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Porträt von Prof. Isabell Hensel, Uni Kassel, vor Bücherregal stehend Magazin Mitbestimmung

Diskriminierung: „Der Wert weiblicher Arbeit wird endlich geschätzt werden“

Ausgabe 06/2024

Juristin Isabell Hensel über die niedrigeren Löhne von Frauen und die neue EU-Entgelttransparenzrichtlinie. Die Fragen stellten Fabienne Melzer und Amélie Sutterer-Kipping, Referatsleiterin am Hugo Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung

Es gibt in Deutschland seit 2017 ein Entgelttransparenzgesetz. Warum brauchen wir dann noch die Umsetzung der Entgelttransparenzrichtlinie der EU?

Das nationale Recht hat die Entgeltdiskriminierung nicht beseitigt. Das deutsche Gesetz gilt seit 2017. Trotzdem verdienen Frauen im Schnitt 18 Prozent weniger als Männer; der Wert ist seit 2017 nahezu unverändert. Die Wissenschaft sieht als Hauptursachen die mangelnde Transparenz der Entgeltsysteme, mangelnde Rechtssicherheit in der Frage, was gleichwertige Arbeit ist, und Verfahrenshindernisse für Diskriminierte. Das sind hohe Hürden, um einen individuellen Anspruch auf gleiche Bezahlung durchzusetzen. Jetzt kommt auch Druck aus Europa. Die neue Richtlinie zielt auf mehr Transparenz und eine bessere Durchsetzung.

Was bringt die Richtlinie Neues?

Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten – und ab 2031 mit mehr als 100 Beschäftigten – sind verpflichtet, von sich aus geschlechtsspezifische Verzerrungen und Diskriminierungen in ihren Vergütungsstrukturen aufzudecken, die Gründe zu analysieren und zu beseitigen. Durch verbindliche Berichts- und Prüfpflichten liegt die Last der Geltendmachung nicht mehr bei den einzelnen Betroffenen. Vielmehr muss offengelegt werden, ob gleiche und gleichwertige Arbeit diskriminierungsfrei und objektiv bewertet wird. Bei Lücken über fünf Prozent muss eine gemeinsame Entgeltbewertung stattfinden zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, bei Tarifbindung mit den Tarifvertragsparteien.

Was bedeutet diskriminierungsfreie und objektive Arbeitsbewertung?

Im Kern geht es darum, dass Tätigkeiten, die als typisch weiblich gelten, nicht systematisch niedriger bewertet werden, was Kompetenz, Belastungen, Verantwortung und Arbeitsbedingungen angeht. Soziale Kompetenzen dürfen, bezogen auf den Wert der Arbeit, nicht schlechter eingestuft werden als beispielsweise technische Methoden der analytischen Arbeitsbewertung, wie sie derzeit etwa auf der Website eg-check.de angeboten werden, erleichtern die Überprüfung der Bewertung von Tätigkeiten in Entgeltsystemen – auch in Tarifverträgen.

Wie soll das Recht effektiver durchgesetzt werden?

Eine externe Überwachungsstelle soll künftig kontrollieren, ob Berichtspflichten tatsächlich eingehalten und Abhilfe geschaffen wurde. Wirksame, verhältnismäßige und „tatsächlich abschreckende“ Sanktionen wie Geldbußen, aber auch vergaberechtliche Konsequenzen sollen die Durchsetzung stützen. Daneben wird den Betriebs- und Personalräten eine wichtige Kontrollfunktion zukommen. Auch für den individuellen Auskunftsanspruch schafft die Richtlinie Erleichterung. Die Unternehmen müssen jährlich über diese Rechte informieren, und auch die Verfahren müssen effizienter werden. Dazu sieht die Richtlinie vereinfachte Beweisregeln vor. Betroffene Beschäftigte sollen sich zur Beratung und Unterstützung an Betriebs- und Personalräte sowie an Gleichbehandlungsstellen wenden können.

Wie hoch schätzen Sie den Aufwand für die Unternehmen?

Die Berichts-, Analyse- und Abhilfeverfahren werden durchaus Aufwand erfordern. Die Erfüllung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Entgeltgleichheit ist aber alles andere als Bürokratiezuwachs, was Gegner der Richtlinie gerne ins Feld führen, sondern dringend notwendig. Der bei allen Gleichstellungsmaßnahmen prognostizierte wirtschaftliche Zusammenbruch wird auch diesmal ausbleiben. Im Gegenteil, die Unternehmen werden sich im Wettlauf um Fachkräfte profilieren und weibliche Arbeitskraft gewinnen können, indem sie den Wert weiblicher Arbeit endlich schätzen lernen. Andere Länder zeigen bereits, wie es geht.

Welche technischen Hilfsmittel können Unternehmen nutzen?

Digitale Werkzeuge können die Unternehmen unterstützen. Sie können verlässlich, ressourcensparend, transparent und auch rechtssicher die Berechnung übernehmen. Innerbetriebliche Abstimmungsprozesse und die Berichtspflichten lassen sich so mit geringem Aufwand realisieren. Voraussetzung ist natürlich, dass die Tools nicht diskriminieren und den rechtlichen Anforderungen der Richtlinie insbesondere hinsichtlich der Arbeitsbewertung genügen. Bestehende Instrumente müssen dazu überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Zudem ist der Staat durch die Richtlinie ausdrücklich aufgefordert, solche Tools zur Verfügung zu stellen.

Welche Rolle spielen Betriebs- und Personalräte?

Auskünfte können über die Betriebs- und Personalräte geltend gemacht werden. Im Rahmen der Berichtspflichten werden sie zentrale Informations- und Überwachungsrechte haben. Die Unternehmen müssen ihnen gegenüber die Methoden der Datenermittlung sowie alle Berichtsdaten offenlegen. Die Räte können dazu auch zusätzliche Klarstellung und Erläuterungen verlangen und üben in jeder Phase eine Kontroll- und Unterstützungsfunktion aus.

Wie können sie sich vorbereiten?

Betriebs- und Personalräte sollten ihre Kompetenzen weiterentwickeln, was die Methoden diskriminierungsfreier Arbeitsbewertung betrifft. Der Staat ist nach der Richtlinie verpflichtet, Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten und betreffenden Arbeitnehmervertretungen Unterstützung in Form von technischer Hilfe und Schulungen anzubieten, um die Pflichten aus der Richtlinie erfüllen zu können. Vor allem die staatliche Zertifizierung von digitalen Analysetools als diskriminierungsfrei könnte die Arbeit erleichtern. Hilfreich wird auch die Anwendung Zert:Equal sein, die gerade entwickelt wird. Sie macht die berichteten Daten genau wie die Berechnung der Entgeltdaten überprüfbar und transparent. Betriebs- und Personalräte sollten die bereits bestehenden Beteiligungsrechte ausschöpfen.

Welche Rolle können Aufsichtsräte spielen?

Auch Aufsichtsräte sollten auf die Einhaltung der neuen rechtlichen Anforderungen hinwirken. Da sie vor allem unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten urteilen, sollten sie finanzielle Risiken der Nichtberücksichtigung wie negative Sanktionen im Blick behalten. Zu diesem Zweck könnten sie etwa bei der Auswahl der passenden Analysetools beraten oder sich die Auswahl begründen lassen. Sie haben die Möglichkeit, auf die frühe Vorbereitung und den Aufbau der nötigen Strukturen hinzuwirken und die Vorstände entsprechend aufzufordern, ihren Pflichten nachzukommen.

Das Entgelt regeln Tarifverträge. Was bedeutet die Richtlinie für die Gewerkschaften?

Wenn deutlich wird, dass Entgeltlücken auf tarifvertragliche Regelungen zurückzuführen sind, müssen die Gewerkschaften in die Verfahren der gemeinsamen Entgeltbewertung und Abhilfe einbezogen werden. Der Tarifvorbehalt und die Tarifautonomie bleiben dabei unangetastet. Grundsätzlich eröffnet die Richtlinie den Gewerkschaften Gestaltungschancen und gibt ihnen Verhandlungsmacht, um das Recht auf gleiches Entgelt bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durchzusetzen. Sie sollten auf die Umsetzung der Richtlinie drängen, um diskriminierungsfreie Tarifverträge als Standards zu etablieren.

Was ist die Frist für die Umsetzung?

Deutschland muss die Richtlinie bis Juni 2026 in nationales Recht umsetzen. Es ist im Interesse aller, dass schnell eine klare Rechtslage geschaffen wird. Setzt Deutschland die Richtlinie nicht um, drohen nicht nur Vertragsverletzungsverfahren und -strafen, sondern auch Staatshaftungsrisiken und sogar individuelle Klagen. Denn die Richtlinie wird im öffentlichen Dienst teilweise direkt anwendbar sein, da sie in großen Teilen auch
ohne nationale Umsetzung hinreichend bestimmt ist.


ISABELL HENSEL – Die Juristin ist Professorin für bürgerliches Recht und Arbeitsrecht in der digitalen Gesellschaft an der Universität Kassel. Ihr Gutachten für das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI) zum Thema „Entgelttransparenzrichtlinie: Potenziale und Herausforderungen für die Interessenvertretung“ wird Mitte 2025 erscheinen.

Mehr zum Thema:

eg-check

Der Entgeltgleichheits-Check (eg-check.de) der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, der vor einigen Jahren mit Förderung der Hans-Böckler-Stiftung entwickelt wurde, steht schon zur Verfügung und wird derzeit an die Anforderungen der Richtlinie angepasst.

Zert:Equal

Die INES Analytics, ein Spin-off aus dem Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES Berlin), arbeitet an einer Webanwendung zur Überprüfung der von Unternehmen berichteten Ergebnisse zur Entgeltgleichheit.

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