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Glaskugel Magazin Mitbestimmung

Prognose: Deutschland könnte mit einem blauen Auge davonkommen

Ausgabe 06/2022

Erste Zeichen deuten darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft 2023 nicht abstürzt. Doch Vorhersagen waren noch nie so unsicher, wie die vergangenen Monate gezeigt haben. Von Peter Bofinger

In der Geschichte der Bundesrepublik gab es noch nie einen Jahreswechsel mit einer so hohen politischen und ökonomischen Unsicherheit wie jetzt im Dezember 2022. Sie zeigte sich in den vergangenen Monaten in Wachstums- und Inflationsprognosen der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute, die alle weit danebenlagen, und spiegelt sich in aktuellen Indikatoren. Auf der einen Seite vermeldet das Statistische Bundesamt, dass die Wirtschaft im dritten Quartal 2022 mit 0,3 Prozent sogar noch geringfügig gewachsen sei, was auf Impulse der Konsumnachfrage zurückzuführen sei. Auf der anderen Seite sind die vom ifo-Institut erhobenen Geschäftserwartungen in allen Sektoren der Wirtschaft nach wie vor auf einem so niedrigen Niveau, wie es nur in der Finanzkrise und zu Beginn der Coronapandemie erreicht worden war.

Wenn man von der Gemeinschaftsdiagnose ausgeht, die sich weitgehend mit der des Sachverständigenrats deckt (1,7 Prozent Wachstum 2022 und − 0,2 Prozent im kommenden Jahr), dürfte Deutschland mit einem blauen Auge durch die Krise kommen. Dafür spricht die derzeitige Entspannung an den Rohstoffmärkten: Im Oktober 2022 sind die Erzeugerpreise saisonbereinigt gegenüber dem Vormonat um 4,2 Prozent gesunken, nachdem sie seit Mai 2020 kontinuierlich gestiegen waren.

Es ist also nicht damit zu rechnen, dass Indus­triebetrieben der Gashahn zugedreht werden muss.

Insgesamt erscheint ein Absturz der deutschen Wirtschaft im Jahr 2023 somit nicht wahrscheinlich. Man kann das durchaus als Verdienst der Bundesregierung ansehen, die seit Ausbruch des Krieges eine ebenso behutsame wie konsequente Linie verfolgt. Sie ist nicht den Aufforderungen von Ökonomen gefolgt, die im März eine sofortige Einstellung aller Energielieferungen aus Russland forderten. Vielmehr hat sie rasch alle Möglichkeiten genutzt, sodass der definitive Ausfall der Gaslieferungen Ende August ohne größere Verwerfungen bewältigt werden konnte. Zugleich hat sie einen fiskalpolitischen Paradigmenwechsel vollzogen, der sie in die Lage versetzt hat, breitflächig Unternehmen und private Haushalte zu schützen.

Nach einem zunächst eher zögerlichen Verhalten, bei dem den Bürgern noch eine Gasumlage zugemutet werden sollte, hat die Politik umgeschaltet und über Nacht einen Rettungsschirm für Bürger und Unternehmen mit einem Volumen von 200 Milliarden Euro aufgespannt. Zusammen mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr (100 Milliarden Euro) und dem Klima- und Transformationsfonds, dem im zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 60 Milli­arden Euro an Kreditfazilitäten zugewiesen wurden, hat die Bundesregierung einen fundamentalen Paradigmenwechsel beschritten.

Nachdem mit der Schuldenbremse und ihrer Übersteigerung durch die „schwarze Null“ der Konstanz der Staatsverschuldung über allen anderen Politikzielen Priorität eingeräumt worden war, hat sich nunmehr die Einsicht breitgemacht, dass die Staatsverschuldung derzeit das geringste aller Probleme darstellt.

Im Vergleich mit den übrigen G-7-Staaten weist Deutschland bei einem Verhältnis der Staatsverschuldung zur Wirtschaftsleistung von knapp 70 Prozent den mit Abstand niedrigsten Wert auf. 

Mit diesem weitreichenden Finanzierungspotenzial können somit im kommenden Jahr private Haushalte und Unternehmen in die Lage versetzt werden, stark steigende Energieausgaben zu bewältigen, ohne in eine finanzielle Schieflage zu geraten. Dabei ist das von der Regierung gewählte Instrument der Gaspreisbremse im Bereich der privaten Haushalte allerdings nicht sehr zielgenau und administrativ schwer handhabbar. Eine vielleicht weniger bürokratische Lösung wäre die in diesem Jahr ohne größere Probleme bereits umgesetzte Energiepreispauschale gewesen mit einem Festbetrag pro Kopf, der versteuert werden muss.

Gelungen ist die Inflationsprämie, bei der bis zum 31. Dezember 2024 ein Betrag von insgesamt 3.000 Euro steuerfrei an Beschäftigte ausgezahlt werden kann. Wie die Tarifverträge in der Metall- und Elektroindustrie sowie in der chemischen Industrie zeigen, wird diese Möglichkeit von den Tarifpartnern genutzt, um den Beschäftigten trotz stark steigender Preise konstante oder sogar steigende Realeinkommen zu ermöglichen.

Auf der Ebene der Geldpolitik hat die Europäische Zentralbank (EZB) nach anfänglichem Zögern die Zügel angezogen und die Leitzinsen von Juli bis November um zwei Prozentpunkte erhöht. Dafür musste sie von allen Seiten Kritik einstecken. Während die einen ihr vorwerfen, die labile Konjunktur zusätzlich zu destabilisieren, fordern die anderen angesichts der enorm hohen Inflationsraten noch weitaus energischere Maßnahmen. Diese unterschiedlichen Einschätzungen spiegeln lehrbuchhaft das ­Dilemma der Geldpolitik angesichts eines gravierenden Angebotsschocks: Er treibt die Inflationsrate noch oben und bremst das Wirtschaftswachstum über höhere Kosten und sinkende Realeinkommen der Verbraucher.

In einem Umfeld mit hoher Inflation dürfen Zinsen aber nicht losgelöst von der Preisentwicklung betrachtet werden. Das auf den Ökonomen John Taylor zurückgehende „Taylor-Prinzip“ besagt, dass die Zinspolitik nur dann bremst, wenn der Anstieg der Zinsen höher ist als der Anstieg der Inflationsrate. Wenn beispielsweise die Inflationsrate um zwei Prozentpunkte steigt, bremst der Leitzins nur, wenn er um mehr als zwei Punkte steigt. Bleiben Zinserhöhungen dahinter zurück, wirkt die Geldpolitik vielmehr stimulierend.

Gemessen an diesem Prinzip haben die Zinsanhebungen der EZB einen eher konstatierenden Charakter, da die Inflationserwartungen im Euro­raum seit dem Frühjahr merklich noch oben revidiert wurden. Bremsend wirken allerdings die um rund drei Prozentpunkte gestiegenen Hypothekenzinsen, die in der Bauwirtschaft zu einer erheblichen Abkühlung geführt haben.

Wie die großen Prognosefehler in diesem Jahr zeigen, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Entwicklung deutlich ungünstiger verläuft. Zu den ökonomischen Risikofaktoren zählen ein sehr kalter Winter und anhaltend rigide Lockdowns in China. Eine Verschärfung der  Situation in der Ukraine könnte sich ebenfalls nachteilig auf das Konsum- und Investitionsverhalten auswirken.

Auf mittlere Sicht kommt es jetzt darauf an, den Standort Deutschland mit seinem ausgeprägten Industriefokus in einem Umfeld hoher Energiepreise und einem steigenden Protektionismus zu verteidigen. Dazu muss die Politik den Ausbau erneuerbarer Energien so schnell wie möglich vorantreiben. Da dies im nationalen Alleingang sehr schwierig sein wird, braucht es jetzt eine gemeinsame europäische Energiestrategie für die Erzeugung von Energie, für Netze und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz.

Zum Autor

Peter Bofinger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg, ist Senior Research Fellow der Hans-Böckler-Stiftung und war von 2004 bis 2019 Mitglied des Sachverständigenrats zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

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