zurück
Martin Bitter, Bevollmächtigter der IG Metall Rendsburg, vor Windkraftanlage von Vestas Magazin Mitbestimmung

Energiewende: Der Wind dreht sich

Ausgabe 06/2024

Windkraft und Elektromobilität sind unverzichtbar für die Klimaneutralität. Bei der Mitbestimmung besteht jedoch Nachholbedarf. Von Sophie Deistler

Hundertdreiundzwanzig Tage – so lange streikten die Beschäftigten von Vestas, bis sie im Juli 2023 endlich einen Tarifabschluss erreichten. Sie streikten zweimal vor der deutschen Niederlassung in Hamburg, auf dem Windgipfel der Bundesregierung, vor der Konzernzentrale im dänischen Aarhus. Allein um die Arbeitgeber an den Verhandlungstisch zu bekommen, gingen die Beschäftigten 70 Tage lang in den Ausstand. Der Streik bei dem Windenergieanlagenbauer war einer der längsten in der Geschichte der IG Metall. Der Tarifabschluss hatte eine Signalwirkung für die ganze Branche. Auch die Beschäftigten des Offshore-Servicedienstleisters Ørsted schlossen im April dieses Jahres, nach einem Jahr der Verhandlungen, einen Tarifvertrag ab.

Die beiden Fälle stehen exemplarisch dafür, wie in Zukunftsindustrien um Tarifbindung und Mitbestimmung gerungen wird. Die Windkraft ist wichtig für die grüne Transformation in Deutschland, die Ausbauziele der gerade zerbrochenen Ampel für Strom aus erneuerbaren Energiequellen waren ambitioniert. Doch obwohl auf den Schultern der Beschäftigten die Zukunft lastet, gibt es großen Nachholbedarf. Nur die Hälfte der Beschäftigten ist bislang tariflich gebunden.

„Früher war das Momentum noch nicht da“, sagt Martin Bitter, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Rendsburg. Er hat die Tarifvertragsverhandlungen bei Vestas geführt. „Erst mit den positiven Zukunftsaussichten durch die Energiewende hat sich die Situation verschoben. Unsere Kolleginnen und Kollegen waren mutiger.“ Geholfen hat auch der Digitalisierungsschub während der Coronapandemie, durch den sich die Belegschaft besser miteinander vernetzen konnte. Gerade bei Serviceunternehmen wie Vestas arbeiten die Beschäftigten in kleinen Gruppen über ganz Deutschland verteilt. Das erschwert es ihnen, sich zu organisieren. Daher musste die Gewerkschaft auch während des Arbeitskampfs kreativ werden: Große Teile der Streiks bei Vestas und Ørsted wurden online organisiert.

Mit Ausdauer zum Tarifvertrag

  • Arbeitende beim Streik beim Windenergieunternehmen Vestas, mit Banner: Wir machen Wind bei Verstas
    123 Tage streikten die Beschäftigten von Vestas für einen Tarifvertrag – mit Erfolg.

Dass sich die Tarifverhandlungen lange hinzogen, lag bei Ørsted hauptsächlich an komplexen Themen und bei Vestas an der mangelnden Bereitschaft zu Verhandlungen. Dass Windkraftunternehmen sich nicht mit Tarifbindung auseinandersetzen wollen, liegt auch an den allgemeinen Problemen der Branche. „Es herrscht ein massiver Preisdruck“, sagt Heiko Messerschmidt, Bezirkssekretär der IG Metall Küste und Branchenbetreuer der Windindustrie. Die begehrten Ausbauflächen gehen bei Ausschreibungen für viele Milliarden Euro an große Energiekonzerne wie BP oder E.ON, die die Kosten für die Bebauung drücken wollen. Das übt Druck auf die deutschen Zulieferer aus, da Unternehmen aus China und Indien mit geringeren Kosten mittlerweile den Markt dominieren und auch technologisch massiv aufgeholt haben. Knapp 70 Prozent der weltweiten Produktionskapazitäten für Windkraftanlagen befinden sich in China; mit Macht und staatlich subventionierten Preisen drängen die Hersteller auf den Weltmarkt.

Wohin das führt, wird man demnächst 90 Kilometer vor der Nordseeinsel Borkum beobachten können. Dort ist der mittlerweile vierte Offshore-Windpark geplant. 16 Windräder mit einem Rotordurchmesser von jeweils 260 Meter werden in den Meeresgrund gerammt – entwickelt und gebaut von dem chinesischen Hersteller Mingyang. Europäische Zulieferer dürfen lediglich ein paar Komponenten beisteuern. Die Entscheidung für die Chinesen fiel nach einer internationalen Ausschreibung. Mingyang hatte, so ist zu hören, das finanziell und technologisch beste Angebot abgegeben.

Immer wieder kommt es daher zu Werksschließungen und Produktionsverlagerung: Seit 2022 werden keine Rotorblätter mehr in Deutschland hergestellt, da der letzte Anbieter, Nordex, sein deutsches Werk geschlossen und nach Indien verlagert hat. Auch der Getriebehersteller Eickhoff Windpower aus dem sächsischen Klipphausen musste im Februar schließen, obwohl sich die Beschäftigten und die IG Metall für den Erhalt eingesetzt hatten. Mittlerweile werden in Deutschland keine kompletten Windräder mehr hergestellt.

So war das auch bei Ørsted: „Wir waren schon in Verhandlungen, als Ørsted Ende 2023 in eine Krise rutschte und einen großen Teil des Amerikageschäfts aufgeben musste“, erzählt Henrik Köller, der für die IG Metall Emden den Tarifvertrag für Ørsted mitverhandelt hat. Zwar war der Standort in Norddeich von der notwendigen Restrukturierung kaum betroffen, aber der Konzern wurde in der Verhandlung erst mal vorsichtig. Kurz vor der Urabstimmung zum unbefristeten Streik konnten sie den Tarifvertrag doch noch abschließen. „Es ist ein gutes Tarifwerk geworden, aber trotzdem sind Themen wie die Altersteilzeitregelung offen geblieben“, sagt Köller. Dabei wäre diese Regelung wichtig, da die Arbeitnehmer in großer Höhe und bei Hitze und Kälte körperlich schwer arbeiten. Nicht alle halten das bis zur Pensionierung durch und müssen dann mit Rentenkürzungen rechnen. Vestas konnte eine Altersteilzeitregelung verhandeln.

Es gibt also in der Windbranche noch einiges für die IG Metall zu tun. So hat die Gewerkschaft im Mai dieses Jahres erst ein Rettungskonzept für Offshore-Windanlagen vorgelegt, um die Arbeitssicherheit zu erhöhen. Es soll ermöglichen, dass selbst bei weit entfernten Windanlagen innerhalb von 50 Minuten ein Notarzt vor Ort ist.

Auch bei Vestas wird weitergekämpft: Für Martin Bitter stehen nun die Verhandlungen für den Anschlusstarifvertrag an, da Ende des Jahres die Entgeltvereinbarung abläuft. „Dieses Mal wird die Arbeitgeberin gleich mit uns verhandeln, weil sie uns nun als Verhandlungspartner akzeptiert hat“, sagt er. Für die neue Runde hat die IG Metall Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld ins Auge gefasst. „Wenn keine Verhandlungslösung möglich ist, sind wir vorbereitet. Wir hatten ja genug Zeit, zu üben, wie man einen Konflikt führt.“

Mut zum Experiment

  • Gruppenbild: Der Betriebsrat von Enercity und sein Vorsitzender Martin Bühre (zweiter von links)
    Der Betriebsrat von Enercity und sein Vorsitzender Martin Bühre (zweiter von links) wagten mit dem Unternehmen im Unternehmen ein Experiment.

Wenn Großkonzerne in neue Geschäftszweige dringen, gibt es oft einen Reflex: Ausgründen. Bloß keine Experimente, die der Muttergesellschaft schaden könnten. Was aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht sinnvoll erscheinen mag, ist für die Mitbestimmung schlecht. Sobald der Geschäftszweig als eigenständiges Unternehmen agiert, hat der Betriebsrat keinen Zugriff mehr. Auch Tarifvereinbarungen gelten nicht mehr.

Der Energiekonzern Enercity aus Hannover hat sich mit dem neuen Geschäftszweig Elektromobilität jedoch bewusst für einen anderen Weg entschieden – und für ein Experiment. „E-Mob“ versorgt Privatkunden, Geschäftskunden und öffentliche Plätze mit Ladeinfrastruktur für E-Autos und ist weder eine Ausgründung noch eine Tochter noch eine bloße Abteilung. Es ist ein „Unternehmen im Unternehmen“, das eine eigene Geschäftsführung und mehr Handlungsvollmachten hat als andere Abteilungen.

Alles begann mit einer Wette auf die Zukunft, wie der Betriebsratsvorsitzende Martin Bühre erzählt. Schon im Jahr 2010 baute eine Tochtergesellschaft von Enercity erste Ladestationen. 2017 gründete Enercity dann die Abteilung Elektromobilität. Der neue Geschäftszweig wuchs schnell, sodass sich der Konzern bald die Frage stellte: Ausgründen oder hierbehalten? Da vorherige Ausgründungen teilweise erfolglos blieben, entschied sich Enercity für das Experiment E-Mob.

Ob ein Unternehmen im Unternehmen funktionieren kann, soll ein von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt herausfinden. Claudia Niewerth vom Helex Institut leitet das Projekt: „Das Experiment ist bisher erfolgreich“, erklärt sie, „alle sind sehr zufrieden mit der Entscheidung, E-Mob im Unternehmen zu belassen.“ Auch die Zahlen sprechen für sich: Inzwischen hat E-Mob 80 Beschäftigte und betreibt bundesweit mehr als 6700 Ladepunkte, davon 1200 öffentlich zugänglich.

Laut Niewerth sehen alle Beteiligten – die Beschäftigten und Verantwortlichen von E-Mob, der Betriebsrat und die Unternehmensführung von Enercity – dieselben Vorteile. Enercity bleibt als Marke sichtbar. Bei einer Ausgründung dagegen etablieren sich neue Marken, bei denen die Verbindung zum ursprünglichen Konzern nicht mehr sichtbar ist. „Wenn alles ausgegründet wird, hat der Konzern keine Identität mehr, sondern ist nur noch eine Holding, und das kann nicht das Ziel sein“, bestätigt auch der Betriebsratsvorsitzende Martin Bühre.

Außerdem sei es der Wunsch aller gewesen, den Innovationsgeist von E-Mob auch auf den Konzern als Ganzes zu übertragen. Beide können voneinander lernen, wie Claudia Niewerth betont: „Enercity kann von E-Mob lernen, wie sich Innovation in Geschäft umwandeln lässt, während E-Mob von der Erfahrung des Konzerns mit Standardprozessen profitiert.“ Außerdem gelten alle Tarifvereinbarungen für die Beschäftigten, sodass sie Sicherheit haben.

Doch gibt es auch Reibungspunkte. „Es gibt einen ständigen Schmerz bei E-Mob über Konflikte, die nicht so leicht zu lösen sind“, sagt Bühre. So setzt der Konzern auf rein elektrisch angetriebene Dienstwagen. Die Beschäftigten von E-Mob sind jedoch häufig in Gegenden ohne Ladeinfrastruktur unterwegs, da sie diese erst aufbauen. Hybridfahrzeuge würden daher mehr Sinn ergeben. Um die selbst anzuschaffen, fehlt E-Mob jedoch die Handlungsbefugnis.

So dauern Entscheidungen zwar mitunter länger als bei einem „richtigen“ Start-up, doch der Betriebsratsvorsitzende sieht trotzdem überwiegend Vorteile. Auch wenn es mitunter noch hakelt, „hält uns die Diskussion wach und hilft dabei, bisheriges Handeln auf den Prüfstand zu stellen“. Ob das Modell E-Mob als Blaupause für andere Unternehmen taugt? Forscherin Niewerth ist skeptisch. „Das Vorgehen ist sehr voraussetzungsvoll“, resümiert sie. „Funktionieren kann das Ganze nur bei einer vertrauensvollen Mitbestimmungskultur, die auch Streit aushält.“


 

„Die nächste Regierung muss dringend handeln“

  • Porträt Daniel Hay, Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung.
    Daniel Hay, Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung.

I.M.U.-Direktor Daniel Hay über aktuelle Herausforderungen für die Unternehmensmitbestimmung

Wir sehen in einigen Unternehmen, dass innovative Geschäftsbereiche ausgelagert werden. Wie lässt sich verhindern, dass sich ein solcher Schritt negativ auf die Mitbestimmung auswirkt?

Wenn die Gründung neuer Gesellschaften genutzt wird, um Tarifbindung oder die betriebliche Mitbestimmung zu erschweren, spricht das nicht für die Zukunftsfähigkeit des neuen Geschäfts. Im Bereich der Unternehmensmitbestimmung haben wir grundsätzlich für Kapitalgesellschaften mit mehr als 2000 Beschäftigten eine sogenannte Konzernzurechnung. Das macht eine Mitbestimmung im Aufsichtsrat auf der obersten Konzernebene möglich. Für Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten gilt das bisher leider nicht; diese anhaltende Lücke im Drittelbeteiligungsgesetz wollte die Ampelkoalition eigentlich schließen.

Welche Auswirkungen hat das Aus der Ampelregierung auf die Mitbestimmung?

Neben der Schließung der Drittelbeteiligungslücke vereinbarte die Ampelregierung 2021 auch die Verhinderung der missbräuchlichen Nutzung des „Einfriereffekts“ bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Dass es diese beiden Aspekte des Mitbestimmungsschutzes auf die Agenda der Bundesregierung geschafft hatten, ist ein Beleg dafür, dass die gesetzlichen Lücken in der Unternehmensmitbestimmung dringend geschlossen werden müssen. Andernfalls setzen wir eine Errungenschaft deutscher Wirtschaftsdemokratie weiter aufs Spiel. Es ist fraglich, ob die nun verbleibende Minderheitsregierung insbesondere die Schließung der Mitbestimmungslücken bei der SE noch in den Bundestag einbringen wird.

Was muss eine zukünftige Regierung tun, um die Mitbestimmung zu stärken?

Durch die jüngere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat sich die Bedrohung durch Mitbestimmungsvermeidung zusätzlich verschärft. So wie der EuGH kürzlich im Fall des Kamera- und Medizintechnikherstellers Olympus urteilte, ist nämlich nicht nur die Flucht vor der Mitbestimmung über rechtliche Tricks (insbesondere den Einfriereffekt bei der SE) möglich. Nun scheint auch die Flucht aus der Mitbestimmung legal, was uns in Alarmbereitschaft versetzen sollte. Die nächste Bundesregierung muss hier dringend handeln, wenn sie die Mitbestimmung als entscheidendes Element einer erfolgreichen sozialen Marktwirtschaft und Stütze der parlamentarischen Demokratie in Deutschland halten will.


DANIEL HAY ist Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen