdigt wird, ist für Schüle die wohl größte Bestätigung für ihre Arbeit: „Dieser Erinnerungsort ist gegen viele Widerstände auch in der Stadt erkämpft. Und jetzt wird ein Signal gesendet, dass er wirklich von nationaler Wichtigkeit ist – das bedeutet uns viel.“
Schüle lernte, dass zu einem solchen Projekt viel mehr gehört als nur Forschung. Sie musste plötzlich Fragen nach der richtigen Architektur und Innengestaltung beantworten. „Ich habe entschieden, wo die Steckdosen hin sollten, welche Türklinken wir haben und welche Schreibtische. Die Sicherheit, dass ich in all dem Stress richtig entscheide, musste ich erst gewinnen.“ Von Unsicherheit ist heute an Annegret Schüle nichts zu merken. Schnell läuft die schlanke Schwäbin über die Baustelle, beantwortet hier eine Frage nach der Ausrichtung einer Vitrine, entscheidet dort über die Beleuchtung.
Beeindruckend, dass sie sich trotzdem die Zeit nimmt, jeden Bauarbeiter mit Namen zu begrüßen und ihre Mitarbeiter in die Mittagspause zu schicken. Jeder im Raum weiß: Sie ist die Chefin, ohne ihr O.K. wird keine Entscheidung getroffen. Doch langsam sieht man ihr die Müdigkeit an. Seit Monaten arbeitet sie auf der Baustelle auf Hochtouren; es hat Verzögerungen im Zeitplan gegeben, die so schlimm waren, dass Schüle darüber nachdachte, die Einweihung zu verschieben. „Aber was wäre das denn für ein Start gewesen? Wir haben das jetzt durchgezogen.“ Durchziehen – das kann Schüle gut. Nach der Wende ging die Pfarrerstochter in den Osten, neugierig und beeindruckt von den Frauen, die sie hier traf: „Ich war damals Anfang 30 und überrascht, dass Frauen meines Alters hier halbwüchsige Kinder hatten. Dass es möglich war, Mutterschaft und eine kontinuierliche Erwerbsarbeit scheinbar mühelos miteinander zu verbinden, hat mich sehr fasziniert.“
Schon bald konnte Schüle am eigenen Leib nachvollziehen, wie schwierig diese Verbindung mitunter sein kann: Ihren heute 15-jährigen Sohn zog sie allein auf. „Ich fand es toll, dass klar war, dass man als Mutter auch arbeitet. Niemand hier hat mich deshalb je schräg angeschaut.“ Ganz selbstverständlich kombinierte Schüle dann auch zwei Mammutaufgaben: Mutterschaft und Promotion. Dafür, dass ihr das ermöglicht wurde, ist sie heute noch dankbar: „Ich habe mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung die Betriebsgeschichte einer Leipziger Textilfabrik erforscht – in gewisser Weise hat mir das das Fundament für meine spätere Arbeit am Erinnerungsort gegeben.“
Wichtig auch: „Die Stiftung hat mir und anderen Stipendiatinnen ein Jahr Förderung mehr gewährt, wenn sie Kinder unter acht Jahren hatten. Ohne diese Unterstützung hätte ich so ein Projekt nicht gestemmt.“ Mit der Geschichte der Textilfabrik hat alles angefangen. Darüber, was als Nächstes kommt, kann Annegret Schüle momentan nicht nachdenken. Das Handy summt, ein Bauarbeiter hat eine Frage. Sie hat viel zu tun.