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WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch am Schreibtisch sitzend Magazin Mitbestimmung

Forschung: „Die AfD verspricht Homogenität statt Zusammenhalt“

Ausgabe 05/2023

Bettina Kohlrausch, Direktorin des WSI, über das Umfragehoch der Rechtspopulisten, Ohnmachtserfahrungen und den Kitt, der die Gesellschaft im Kern zusammenhält. Das Gespräch führten Fabienne Melzer und Kay Meiners

Aktuell liegt eine rechtspopulistische Partei, die AfD, in Umfragen bundesweit mit 20 Prozent vor der SPD. Was sagt das über den Zustand der Gesellschaft?

Es fällt offenbar immer mehr Menschen schwer, sich auf etwas Gemeinsames zu verständigen, also auf Grundregeln, die alle in der Gesellschaft teilen. Viele Menschen fühlen sich von den aktuellen Krisen und Herausforderungen bedroht. Sie machen sich Sorgen um den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das gilt interessanterweise auch für diejenigen, die AfD wählen.

Es gibt also eine gemeinsame Sorge?

Da fängt das Problem schon an. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist eben ein sehr schillernder Begriff. Viele Menschen definieren Zusammenhalt als Einheitlichkeit. Für sie ist eine vielfältige Gesellschaft wie die unsrige ein Beleg dafür, dass es wenig Zusammenhalt gibt.

Was macht gesellschaftlichen Zusammenhalt aus?

Am WSI orientieren wir uns an einer Definition der Bertelsmann-Stiftung, die verschiedene Kategorien von Zusammenhalt unterscheidet: Wie weit vertraue ich den Mitmenschen und den Institutionen? Empfinde ich die Gesellschaft als gerecht? Bin ich bereit, mich an Spielregeln zu halten? Orientiere ich mich auch am Gemeinwohl? Das ist so etwas wie ein gemeinsamer Kern.

Nimmt der Zusammenhalt ab, oder ist das nur ein Gefühl?

Die Gesellschaft ist nicht so gespalten, wie sie oft beschrieben wird. Die meisten Menschen sind heute viel liberaler als vor 40 Jahren. Gleichzeitig scheint es schwieriger zu werden, sich mit allen auf ein Minimum gemeinsamer Regeln und auch gemeinsamer Deutungen der gesellschaftlichen Realität, zum Beispiel die Gefährlichkeit des Coronavirus, zu verständigen.

Und dafür sind die Wählerinnen und Wähler der AfD verantwortlich?

Natürlich nicht nur, aber sie haben sich von dem, was die Gesellschaft im Kern ausmacht, verabschiedet. Sie wählen eine Partei, die manifeste rassistische und antidemokratische Einstellungen bedient.

Warum treffen sie diese Wahl?

Zunächst einmal ist es mir wichtig, festzuhalten, dass die Forschungslage sehr eindeutig belegt, dass die Wahlentscheidung für die AfD zu einem großen Teil auf manifesten rassistischen und antidemokratischen Einstellungen beruht. Dennoch wachsen solche Einstellungen in bestimmten Kontexten, die man sich genauer ansehen sollte. Wir wissen, dass Abstiegsängste, ökonomischer und sozialer Stress und Ohnmachtserfahrungen solche Einstellungen fördern. Die unteren Lohngruppen, die keine Reserven haben, geraten viel schneller unter Stress, wenn durch eine Pandemie, einen Krieg das Leben unsicherer oder teurer wird. So sinkt das Vertrauen in die Politik und in staatliche Institutionen, was ein guter Nährboten für den Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Einstellungen ist.

In Deutschland gibt es die Besonderheit, dass die AfD im Osten stärker ist. Was ist die Ursache?

Wir haben ein besonderes Problem mit Anerkennungsverlusten, weil die Erfahrung eines biografischen Bruches ja in ganz vielen Familien präsent ist. Hinzu kommt, dass rechtsradikale Entwicklungen hier lange geleugnet und nicht angemessen bearbeitet wurden. Dazu kommt eine andere materielle Situation im Osten für viele. Das sind verstärkende Faktoren. Aber man darf nicht so tun, als wäre es nur ein Problem des Ostens.

In den 1970er Jahren war die Welt auch bedrohlich. Es gab den Kalten Krieg, die RAF, eine hohe Inflation – aber keine AfD. Was war damals anders?

Der Kalte Krieg war bedrohlich, bot aber auch einen festen und plausiblen Ordnungsrahmen. Gut und Böse waren klarer verteilt. Die Welt heute ist komplexer und unübersichtlicher. Zudem bot der Sozialstaat in den 1970er Jahren mehr Halt. Die Tarifbindung war höher, die Mitbestimmung wurde ausgebaut. Seit den 1990er Jahren haben wir einen deutlichen Rückbau des Sozialstaates unter rot-grüner Verantwortung erlebt. Probleme, die eigentlich Verteilungsprobleme sind, sind individualisiert worden. Die Tatsache, dass ich vielleicht arbeitslos bin und keine Fabrik besitze, wurde – etwas zugespitzt – in vielen sozialstaatlichen Debatten der letzten Jahrzehnte letztlich auf mangelnde Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft reduziert.

Das klingt, als fühlten die Menschen sich überfordert.

Sie fühlen sich ausgeliefert. Es fehlt an Selbstwirksamkeit, zum Beispiel durch die Möglichkeit, durch Bildung aufzusteigen. Ganz anders in den 1970er Jahren: Dank der Bildungsexpansion erhielten Menschen die Chance, aufzusteigen. Es war zumindest für einige die Einlösung eines meritokratischen Versprechens. Heute hat ein Teil der Menschen dagegen das Gefühl, das eigene Leben nicht mehr selbst in der Hand zu haben, es nicht mehr aus eigener Kraft verändern zu können.

Veränderungen können Menschen immer Angst machen.“

Diese Menschen haben es mit einer Regierung und mit Medien zu tun, die ständig von „Transformation“ reden – wie auch die Stiftung. Kann das nicht noch mehr Angst machen?

Ja, das stimmt. Veränderungen können Menschen immer Angst machen, und in unsicheren Zeiten sind sie sicherlich noch beängstigender. Wir tun viel zu wenig, um diesen Begriff positiv zu besetzen. Wenn eine führende Gesellschaftsdeuterin wie die Ökonomin Veronika Grimm sagt, dass wir alle damit leben müssen, weniger zu haben, ist das das Gegenteil einer solchen Erzählung. Es schürt die Ängste derer, die ohnehin wenig haben, denn sie können ja kaum verzichten. Es wäre wichtig, angesichts der Herausforderungen wie Klimaschutz, Digitalisierung oder Migration die positive Vision einer Gesellschaft zu entwickeln, die besser ist als die heutige. Es könnte ja auch sein, dass vielleicht nur einige reiche Menschen weniger haben, dafür leben sie vielleicht nach wie vor in einer demokratischen Gesellschaft und haben Luft, die ihre Kinder noch atmen können.

Ist das eine Vision, die geeignet ist, der AfD Wählerinnen und Wähler abzujagen?

Kurzfristig sicher nicht. Es gibt dafür überhaupt kein Schnellrezept. Es sind langfristige Entwicklungen, die den Aufstieg der Partei begünstigt haben, und man kann nur genauso langfristig gegensteuern. Aber ich glaube, was diese Menschen brauchen, ist nicht nur das Versprechen, sondern die Erfahrung, dass sie in dieser Transformation sozial abgesichert sind. Und dass sie erleben, dass sie mitgestalten können.

Was, wenn Menschen, die AfD wählen, wirklich eine andere Politik wollen – zum Beispiel weniger Zuwanderung?

Der AfD ist es gelungen, Konflikte zwischen oben und unten in der Gesellschaft umzudeuten in Konflikte zwischen Innen und Außen, also zwischen den Menschen, die dazugehören, und denen, die vermeintlich nicht dazugehören. Sie verspricht Homogenität. Das hat wenig mit realen Erfahrungen zu tun. Interessanterweise sind rassistische Einstellungen oft dort am häufigsten, wo es wenig Menschen mit Migrationshintergrund gibt.

Ihr Rezept gegen die AfD lautet, materielle und immaterielle Güter gleichmäßiger zu verteilen?

Es geht um Einkommen und Vermögen, aber auch um die Chance auf Mitbestimmung und Teilhabe. Hier spielt der Arbeitsplatz eine zentrale Rolle. Mit beidem verbindet sich soziale Anerkennung. Menschen, die zum Beispiel in der Autoindustrie arbeiten, können es als Anerkennungsverlust erleben, wenn der Diesel, auf den sie stolz waren und den sie immer als saubere Technologie gebaut haben, plötzlich der letzte Dreck ist. Oder Menschen, die früher in der Lausitz dafür zuständig waren, dass in der DDR das Licht nicht ausgeht, nach 1989 gesagt bekamen: Wir müssen das jetzt abwickeln. Es geht nicht nur um Geld. Aber es ist auch Unsinn, zu behaupten, es hätte nichts mit materiellen Fragen zu tun.

Die Gewerkschaften sind ein Vehikel, den Menschen Gute Arbeit und Teilhabe zu ermöglichen. Bei einer WSI-Befragung Ende 2022 sprachen nur 24 Prozent der Befragten den Gewerkschaften ein „großes“ oder „sehr großes“ Vertrauen aus. Keine gute Zahl, oder?

Die Gewerkschaften haben sich allerdings in nur einem Jahr um fünf Prozentpunkte verbessert und liegen deutlich über den Vertrauenswerten der Bundesregierung. Im Gegensatz zu ihr haben sie ihre Vertrauenswerte erhöht und auf mittlerem Niveau stabilisiert. Trotzdem müssen sie sich fragen, wie sie mit den Konflikten umgehen, mit denen wir leben, und wie sie die Menschen bei diesen Themen erreichen. Es gibt bei der AfD sicher einen harten Kern, mit dem man nicht diskutieren kann. Aber es gibt auch Leute, die sich vom politischen Mainstream abwenden, die von anderen gesagt bekommen: Deine Flugreise, deine Heizung und deine Grillkohle sind böse. Ich mache den Menschen, die Ängste haben, keinen Vorwurf. Darum ist es so wichtig, dass niemand wirklich in existenzielle Not gerät. Und dass wir für die Probleme kollektive Lösungen finden, statt die Verantwortung auf den Einzelnen abzuwälzen. Ideologisch gesehen, sind das Nachwirkungen, die auf den Rückbau des Sozialstaates Anfang der 2000er Jahre zurückgehen: die Individualisierung von Verantwortung für soziale Notstände. Und in dem jetzigen Transformationsprozess muss das Gegenteil die Antwort sein. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Lösung.

Wie schlägt sich denn die Ampelkoalition? Alles gut, nur schlecht kommuniziert?

Nein, das kann man nicht sagen. Bestimmte soziale Projekte wie die Kindergrundsicherung bleiben auf halber Strecke liegen. Auch die Erhöhung des Mindestlohns war völlig unzureichend, um die Inflationsverluste vieler Menschen auszugleichen. Verteilungsfragen werden von der Bundesregierung nicht ausreichend gestellt. Auch von einem vernünftigen Entwurf für ein Tariftreuegesetz fehlt jede Spur. Insofern kann man wirklich nicht so tun, als gäbe es nur ein Kommunikationsproblem.

Welche Verantwortung tragen die sogenannten Volksparteien? Die SPD hat zwei Konkurrenzgründungen erlebt: die Grünen und die Linkspartei. Jetzt erlebt die CDU mit der AfD quasi etwas Ähnliches. Die Bindungskraft der großen Parteien lässt offenbar nach.

Differenzierte Gesellschaften haben andere Parteienlandschaften. Das muss ja kein Nachteil sein. Aber wenn sich antidemokratische Kräfte innerhalb des parlamentarischen Systems etablieren, wird das wirklich gefährlich. Der Versuch, Wählerinnen und Wähler solcher Kräfte zurückzugewinnen, indem man selber in leicht gemäßigter Form dieselben Forderungen aufstellt, wird nicht funktionieren, denn dann wählen die Leute weiter das Original.

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