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Historische Schwarz-Weiß-Aufnahme von Arbeitslosen in Marienthal Magazin Mitbestimmung

Rätselhaftes Fundstück: Die Arbeitslosen von Marienthal

Ausgabe 05/2024

Im Jahr 1931 wird Marienthal vor den Toren Wiens zum Schauplatz moderner Sozialforschung. Eine Studie zu den psychologischen Folgen von Arbeitslosigkeit macht den Ort weltweit bekannt. Von Guntram Doelfs

Viel zu tun hat Johann Tománek an diesem Herbsttag nicht. Wie schon an vielen Tagen zuvor. Gemeinsam mit Kollegen schlägt der arbeitslose Textilarbeiter mit knurrendem Magen und sichtlich gelangweilt an der Fellbachbrücke in Marienthal die Zeit tot. Doch die Tristesse will nicht vergehen. Von dem Fotografen, der die Männer ablichtet, scheinen sie keine Notiz zu nehmen. Es ist Hans Zeisel, Jurist und Sozialforscher, seit 1930 tätig an der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle in Wien. Der kleine, fünf mal fünf Zentimer große Kontaktabzug, den er von seinem Schnappschuss fertigt, wird später so etwas wie das Symbol einer der berühmtesten Studien in der Geschichte der Sozialforschung.

Marienthal, ein Ortsteil von Gramatneusiedl vor den Toren Wiens, ist ein Armutsgebiet. Im September 1929 hat die Textilfabrik schließen müssen, die hier 1300 Menschen Brot gab – bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 3000. Die Auswirkungen sind dramatisch, denn die Arbeitslosenunterstützung beträgt nur 25 Prozent des ursprünglichen Lohnes. Massenhafter Wegzug, Hunger und weitreichende soziale Verwerfungen prägen fortan das Bild, das öffentliche Leben kollabiert. 1930 schildert eine Sozialreportage die Situation in Marienthal und erregt damit das Interesse von Otto Bauer, dem Führer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP). Er wird es sein, der Sozialwissenschaftler zu einer Forschungsstudie über die Folgen der Arbeitslosigkeit in Marienthal motiviert.

Unter der Leitung des Soziologen Paul Felix Lazarsfeld macht sich im Herbst 1931 ein 17-köpfiges Forschungsteam an die Arbeit. Den größten Teil des Rohtextes erstellt Marie Jahoda, die mit Lazarsfeld verheiratet ist. Die Feldforschung vor Ort dauert von November 1931 bis Mai 1932. Mit der Studie betreten die Forscher methodisches Neuland. Sie kombinieren qualitative mit quantitativen Methoden der Sozialforschung in einer Fülle und Breite, die zum Zeitpunkt der Untersuchung richtungsweisend ist: Auswertungen von Statistiken, strukturierte Beobachtungsprotokolle, Haushaltserhebungen, Fragebögen, Zeitverwendungsbögen, Interviews, Gespräche, Tests, Erhebungsbögen über alle Familien – alles erzählt in einem Text mit literarischen Zügen.

Die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, die im Juni 1933 erscheint, räumt mit einigen Vorstellungen der Zeit über die Folgen von Arbeitslosigkeit auf. So zeigen die Sozialwissenschaftler, dass Arbeitslosigkeit
tiefgreifende soziale und psychologische Folgewirkungen für das Individuum wie auch den Sozialverband hat. Die damals oft diskutierte Vorstellung, dass Arbeitslosigkeit zur Revolution führt, widerlegt die Studie. Nicht
Aufruhr ist die Konsequenz, sondern eine Erosion des Selbstwertgefühls, Vereinsamung, Resignation und Apathie. Das wegweisende Werk wird jedoch nur wenig später wieder aus den Bücherregalen verschwinden. Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel sind Juden und müssen allesamt emigrieren, als die Nazis an die Macht kommen und Österreich 1938 ans Reich angeschlossen wird. Der Bedeutung der Studie hat das nicht geschadet. Spätestens mit der 1971 erschienenen englischsprachigen Übersetzung wird sie zu einem Klassiker der Soziologie.


Rätselfragen

  1. Was war ein wesentlicher Grund für die Schließung der Textilfabrik Marienthal Ende der 1920er Jahre?
  2. Mitherausgeberin Marie Jahoda emigrierte erst nach London, 1945 in die USA. In welcher Großstadt arbeitete sie bis 1958 als Professorin für Sozialpsychologie?
  3. Zum Forschungsteam gehörte auch eine junge Frau, die später mit dem Buch „Entwicklungspsychologie“ ein Standardwerk für Pädagogen und Psychologen verfasste. Sie gilt inzwischen als Pionierin der österreichischen Schulpsychologie. Von wem ist die Rede?

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  • Harold Wilson
  • Eiserne Lady
  • 2024

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