Quelle: Thomas Range
Magazin MitbestimmungAltstipendiat: Der Theaterreisende
Fabian Lettow inszeniert moderne Bühnenstücke. Sie zeigen, was auf der Welt passiert – poetisch und politisch. Von Andreas Schulte
Kein Publikum, kein Theater. Aus dieser ernüchternden Formel der Coronazeit hat Fabian Lettow das für ihn Beste gemacht. Der heute 45-jährige Theatermacher siedelte mit seiner Frau für die Zeit der Krise aus dem
Ruhrgebiet nach Athen um. Kein Urlaub, sondern intensive Recherchereise und Vorbereitung für die Zeit nach Corona. „Wir wollten dorthin, wo das Theater erfunden wurde“, sagt er. „Wir haben uns an den antiken Spielstätten in die Kunst der Versammlung vertieft und dazu einen Film gedreht.“ Das Leben und die Arbeit in Griechenland haben mittlerweile Eingang in das Werk Lettows gefunden. Anfang November wurde „Thesmophoria“ in Berlin und in Mülheim an der Ruhr aufgeführt.
Die üppige Performance zeichnet ein religiöses Fest aus dem antiken Griechenland nach und überträgt es in die Gegenwart. Lettows Theatergruppe, das Kainkollektiv, lädt das Publikum dazu ein, bei dieser „Kunst der Versammlung“ aktiv mitzuwirken. 30 Stunden verbringen Schauspieler und Publikum gemeinsam im Theater mit Film, Musik und Tanz – inklusive Mahlzeiten an der großen Festtafel. „Es geht darum, Räume für Begegnungen von unterschiedlichen Menschen, Gedanken, Bildern, Klängen, Körpern zu erzeugen“, sagt Lettow.
Die genaue Vorstellung von seiner Arbeit ist lange gereift. In die Theaterszene rutscht Lettow früh und ohne familiäre Prägung hinein. „Ich habe schon als Schüler Theater geguckt“, erinnert er sich. Er engagiert sich bei der sozialistischen Jugendorganisation, den Falken. Nach dem Abitur studiert er Theaterwissenschaften, Geschichte und Germanistik in Bochum und im englischen Coventry. Die Hans-Böckler-Stiftung unterstützt ihn einige Jahre lang. Er wird Stipendiaten-Gruppensprecher. „Als Theatermann war ich dort ein Exot. Ich bin nie in eine Gewerkschaft eingetreten. Aber die Argumentationen und Dialoge in der Stiftung habe ich in guter und produktiver Erinnerung.“
Auch beruflich strebt Lettow nach Eigenständigkeit. Einigen Jahren als Dramaturg am Schlosstheater in Moers folgt im Jahr 2009 mit seiner Frau Mirjam Schmuck die Gründung des Kainkollektivs. Rund 60 Premieren haben die beiden bislang auf internationale Bühnen gebracht. Dabei unterstützt sie ein loser Verband von bis zu 30 Schauspielerinnen, Schauspielern, Helferinnen und Helfern.
Lettow spricht stets mit lauter und kräftiger Stimme, fast als würde er als Schauspieler auf der Bühne stehen. Fragen beantwortet er fast immer ausführlich und mit Bedacht. Nach dem Ziel seiner Arbeit gefragt, zögert er: „Ich will auf poetische Weise sichtbar machen, was auf der Welt passiert.“ Noch während des Studiums wollte er zeitweilig Journalist werden. Diesen Beruf hat er kurzerhand in die Theaterwelt integriert. „Ich übersetze den Job des Reporters künstlerisch.“
Fast alle seine Inszenierungen sind politisch. In Kamerun führte das Kainkollektiv ein Stück über die dortige Kolonialgeschichte auf, in Polen ging es um den Verfall europäischer Städte. Die Internationalität seiner Spielstätten und seines Ensembles ist im wichtig. „Ohne verschiedene Perspektiven, Sprachen und Kulturen lässt sich unsere komplexe Gegenwart nicht beschreiben“, sagt er.
Die Ruhrgebietsstadt Bochum, wo der Theatermacher mit seiner Familie lebt, ist daher nur eine Heimat. Eine andere findet Lettow unterwegs. Das Kainkollektiv ist oft auf Reisen. „Dabei entstehen viele Stücke in einer Art kollektivem und globalem Road Theatre“, erklärt er. Ein klassisches Drehbuch aus der Feder eines Autors liegt den Produktionen nur ansatzweise zugrunde. Dialoge entwickelt Lettow stattdessen im Gespräch mit den Schauspielern. Sie bringen so ihre eigenen Gedanken und Interpretationen auf die Bühne. Lettow will ihnen möglichst wenig vorschreiben. „Schreiben kommt aus Gesprochenem“, sagt er. „Ich bin ein Mensch des gesprochenen Worts.“