Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Deutschlands heimliche Mega-Branche
BESCHÄFTIGUNG Der Bildungssektor ist ein gigantischer Arbeitsmarkt. Mehr als zwei Millionen Menschen unterrichten in Deutschland. Zu unterschiedlichsten Konditionen.
Von MARTIN KALUZA, freier Journalist in Berlin. Foto: picture alliance
Man muss sich den Vergleich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Im Bildungs- und Erziehungswesen arbeiten deutschlandweit dreimal so viele Menschen wie in der Automobilindustrie, die die Politik derzeit in Atem hält. Rund 756 000 Erwerbstätige zählte der Verband der Automobilindustrie (VDA) im April 2008 in Deutschland bei Kraftfahrzeugproduzenten - eingeschlossen Teilelieferanten sowie die Hersteller von Anhängern und Aufbauten. Der Sektor Erziehung und Bildung jedoch beschäftigt nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2,3 Millionen Menschen, die zusammen 3,2 Milliarden Arbeitsstunden leisten.
Der Bildungssektor ist ein vielfältiger Arbeitsmarkt. Er reicht von Kindergärten, Schulen und Hochschulen über Berufsakademien, Fahr- und Flugschulen bis hin zur Erwachsenenbildung. Ein Großteil der Arbeit wird zudem von Selbstständigen geleistet. Nur 980 000 Erwerbstätige - nicht einmal die Hälfte - sind laut Statistischem Bundesamt sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
In vielen Segmenten haben sich in den letzten Jahren die Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen zum Schlechten verändert. Nicht wenige Arbeitgeber satteln auf Billiglohn und Leiharbeit um und drängen Beschäftigte zunehmend in prekäre Verhältnisse. Allein für Lehrer scheint die Lage - je nach Fach und Bundesland - derzeit günstig. Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, im Bildungssektor hinge der Grad der Prekarisierung davon ab, ob der Arbeitgeber ein Privatunternehmen ist oder der öffentlichen Hand gehört.
DIE BUNDESLÄNDER JAGEN SICH LEHRER AB_ Den größten Anteil am Arbeitsmarkt Bildung haben traditionell Schulen. 2006 - aus diesem Jahr sind die letzten zuverlässigen Zahlen - arbeiteten 668 000 hauptberufliche Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen, 124 000 an beruflichen und 7000 an Schulen des Gesundheitswesens. Die Aussichten für Lehramts-Absolventen heute und in den nächsten Jahren müssten eigentlich günstig sein. Die Lehrerschaft ist überaltet, bis 2015 scheidet ein überproportional großer Anteil aus dem Dienst aus. Die Einstellungszahlen, die seit 2003 aus den Ländern gemeldet wurden, lagen jedoch regelmäßig unter dem Bedarf, den die Kultusministerkonferenz (KMK) damals selbst errechnet hatte.
In bestimmten Fächern herrscht bereits ein Mangel an Lehrkräften. "Das betrifft vor allem die Mathematik, Physik und Informatik", sagt Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm, emeritierter Professor der Universität Duisburg-Essen. Der Grund ist, dass den Studierenden dieser Fächer gut bezahlte Alternativen offenstehen. Ingenieure werden händeringend gesucht. Für Geisteswissenschaftler gibt es keinen vergleichbaren Arbeitsmarkt. Allerdings, so erklärt Klemm, zähle seit etwa drei Jahren auch Englisch zu den Fächern mit Lehrermangel. "Das", sagt Klemm, "hat mich selbst überrascht."
Neuerdings jagen sich einzelne Bundesländer sogar gegenseitig Lehrer ab. Anfang des Jahres warb das Land Baden-Württemberg mit Plakaten in der Berliner U-Bahn um Lehrer und Absolventen. Eine ähnliche Kampagne hatte Hessen im Jahr zuvor gestartet. Die Angebote der Länder unterscheiden sich darin, ob und bis zu welcher Altersgrenze Lehrer verbeamtet werden, in den wöchentlichen Unterrichtsverpflichtungen und der Möglichkeit zu flexiblen Arbeitszeiten. Seit der Föderalismusreform I im Jahr 2006 können die Bundesländer außerdem die Besoldung selbst festlegen und Bewerber mit besserer Bezahlung bei gleichen Arbeitszeiten locken.
Kritiker sehen darin einen einseitigen Vorteil für die finanzstarken Länder. Dem notorisch klammen Berlin waren schon vor der baden-württembergischen Kampagne reihenweise Lehrer abgewandert. In diesem Jahr reagierte der Senat und wirbt nun seinerseits damit, junge, angestellte Lehrer ab August 2009 in eine höhere Besoldungsstufe einzuordnen. Der Senat will ihnen bis zu 40 Prozent mehr zahlen und damit den Abstand zu Gehältern verbeamteter Lehrer verringern - denn den Beamtenstatus bietet Berlin seinen Neulehrern im Gegensatz zu anderen Bundesländern nicht.
WENIG ANERKENNUNG FÜR DIE KITAS_ Deutlich schwächer sind die Bemühungen, pädagogisches Personal für Kindertagesstätten zu finden. "Seit Anfang der 90er Jahre sind die Anforderungen ständig gestiegen", sagt GEW-Bundesvorstand Norbert Hocke. "Als das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft trat, war es auf die westdeutsche Halbtagskita zugeschnitten. Doch die heutige Situation der Familien verlangt nach der Ganztags-Kita." Von den Kindergärten werde eine immer bessere Zusammenarbeit mit den Grundschulen erwartet. Nachdem in der Vergangenheit eine Reihe tragischer Todesfälle von vernachlässigten Kindern die Öffentlichkeit bewegt haben, seien die Kindergärten zudem stärker in das gesundheitliche Frühwarnsystem eingebunden. Dafür haben sie kein zusätzliches Personal bekommen.
"Weder im Tarifvertrag noch in der Wertschätzung hat sich in den letzten Jahren etwas bewegt", sagt Hocke. "Jetzt müsste nachjustiert werden." 320 000 Erzieherinnen und Erzieher betreuen in 50 000 Einrichtungen über drei Millionen Kinder. Fast 97 Prozent der Beschäftigten in Kitas sind Frauen. Rund zwei Drittel von ihnen arbeiten in Teilzeit, und das häufig nicht freiwillig. Nach einer Studie der GEW würden fast 40 Prozent der Erzieherinnen gerne Vollzeit arbeiten, finden aber keine Stelle. Das betrifft vor allem Erzieherinnen im Osten.
Dass die Arbeitsbedingungen - besonders was die Gesundheit angeht - nicht die besten sind, ist ein Hauptthema der im Mai begonnenen Streiks. Die GEW-Studie hat bestätigt, dass Erzieherinnen vor allem unter dem Lärmpegel großer Gruppen und der Mehrbelastung aus Personal- und Zeitmangel leiden. Außerdem sind sie mit dem gesellschaftlichen Ansehen, den Aufstiegsmöglichkeiten und dem Verdienst unzufrieden.
Besonders schwer haben es Berufseinsteiger: Knapp die Hälfte der unter 30-Jährigen hat derzeit nur einen befristeten Arbeitsvertrag. Ein Drittel dieser Stellen sind Elternzeitvertretungen mit nur geringen Aussichten auf Verlängerung. Viele junge Erzieherinnen hangeln sich deshalb von einer befristeten Stelle zur nächsten. Zudem hat der häufige Wechsel des Arbeitgebers Konsequenzen auf die Bezahlung. Die Erzieherinnen werden - so regelt es der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst - bei einem Arbeitgeberwechsel wieder als Berufsanfängerinnen eingestuft. Auch die Beförderungen ("Bewährungsaufstiege"), die nach dem alten Tarifvertrag (BAT) jetzt für neue Kollegen fällig wären, fallen nun weg.
Trotz dieser Befunde sind die Beschäftigten mit ihrem Beruf erstaunlich zufrieden: Die Mehrheit fühlt sich laut GEW-Studie am Arbeitsplatz wohl, kommt gut mit den Kollegen aus und schätzt die selbstständige Planung der Arbeit.
WEITERBILDUNG AUF SPARFLAMME_ Stark verändert hat sich in den letzten Jahren der Arbeitsmarkt für Weiterbildung. Obwohl die Branche expandiert, haben sich die Arbeitsbedingungen teils drastisch verschlechtert. Der Markt ist allerdings unübersichtlich, einen zuverlässigen statistischen Überblick gibt es nicht. Generell zählt man dazu das Bildungswesen jenseits der öffentlichen Schulen und Hochschulen. Das Spektrum reicht von Maßnahmen der Arbeitsagenturen über Volkshochschulen und Sprachkurse bis hin zu EDV-Trainings und Privatschulen. Einige Unternehmen sind zudem schwierig einzuordnen - zählt beispielsweise die Coaching-Firma unter dem Dach eines Pkw-Herstellers zur Automobil- oder zur Bildungsbranche?
Traditionell den größten Anteil stellen Weiterbildungen nach dem Dritten Sozialgesetzbuch (SGB III), also Kurse und Lehrgänge, die von den Arbeitsagenturen und ARGEn - den Zusammenschlüssen der Arbeitsverwaltung mit der Stadtverwaltung - finanziert werden.
Zwar ist die Zahl der Teilnehmer an solchen Maßnahmen zuletzt gestiegen. Doch die Kurse werden kürzer, und mancherorts werden die Weiterbildungsmittel von den Agenturen gar nicht ausgeschöpft. "Vor den Hartz-Reformen gab es in diesem Segment zwischen 80 000 und 100 000 hauptberufliche Kursleiter und Organisatoren", sagt Roland Kohsiek, Leiter des Fachbereichs Bildung, Wissenschaft und Forschung beim ver.di-Landesbezirk Hamburg. "Diese Zahl ist inzwischen auf die Hälfte gesunken." Gleichzeitig sei das Gehaltsniveau vielerorts um mehr als 40 Prozent abgesackt, und auch Honorarkräfte müssten regelmäßig Kürzungen der Stundensätze hinnehmen. "Während Festangestellte früher zwischen 3000 und 4000 Euro verdienten, bekommt ein Akademiker mit Abschluss heute nur noch 2200 Euro", sagt Kohsiek.
Die Arbeitsverhältnisse sind in den letzten Jahren immer unterschiedlicher geworden. Viele Unternehmen der Branche beschäftigen Angestellte neben Honorarkräften, Befristete neben Unbefristeten und schlecht bezahlte Neueingestellte neben Kollegen mit alten, wesentlich besseren Arbeitsverträgen. Ein neuer Tiefpunkt der Entwicklung ist die Einführung von Leiharbeit. So berichtet ver.di-Mann Kohsiek, dass etwa die Tochterunternehmen der Stiftung Berufliche Bildung (SBB) in Hamburg kaum noch Mitarbeiter einstellen, sondern aus der konzerneigenen Leiharbeitsfirma rekrutieren. Diese Veränderungen treffen mit den Arbeitsamts-Weiterbildungen das Marktsegment, das lange als das am besten strukturierte galt.
Die Finanzierung war stabil, vielerorts gab es Betriebsräte und Tarifverträge. "Dagegen war der Sprachschulmarkt schon immer ein deregulierter Horrormarkt mit schlechter Bezahlung und Problemen der Scheinselbstständigkeit", sagt Kohsiek.
HARTE BEDINGUNGEN AN DEN HOCHSCHULEN_ Knapp über eine halbe Million Menschen arbeiten an deutschen Hochschulen, 420 000 von ihnen hauptberuflich. Der größte Teil der Beschäftigten, rund 250 000, zählt zur Verwaltung, zum technischen und sonstigen Personal. Weitere 170 000 arbeiten als wissenschaftliches oder künstlerisches Personal. Auffällig ist der niedrige Anteil von Frauen in Forschung und Lehre. Rund 37 700 Professoren stehen 5700 Professorinnen gegenüber. Auch 42 000 wissenschaftliche und künstlerische Mitarbeiterinnen nehmen sich neben 116 600 männlichen Kollegen ziemlich bescheiden aus, ebenso wie 2300 hauptberufliche Dozentinnen gegenüber 8100 Dozenten.
Die Hochschulen sind ein expandierender Arbeitsmarkt. "Die Studierendenzahlen sind in den letzten Jahren gestiegen, und mit den geburtenstarken Jahrgängen kommt auf die Hochschulen noch eine Lawine zu", sagt Klaus Böhme, bei ver.di Vorsitzender des Bundesfachbereichs Bildung, Wissenschaft und Forschung. Während mit dem Ausbau der Fachhochschulen die Zahl der Professoren dort zwischen 1997 und 2006 um 1500 stieg, bauten die Unis 800 Professorenstellen ab. Dafür schnellte an den Universitäten die Zahl der Lehrbeauftragten in der gleichen Zeit von 26 000 auf 38 000 in die Höhe.
Allerdings ist die berufliche Situation für die meisten in der Lehre Beschäftigten schwierig. Erst zu Beginn dieses Jahres erregte die Mittelbaustudie Aufsehen, die ver.di in Auftrag gegeben hatte. Bemängelt wurde vor allem, dass zwei Drittel des akademischen Mittelbaus - überwiegend Promovierende - unsichere und befristete Arbeitsverträge hatten. Die Arbeitszeit der Befragten lag bei durchschnittlich 40 Stunden, und zwar unabhängig davon, ob sie eine volle Stelle, eine Zwei-Drittel- oder eine halbe Stelle hatten.
Noch viel schlechter sind die Arbeitsbedingungen der Lehrbeauftragten. Das sind Lehrkräfte, die keinen Angestelltenvertrag haben, sondern auf Honorarbasis einzelne Seminare geben. Sie gewährleisten mittlerweile einen großen Teil des Lehrbetriebs - an den Berliner Universitäten beispielsweise zehn Prozent, an den künstlerischen Hochschulen die Hälfte. 2006 hat die vor kurzem verstorbene Soziologin Irmtraud Schlosser im Auftrag der GEW eine Befragung zur Lage der Lehrbeauftragten an Berliner Hochschulen durchgeführt: Pro Unterrichtsstunde bekamen die meisten Lehrbeauftragen zwischen 21,40 Euro und 30 Euro, Vor- und Nachbereitungszeiten wurden nicht bezahlt. Für fast die Hälfte der Befragten war das die Haupterwerbsquelle. 60 Prozent verdienten unter 1000 Euro netto im Monat, ein Viertel sogar unter 600 Euro. Ein Viertel der Befragten war nicht rentenversichert, sechs Prozent nicht einmal krankenversichert.
Selbst mit diesen geringen Honoraren sind viele noch vergleichsweise gut bedient. Denn regelmäßig werden Lehraufträge mit dem Mindestlohn null vergütet - die so genannten "unbezahlten Lehraufträge". Ursprünglich gedacht, um Experten, beispielsweise aus der Wirtschaft, für Seminare und Vorträge zu gewinnen, werden unbezahlte Lehraufträge mittlerweile für reguläre Lehrveranstaltungen vergeben.
Der Grund, schlecht oder unbezahlte Lehraufträge anzunehmen, ist für Promovierende eine vage Karriereaussicht. Für Habilitierte sind solche Seminare schlicht notwendig, um die Lehrbefähigung nicht zu verlieren, also die Voraussetzung, um einmal auf einen Lehrstuhl berufen zu werden. Zwar ist die Zahl unbezahlter Lehraufträge statistisch nicht erfasst. Erfahrungsberichte lassen jedoch vermuten, dass sie bundesweit besonders in Geistes- und Sozialwissenschaften einen Teil der regulären Lehre abdecken. Vor dieser Praxis schrecken auch Exzellenz-Universitäten wie die FU Berlin nicht zurück.
Auch für die technischen Mitarbeiter und Verwaltungsangestellten an den Hochschulen ist Prekarisierung kein Fremdwort mehr. "Nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz dürfen Arbeitsverträge für neue Mitarbeiter ohne sachlichen Grund auf zwei Jahre befristet sein", sagt Böhme. "Die Verwaltungen nehmen das dankend an."