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Magazin Mitbestimmung

Übernahme: Die 51-Prozent-Firma

Ausgabe 01+02/2013

Als die Oberpfälzer Flachglas Wernberg AG vor dem Aus stand, kaufte die Belegschaft den Mehrheitsanteil, um die Jobs zu retten. Der Wettbewerb ist hart. Doch bisher konnte das Unternehmen durch die Solidarität und Flexibilität der Mitarbeiter Entlassungen vermeiden. Von Ingo Zander

Ende der 1990er Jahre stand es schlecht um die Flachglas Wernberg AG. Das Unternehmen, das in Wernberg-Köblitz unweit der tschechischen Grenze Bauglas produzierte, bekam die Überkapazitäten des Marktes zu spüren. Preisaggressive Konkurrenten, die teilweise unter Tarif entlohnten, setzten den tarifgebundenen Betrieb unter Druck. Seit Jahren war auch der britischen Muttergesellschaft Pilkington klar, dass nur eine Spezialisierung den Betrieb retten konnte. „Es waren erhebliche Investitionen bei uns geplant“, erinnert sich Johann Klinger, der heutige Betriebsratsvorsitzende. Ihn verbindet viel mit der Firma. 1973 hat er hier Energieanlagenelektroniker gelernt. Seit 1990 ist er schon im Betriebsrat – und als Vorsitzender freigestellt. Klinger hat miterlebt, wie Pilkington das Interesse an dem Betrieb verlor, in dem er arbeitete. 1997 hieß es, das Unternehmen passe nicht mehr zum Kerngeschäft.

Heute halten die Mitarbeiter einen Anteil von 51 Prozent an dem Unternehmen. Dass die Arbeitnehmer die Hauptanteilseigner sind, liegt nicht daran, dass hier jemand eine neue Form des Wirtschaftens ausprobieren wollte. Es ist eine Lösung, die aus der Not heraus geboren wurde. Nachdem klar war, dass die Muttergesellschaft trotz erster Erfolge bei der Restrukturierung an ihrem Plan festhalten würde, sich aufs Kerngeschäft zu konzentrieren, drohte 618 Menschen die Arbeitslosigkeit. Und dies in einer Region, die vor 15 Jahren, kurz nach der Wende, als strukturschwache Region, als Armenhaus Bayerns galt. Heute kann sie mit einer Arbeitslosenquote zwischen drei und vier Prozent fast Vollbeschäftigung aufweisen.

Der Betriebsrat wollte sich mit der drohenden Schließung nicht abfinden. Gemeinsam mit der IG BCE engagierte er einen Gutachter. Er kam zu dem Schluss, dass sich in der Glasveredelung – die nötigen Investitionen vorausgesetzt – sechs bis acht Prozent Rendite erwirtschaften ließen. Die Mitarbeiter sollten mit einer stillen Beteiligung der Belegschaft etwas beisteuern. Die britischen Anteilseigner machten den Arbeitnehmern aber schnell klar, dass auf jeden Fall ein Mehrheitseigner gefunden werden müsse. Sie wollten die Führerschaft im Unternehmen nicht mehr ausüben.

DER KAUFPREIS: 3,7 MILLIONEN MARK

In diesem Moment kam die Idee auf, dass die Belegschaft selbst zum Mehrheitsaktionär werden könnte. Doch dafür musste sie eine Menge Geld auftreiben: 3,7 Millionen Mark. „Mir ist das Herz in die Hose gerutscht“, so beschreibt der damalige, mittlerweile pensionierte Betriebsratsvorsitzende Richard Thaller seine Gefühle angesichts der Millionensumme. Bald stellte sich heraus, dass von den Banken keine Hilfe zu erwarten war. „Die Banken wollten Sicherheiten“, erinnert sich Thallers Nachfolger Klinger mit einem Anflug von Verachtung, wenn er an das seit 2008 bekannt gewordene Risikoverhalten der Banken auf den Finanzmärkten denkt. „Wir hatten nur unsere Arbeitsplätze als Sicherheiten, die aber in so einem Betriebsübergang noch nicht mal sicher waren. Wir wussten noch nicht: Geht das gut?“ Klinger, den sie im Betrieb alle „den Hans“ rufen, sitzt noch heute der Schrecken im Nacken. „Viele Unternehmensberater haben gesagt: Das wird niemals gutgehen. Wie sollen Arbeitnehmer ein Unternehmen führen?“

DER KONZERN SPIELT MIT

Pilkington, die IG BCE und der Betriebsrat tüftelten gemeinsam das Beteiligungsmodell aus, bei dem die Beschäftigten 51 Prozent und Pilkington 49 Prozent der Anteile einer selbstständigen GmbH halten. „Der Mutterkonzern wollte weiter einen sicheren Abnehmer für sein Rohglas haben“, erläutert Klinger das Entgegenkommen des Konzerns, in dem sich auch ein personeller Wechsel im Vorstand günstig für die Wernberger auswirkte. „Die neue Flachglas Wernberg GmbH lieh der dann gegründeten Flachglas Wernberg Beteiligungs-GmbH zwei Millionen Euro zu einem Zinssatz von sechs Prozent. Dieses Darlehen konnten wir bis 2005 zurückzahlen“, erzählt Klinger stolz. Die Belastung für die Wernberger Belegschaft blieb überschaubar. Rund 800 DM musste jeder beteiligte Mitarbeiter pro Jahr bis 2005 für die Tilgung des Darlehens aufbringen – ein Teil kam zusätzlich aus der Arbeitnehmersparzulage. Der damalige Betriebsratsvorsitzende Richard Thaller brachte die Belegschaft mit Appellen an die Solidarität im Kampf um den Arbeitsplatz und mit Argumenten für mehr Wettbewerbsfähigkeit hinter sich. 96 Prozent entschieden sich für den Kauf des Betriebs – die anderen standen entweder vor der Rente oder wollten das Unternehmen sowieso verlassen.

 „Im ersten Schritt haben wir das Werk per Betriebsvereinbarung in die neue Rechtsform überführt“, erklärt Klinger. Die Beschäftigten büßten dabei einen Teil ihres Lohnes ein – durch den Wechsel vom Pilkington-Haustarif in den 15 Prozent niedrigeren Flächentarifvertrag der Glasveredelung. „Vorgabe von unserer Seite war, dass wir tarifgebunden bleiben, damit nicht die Angst aufkam, morgen geht es von oben schnurstracks nach unten“, erklärt Klinger. Doch die Absenkung geschah moderat: „Wir haben die Zulagen nicht direkt weggenommen, sondern über Jahre hinweg abgeschmolzen. Wenn wir eine Tariferhöhung von 50 Euro bekamen, wurden davon zum Beispiel 25 Euro von der persönlichen Zulage angerechnet.“

Ein Mitstreiter Klingers von der ersten Stunde an war Anton Schlögl, mit dem Klinger schon gemeinsam die Schulbank gedrückt hatte. „Ich bin ein 100-prozentiger Flachglaser“, stellt sich Schlögl vor, dessen Vater, Mutter, Onkel und Tanten schon in dem gleichen Unternehmen arbeiteten wie er. 1974 kam Schlögl als Industriekaufmann in das Unternehmen. Seit 2003 ist er Personalleiter im operativen Bereich. Schlögl und Klinger sind zugleich die beiden Geschäftsführer der Beteiligungs-GmbH. „Die hat nur die Aufgabe, die Anteile der Mitarbeiter an der Flachglas Wernberg GmbH zu verwalten. Sie ist gegründet worden, um notarielle und registergerichtliche Mehraufwendungen bei Veränderungen der Gesellschafterstruktur zu vermeiden.“ Die produzierende GmbH hat mit Reinhold Hermann einen eigenen Geschäftsführer. Alle fünf Jahre wird ein Gesellschafterkontrollausschuss mit neun Mitgliedern aus dem Kreis der Gesellschafter gewählt.

Klinger und Schlögl legen großen Wert darauf, dass die Mitbestimmung der Belegschaft nicht direkt, sondern vermittelt durch die dafür vorgesehenen Strukturen stattfindet. „Für die Kontrolle des operativen Geschäfts haben wir einen Aufsichtsrat. Der Minderheitsgesellschafter stellt zwei Aufsichtsratsmitglieder, die Beteiligungs-GmbH zwei Externe und die Belegschaft zwei“, erklärt Klinger, der das Amt des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden gleich mit ausübt. Die Beteiligungs-GmbH entschied sich bewusst dafür, zwei externe Fachleute aus der Wirtschaft in den Aufsichtsrat zu schicken. In den ersten Jahren fiel die Wahl auf den ehemaligen Ministerialdirigenten im Wirtschaftsministerium Walter Ehring, der viele Jahre Aufsichtsratsvorsitzender war. „Ihm sind wir sehr dankbar. Er hat eine sehr positive Rolle gespielt“, lobt Schlögl.

Ehring war im bayrischen Wirtschaftsministerium für die Förderung von Industriebetrieben zuständig. Bezüglich der Landesförderung gab es damals Bedenken von anderen Vertretern des Wirtschafts- und Finanzministeriums. Weil die Förderinstrumente in Bayern auf eine Förderung von Mitarbeiterbeteiligungen nicht ausgerichtet seien, da dies eine Förderung von Privatpersonen und nicht von Unternehmen bedeuten würde, wurde keine Landesbürgschaft für einen Mitarbeiterkredit bei den Banken gewährt. „Aber die Hilfe des Wirtschaftsministeriums war dennoch wichtig bei der rechtlichen Konstruktion der Gesellschaft, bei der Vermittlung von Kontakten und für die schnelle Bearbeitung von Förderanträgen“, erinnert sich Schlögl.

INVESTITIONEN STATT DIVIDENDE

Seit Januar 2005 sind die Beschäftigten schuldenfrei. Im gleichen Jahr wurden zum ersten Mal pro Kopf 330 Euro Gewinnbeteiligung ausgeschüttet. Einher mit der Erleichterung der Beschäftigten über die Rettung ihrer Arbeitsplätze geht jetzt die Sorge der Geschäftsführung, die Mitarbeiter mit Verweis auf die angespannte Marktsituation auf Kurs zu halten, meint Schlögl. Da könne es passieren, dass der eine oder andere die Wettbewerbszwänge aus dem Blick verliere, meint Personalleiter Schlögl: „Ich erinnere mich an die Diskussion mit einem Mitarbeiter, der meinte, weil alles gerade so prima läuft, könnten wir uns doch die Löhne deutlich erhöhen.“ Er fragte seinen Mitarbeiter und Gesellschafter: „Wie lange, glaubst du, wird das gutgehen, wenn wir als Folge der Lohnerhöhung unsere Produkte verteuern müssen und dadurch Umsatz verlieren? Dann müssen wir Mitarbeiter entlassen – vielleicht auch dich.“ Heute herrscht mehr Transparenz über die wirtschaftliche Lage als zu der Zeit unter dem Dach der Flachglas AG. Jeden Monat werden die Zahlen über den Umsatz, die Verluste und Gewinne veröffentlicht. Klinger informiert die Belegschaft darüber auf Betriebsversammlungen. Zu Zeiten der Flachglas AG gab es nur eine sogenannte Jahreshauptversammlung. „Da wurde dann der Gewinn festgestellt. Und das wurde auch nicht großartig auf einer Betriebsversammlung kommuniziert“, erinnert sich Schlögl – und Klinger pflichtet ihm bei. „Die Mitarbeiter beziehungsweise die Gesellschafter gehen in die Gesellschafterversammlung, in der ein Geschäftsführer die Geschäftsergebnisse präsentiert. Jeder hat dort die Möglichkeit, kritische Fragen zu stellen.“

DURCH VERZICHT ENTLASSUNGEN VERHINDERT

Klinger und Schlögl sind stolz darauf, in all den Jahren die wirtschaftlichen und sozialen Anforderungen ausbalanciert zu haben, „Wir sind nicht einem Aktionär verpflichtet, sondern uns, um unsere Arbeitsplätze zu erhalten“, betont er immer wieder. Das heißt, abwägend Investitionen tätigen oder Dividenden ausschütten. „Wir haben seit 1999 mehr als 35 Millionen Euro investiert, davon über zehn Millionen allein für den Bau unseres neuen Schneidhauses. Geld, das eben nicht als Dividende ausgeschüttet werden konnte.“ Das Unternehmen hat seit 2005 auch Beteiligungen an anderen Glasveredlern erworben, sogar in der Schweiz. Bisher konnten auch in Krisenzeiten betriebsbedingte Kündigungen vermieden werden – zum Beispiel durch eine Absenkung der wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden auf erst 36,5, dann sogar auf 36,25 in den Jahren 2003 und 2004 mit anteiligen Lohneinbußen. 25 qualifizierte Mitarbeiter wurden so im Unternehmen gehalten. Es gab auch Phasen mit „unbezahlten“ Überstunden – als Kredit an das Unternehmen, die bei entsprechenden Betriebsergebnissen zurückgeführt werden sollten.

Die Flachglas-Mitarbeiter haben immer wieder Zugeständnisse gemacht für die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze. Bis 2013 sind betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen, dafür verzichten alle Mitarbeiter auf 65 Prozent des Weihnachtsgeldes. Bei entsprechendem Gewinn gibt es aber auch hier eine Rückführung des Mitarbeiterbeitrags. Die IG BCE steht nach wie vor hinter dem Modell. „Es wurde anfangs von Wirtschaft und Politik mit Argwohn bedacht, jetzt gibt es rund 600 Familien eine Zukunft“, erklärt Rainer Hoffmann, Gewerkschaftssekretär im Bezirk Nordostbayern.

Das Unternehmen ist mit 610 Beschäftigten und rund 500 Gesellschaftern einer der führenden Bauglas- und Fahrzeugglashersteller in Europa. Es erreicht mit rund 60 Auszubildenden eine Quote von fast zehn Prozent, der Anteil schwerbehinderter Mitarbeiter liegt bei acht Prozent. Besonderen Wert legt man in Wernberg darauf, nur in Ausnahmefällen Leiharbeiter einzusetzen – etwa um Auftragsspitzen abzufangen. „Wir haben unsere Arbeitsplätze gesichert. Das stand immer im Vordergrund“, resümiert Betriebsratsvorsitzender Johann Klinger das Engagement der Belegschaft. „Deswegen ist dieses Mitarbeitermodell für uns ein Erfolgsmodell: weil es von den Menschen, die hier arbeiten, getragen und gelebt wird.“ Möglich sei das nur durch die große Verbundenheit und das Vertrauen der Kollegen untereinander und zum Management: „Von daher ist dieses Modell auch nicht eins zu eins auf andere Unternehmen übertragbar“, sagt Klinger. 

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