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Magazin Mitbestimmung

Von GUNTRAM DOELFS: Deutsche Fleischindustrie – das Schmuddelkind Europas

Ausgabe 11/2016

Thema Weil das reiche Deutschland beim Sozialdumping weiterhin den Spitzenplatz hält, fordern Gewerkschafter verbindliche EU-Standards. Denn es sind die Arbeiter aus europäischen Nachbarländern, die die Zeche zahlen. Einige berichteten auf einer NGG-Tagung.

Von GUNTRAM DOELFS

Die Verärgerung ist Stéphane Jamet ins Gesicht geschrieben. Als der Gewerkschaftssekretär des französischen Gewerkschaftsbundes „Confédération française démocratique du travail“ (CFDT) ans Rednerpult tritt und über die Auswirkungen des Sozialdumpings in der deutschen Fleischindustrie auf die französischen Kollegen berichtet, fällt es ihm schwer, die Contenance zu wahren. „Das muss endlich aufhören, die Wut in Frankreich über das, was hier passiert, ist groß“, erzählt er – und blickt grimmig in die Runde.

Als Gast einer internationalen Fleischkonferenz der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) im westfälischen Rheda-Wiedenbrück sollen er und weitere ausländische Kollegen an diesem verregneten Oktobertag erzählen, welche verheerenden Auswirkungen die Zustände in deutschen Schlachthöfen auch auf Arbeitnehmer in anderen europäischen Ländern haben.

Osteuropäer zerlegen Schweine im Akkord

Seit Jahren beschäftigen die unsäglichen Arbeitsbedingungen in Deutschlands Fleischindustrie die Öffentlichkeit. Über osteuropäische Subunternehmer schleusen Unternehmen wie Tönnies, Danish Crown oder Vion vor allem osteuropäische Arbeitnehmer in die Schlachthöfe, ausgestattet mit windigen Werkverträgen ohne deutsche Sozialversicherung. Während immer mehr tarifliche Arbeitsplätze abgebaut wurden, zerlegt eine wachsende Zahl von Rumänen, Bulgaren, Ungarn und anderen Ost- und Südosteuropäern Schweine und Rinder im Akkord. Der Konferenzort war dafür passend gewählt, denn nur einen Steinwurf entfernt betreibt Tönnies am Firmensitz im westfälischen Rheda-Wiedenbrück einen der größten Schlachthöfe Europas. Laut NGG zerlegen dort 4500 Mitarbeiter täglich 25 000 Schweine, nur 1500 davon sind noch tariflich gebunden. Der Rest sind Werkvertragsarbeitnehmer.

Bis 2014 waren in vielen Schlachtbetrieben reale Löhne weit unter fünf Euro pro Stunde für Werkvertragsarbeiter keine Seltenheit – bei Arbeitszeiten bis zu 14 Stunden und ohne Krankenversicherung. Der ohnehin geringe Lohn schrumpfte weiter, weil den Arbeitern überteuerte und überfüllte Unterkünfte gleich wieder vom Lohn abgezogen wurden. Seit zwei Jahren gibt es nun einige Verbesserungen. Zunächst gelang es der NGG, einen tariflichen Mindestlohn von 8,60 Euro zu vereinbaren, der zum 1. Dezember auf 8,75 steigt. Ein Jahr später unterzeichneten am 21. September 2015 sechs Unternehmen eine freiwillige Selbstverpflichtung, wonach das Sozialdumping gebannt werden sollte. Die Verpflichtung haben bis Ende September 2016 nach Angaben des Verbandes der Ernährungswirtschaft (VdEW) inzwischen 18 Unternehmen unterschrieben, diese decken – je nach Bereich – 36 bis 65 Prozent der Branche ab.

Nach dieser Selbstverpflichtung versprachen die 18 Unternehmen, die Entsendung von Arbeitnehmern einzustellen und bis zum 30. Juni 2016 auch Subunternehmen dazu zu verpflichten, Arbeitnehmer nur nach deutschem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht zu beschäftigen. Zudem wurden weitere Standards festgelegt, etwa Regeln für eine menschenwürdige Unterkunft. Ende September legte der Verband ein Resümee dieser Selbstverpflichtung vor: Seit Juli würden alle unterzeichnenden Unternehmen Werkvertragsarbeitnehmer nur noch nach deutschem Recht sozialversicherungspflichtig beschäftigen. Das klingt zunächst gut – weswegen VdEW-Hauptgeschäftsführer Michael Andritzky auf der Fleischkonferenz auch erklärte, die „Branche hat ihre Hausaufgaben gemacht“. Die Vorwürfe der NGG seien auf Vorkommnisse der Vergangenheit bezogen, die aktuelle Situation sehe bis auf wenige „schwarze Schafe“ ganz anders aus.

Unanständige Tricks, um Mindestlöhne zu schmälern

Die Lagebeurteilung der NGG wie auch von europäischen Gewerkschaftern ist eine andere. Zwar seien Mindestlohn und Selbstverpflichtung ein Fortschritt, aber diese „reichen nicht aus, es müssen weitere Schritte folgen“, forderte NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger. Aus gutem Grund: Zum einen deckt die Selbstverpflichtung nur die Hälfte der Branche ab, zum anderen drücken Fleischproduzenten mit neuen Tricks die Löhne, wie Dominique John und Szabols Sepsi vom DGB-Projekt „Faire Mobilität“ erzählen. „Mitarbeiter von Schlachthöfen berichten uns häufig, dass ihnen die Arbeitsstunden nicht richtig abgerechnet werden“, sagt Sepsi. Oder es werde die Nutzung von Schlachtermessern in Rechnung gestellt. Auch die Zeit für das Anlegen der Arbeitsbekleidung werde häufig vom Lohn abgezogen, was derzeit die Gerichte beschäftigt. Völlig überzogene Mieten für Unterkünfte gibt es weiterhin. Neun Euro für ein Etagenbett pro Nacht in Mehrbettzimmer seien durchaus üblich. Die Lohndrückerei ist ausgefeilt bis ins Detail. Laut Sepsi erhöhen manche Firmen sogar für jene Tage die Miete, in denen Arbeiter sich „krank melden und nicht arbeiten können“.

Ferner ist der prozentuale Anteil von Werkvertragsarbeitern, die eigentlich ja nur für gelegentliche Produktionsengpässe eingesetzt werden sollen, weiterhin hoch. „Quoten von 50 Prozent und mehr sind in der Branche weiterhin gang und gäbe“, sagt NGG-Vize Claus-Harald Güster und fordert, dass das „Krebsgeschwür“ Werkverträge beseitigt werden müsse. „Werkverträge sind zwar grundsätzlich legal, aber unanständig, wenn das gesamte Kerngeschäft darüber abgewickelt wird.“

Für Harald Wiedenhofer, Generalsekretär des europäischen Branchengewerkschaftsdachverbandes Effat, belegt Deutschland trotz der Verbesserungen der vergangenen zwei Jahre beim Sozialdumping weiter den Spitzenplatz. „Deutschland bleibt das Schmuddelkind Europas.“ Wiedenhofer fordert, auf europäischer Ebene „endlich verbindliche Mindeststandards  gegen Sozialdumping“ einzuführen. Weil es diese bislang nicht gibt, zahlen viele Arbeiter in anderen europäischen Ländern dafür die Zeche.

In Frankreich liegt der gesetzliche Mindestlohn mit 9,67 Euro weit über dem deutschen, erzählt Stéphane Jamet. „Viele Schlachthöfe haben wegen der Billigkonkurrenz aus Deutschland schließen müssen.“ Während in Deutschland die tarifgebundenen Arbeiter in Schlachthöfen durchschnittlich 12 bis 13 Euro erhalten, werden in Italien 23 Euro und Dänemark 25 bis 27 Euro gezahlt. Weil es in Dänemark grundsätzlich nur tarifgebundene Arbeit in den Fleischindustrie gibt, sorgte die deutsche Billigkonkurrenz dort für einen massiven Jobabbau in der Branche.

„Von den 20 000 dänischen Arbeitsplätzen sind 10 000 verloren gegangen“, schildert Jim Jensen, Gewerkschaftssekretär und Vorstand der dänischen Lebensmittelgewerkschaft NNF. In Italien sorgte der deutsche Druck dafür, dass italienische Produzenten nun selbst mit skandalösen Methoden Arbeiter aus dem nordafrikanischen Maghreb beschäftigten. Trotzdem mussten viele Schlachthöfe schließen. Der hohe Margendruck aus dem Norden ließ auch das Akkordtempo in den Betrieben der Lombardei und der Emiglia Romagna so stark steigen, „dass viele Arbeiter über 40 mit wachsenden gesundheitlichen Problemen kämpfen“, berichtet Marco Bermani, Sekretär der italienischen Gewerkschaft FLAI-CGIL.

Von Entwarnung kann also keine Rede sein, weswegen die NGG den Druck auf die Arbeitgeber aufrechterhalten will. Für Claus-Harald Güster werden die im nächsten Jahr anstehenden Neuverhandlungen über den Branchenmindestlohn zeigen, wie ernsthaft die Arbeitgeber an wirklichen Veränderungen in der Branche interessiert sind. „Das wird der Lackmustest“.

Fotos: Ingo Wagner/dpa, Guntram Doelfs, Bernd Thissen/dpa, Guntram Doelfs

WEITERE INFORMATIONEN

Internationale „Fleischkonferenz“ in Rheda-Wiedenbrück der NGG

Beitrag im Magazin Mitbestimmung Ausgabe 04/2014: Werkvertragsnehmer mit im Boot

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