Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Der Spezialist fürs Doku-Drama
FILM Raymond Ley hat sich als Regisseur für zeitgeschichtliche Themen einen Namen gemacht. Seine Karriere begann mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung.
Von ANDREAS MOLITOR. Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.
Vielleicht haben sie es ja geschafft. Aufs Dach ihres kleinen Häuschens haben sich Gerda Brandt und ihre Familie vor den anstürmenden Wassermassen geflüchtet in dieser eiskalten regendurchpeitschten Nacht. Dort kauern sie und warten auf Rettung. Auf ein Boot. Einen Hubschrauber. Auf irgendwas. Da hören sie plötzlich Hilfeschreie aus dem Haus gegenüber, in dem das Wasser schon fast bis unter das Dach steht.
Die Tante ist also doch zu Hause, das Wasser hat sie im Schlaf überrascht. "Du musst sie holen!", hört man jemanden gegen den Sturm anbrüllen. Doch die Männer wenden sich einer nach dem anderen ab. Der Nachbar schreit ein Vaterunser in den tosenden Wind. "Er hat gebetet, bis sie tot war", hört man Gerda Brandt sagen, "bis ihr das Wasser in den Hals gelaufen ist." Dann ist nur noch der Regen zu hören und das Gurgeln der Wassermassen.
Diese Filmszene ist so intensiv, fast unerträglich, dass jetzt ein Schnitt kommen muss. Der kommt dann auch. Man sieht Gerda Brandt, die richtige Gerda Brandt, die vor 45 Jahren jene Flutnacht überlebte, im Interview. Sie sagt, was ihr durch den Kopf ging, auf dem Dach, während ein paar Meter entfernt ihre Tante ertrank. Es ist nur ein einziger Satz: "Wir haben eigentlich alle darauf gewartet, dass sie endlich ruhig ist."
"An der Stelle hat die Cutterin geschluckt und gefragt, ob das denn sein muss", erinnert sich Raymond Ley, der Regisseur des Films, "ob wir diesen Satz wirklich noch draufsetzen müssen." "Ja, das muss da rein", entschied Ley. "So ist es gewesen, so hat Frau Brandt in diesem Moment gefühlt, also zeigen wir es auch so."
ARTE GEGEN RTL_ Vor knapp drei Jahren hat Raymond Ley die Geschehnisse jener Hamburger Flutnacht vom 17. auf den 18. Februar 1962, bei der 315 Menschen ums Leben kamen, in Szene gesetzt. "Die Nacht der großen Flut" heißt sein Film über die Katastrophe, der zuerst bei ARTE und dann in der ARD gesendet wurde. Ley erinnert sich noch, wie er am Morgen der Erstausstrahlung mit flauem Gefühl im Magen zum Kiosk ging, um die Zeitungen mit den Rezensionen zu kaufen.
"Das war einfach unglaublich", erinnert er sich. "Die haben den Film mit Lob ja geradezu überschüttet." "So eindrucksvoll, spannend, lehrreich und zugleich hoch emotional wurden die Hamburger Schicksalstage noch nie dokumentiert", hieß es. Als Erster habe Ley "den Überlebenden von damals Stimme und Gesicht verliehen anstatt ein fiktives Liebesmärchen im haushohen Brackwasser hinzuzudichten". 2006 wurde der Film mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.
Das "fiktive Liebesmärchen" ist zweifellos eine Anspielung auf die konkurrierende RTL-Produktion "Die Sturmflut", ein Zweiteiler mit großem Staraufgebot, fast zur gleichen Zeit gedreht und gesendet wie Leys Film. Die Filme werden oft verwechselt - obwohl sie außer dem Thema "Sturmflut in Hamburg" kaum etwas gemein haben.
Raymond Ley hat die Flutnacht als Doku-Drama inszeniert; er mischt Dokumentation und Fiktion, schneidet Spielfilmsequenzen gegen Zeitzeugen-Interviews und Archivmaterial und bewegt sich dabei jederzeit ganz nah an den tatsächlichen Geschehnissen. Die sind für RTL lediglich Spielmaterial für den Plot einer perfekt gedrechselten Story über Liebe in Zeiten reißender Fluten. Bei Ley stehen die Menschen im Mittelpunkt, bei RTL menschelt es bloß.
Die Interviews mit den Zeitzeugen bilden das Gerüst von Raymond Leys Doku-Dramen. Mit der Kraft dieser Interviews steht und fällt die Qualität seiner Filme. Im Flut-Film zeigt Ley vor allem die Bewohner der Behelfsheimsiedlung im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, die nach dem Deichbruch komplett überflutet wurde. Einfache, geradlinige Menschen wie der Werftarbeiter Horst Sahm, der in dieser Nacht Frau und Kinder verlor und die Erinnerung daran mehr als vier Jahrzehnte mit sich herumtrug, bevor er darüber reden konnte.
Durch die Interview-Szenen bekommen Leys Filme eine Eindringlichkeit, Authentizität und auch Emotionalität, die eine Prunk-Produktion wie die RTL-"Sturmflut" nie erreicht - obwohl ihre Macher fast viermal so viel Geld ausgeben und jede Menge brackiges Wasser durch die Hamburger Straßen gurgeln lassen konnten. "Wir mussten um jeden Liter Wasser kämpfen", schildert Ley das Diktat des knappen Budgets, "es war ein ständiger Kampf mit der Produktion."
HILFE VON DER ÖTV_ Vielleicht wäre dieser Film nie gedreht worden, hätte nicht ein hilfsbereiter ÖTV-Kreisgeschäftsführer vor fast dreißig Jahren für Raymond Ley zur rechten Zeit einen Antrag ausgefüllt. Ley hatte damals eine Ausbildung bei der Stadtverwaltung Kassel absolviert und agitierte eifrig die neuen Auszubildenden für die ÖTV. Dann erzählte er seinem Vater von dem Wunsch, doch noch zu studieren, und zwar Film und Fernsehen an der Kunsthochschule.
"Von mir kriegst du keine 600 Mark im Monat, das schaffen wir bei meinem Lohn nicht", sagte der Vater, der als Arbeiter im Kasseler Volkswagen-Werk malochte. Irgendwo hatte Raymond Ley gehört, dass die Hans-Böckler-Stiftung Stipendien für Arbeiterkinder vergibt, also für Leute wie ihn. Der ÖTV-Kreisgeschäftsführer füllte das Formular aus, Ley wurde angenommen und konnte studieren. Leicht belustigt erinnert er sich an die ideologiedurchtränkte Politlastigkeit jener Jahre.
"Auch gegenüber der Stiftung musste man sich regelmäßig rechtfertigen, ob man mit seinem politischen Bewusstsein auch auf der richtigen Seite steht. Und der Chile-Solibeitrag war natürlich Pflicht." Nach dem Studium begann Raymond Ley als freier Fernsehautor zu arbeiten - und entdeckte die Form des Doku-Dramas für sich. "Einerseits liegt mir das journalistische Herangehen an Themen, ich arbeite aber auch gern im Bereich der Inszenierung", sagt der 49-Jährige, der heute in Berlin lebt.
Sein erstes großes Doku-Drama schmiedete er vor vier Jahren aus der CDU-Spendenaffäre der Jahre 1999/2000. Angesichts eines Budgets von nur 350.000 Euro für die Spielfilmszenen ein hochkomplexer, fast unverfilmbarer Stoff. "Aus Liebe zu Deutschland", ein politisches Sittengemälde vom Geben und Nehmen, wurde gelobt, aber auch heftig kritisiert. ARTE sendete den Film, die ARD lehnte ab.
INTERVIEWS MIT 120 ZEITZEUGEN_ Grundlage des Ley'schen Doku-Dramas ist die aufwändige und oft erschöpfende Recherche. Für "Die Nacht der großen Flut" etwa führte er meist mehrstündige Interviews mit etwa 120 Zeitzeugen. Die mussten, etwa über Zeitungsannoncen, mehr als vierzig Jahre nach der Katastrophe erst einmal gefunden werden. "Wir haben uns ein Vierteljahr auf den Wohnzimmersofas in den Hamburger Vorstädten rumgedrückt", erzählt Ley.
In den damals überfluteten Gebieten ging er sozusagen von Haustür zu Haustür - um letztlich die Essenz jener seelischen Verwüstungen, in die das Hochwasser die Menschen gestürzt hat, in eine Spielfilmhandlung umzusetzen. Von 60 für den Flut-Film gedrehten Interviews zeigt der Film letztlich Ausschnitte von zehn. Bei Leys aktuellen Projekten - ein Doku-Drama über die ICE-Katastrophe von Eschede und eins über jüdische Kinder, die das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebten und dann in Israel wenig willkommen waren - wird es ähnlich sein.
"So ein Film lässt nur eine gewisse Anzahl von Erzählgeschichten zu", begründet Ley. "Da fallen leider ganze Geschichten und Schicksale raus. Ich muss das machen, auch wenn ich weiß, wie viel Kraft es diese Leute gekostet hat, überhaupt darüber zu reden." Und - war tatsächlich alles genau so wie es im Film gezeigt wird? Leys Anspruch ist hoch, aber sein Maßstab ist nicht die historische Genauigkeit bis ins letzte Detail. "Was die Spielszenen zeigen, kann nur annähernd so gewesen sein."
Wie weit er mit dem Flut-Film bei dieser Annäherung gekommen ist, hat Ley in einer Vorführung ausschließlich für die Zeitzeugen getestet, noch bevor der Film im Fernsehen ausgestrahlt wurde. "Natürlich hatte ich Angst vor den Reaktionen", sagt der Regisseur, "man ist sich ja nie restlos sicher, ob der Film nicht zu dramatisch geworden ist, ob er möglicherweise Gefühle verletzt hat, ob wir überhaupt auffangen konnten, was diese Menschen uns erzählt haben."
Auch ein Mann, der seine Frau und zwei Kinder verloren hatte, saß mit seinem nach der Katastrophe geborenen Sohn im Kino. Während der Vorführung drehte sich der Sohn zu Ley um und sagte leise: "Jetzt verstehe ich endlich, warum mein Vater manchmal vor Trauer im Alkohol versinkt und zu Weihnachten nie zu gebrauchen ist."