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Magazin MitbestimmungInterview: „Der Sozialstaat ist der große Gewinner“
Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker erklärt, warum sich Deutschland stärker für Zuwanderung öffnen sollte. Das Gespräch führten Margarete Hasel und Joachim F. Tornau
Herr Brücker, seit zwei Jahren verzeichnet Deutschland einen positiven Saldo bei der Zuwanderung. Im vergangenen Jahr sind rund 370 000 Menschen mehr eingewandert als ausgereist. Ist Deutschland für Migranten attraktiver geworden?
Die Attraktivität ist relativ. Vor der Eurokrise waren die klassischen Wanderungsmagneten in Europa zuallererst Spanien, dann Italien und mit großem Abstand Großbritannien und Irland. Mit Ausnahme von Großbritannien haben sich in diesen Ländern die Einwanderungsbedingungen dramatisch verschlechtert; die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Das hat dazu geführt, dass sich Migranten heute andere Ziele suchen. Das wichtigste Zielland in der EU ist jetzt Deutschland. Aber nicht weil es so brillant dasteht. Sondern weil die Lage in den anderen Ländern noch schlechter ist.
Kommen deshalb jetzt alle Menschen, die früher bevorzugt in die klassischen europäischen Einwanderungsländer gezogen wären, nach Deutschland?
Wir registrieren eine starke Zuwanderung aus den acht mittel- und osteuropäischen EU-Ländern, deren Staatsangehörige seit 2011 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Deutschland haben, sowie aus Bulgarien und Rumänien. Doch nur etwa zehn Prozent dieses Anstiegs sind auf die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit selbst zurückzuführen, gut 70 Prozent dagegen auf die geschilderte Umlenkung der Migrationsströme. Trotzdem nimmt Deutschland insgesamt immer noch weniger Einwanderer auf als die anderen Zielländer früher: In Spanien und Italien leben beispielsweise allein zwei Millionen Bulgaren und Rumänen.
Sie weisen in Ihren Studien immer wieder darauf hin, dass das Qualifikationsniveau der Einwanderer gestiegen ist. Werden die Menschen mobiler, je qualifizierter sie sind?
Von den Neuzuwanderern im erwerbsfähigen Alter, die nicht in Bildung oder Ausbildung sind, hat heute zwar jeder Vierte immer noch keine abgeschlossene Berufsausbildung. 44 Prozent aber sind Hochschulabsolventen. Wir beobachten das weltweit: In den letzten zehn Jahren hatte ein Hochschulabsolvent global eine viermal höhere Wahrscheinlichkeit, zu wandern, als jemand ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Hinzu kommt in der EU, dass sich durch den Bologna-Prozess die Mobilität von Studierenden massiv erhöht hat. Etwa ein Viertel unserer Zuwanderer sind Studenten – gegenüber zehn Prozent in der Dekade davor. Das ist ein Indiz dafür, dass bei jungen Akademikern die Wanderungsbereitschaft sehr hoch ist. Übrigens auch von jungen Deutschen, die ins Ausland gehen. Historisch war das in Deutschland ganz anders. Bei der Gastarbeiteranwerbung haben wir gezielt Menschen vom unteren Ende des Qualifikationsspektrums angesprochen – mit dem Ergebnis, dass die Migrationsbevölkerung in Deutschland sehr viel geringer qualifiziert ist als im Durchschnitt der OECD Staaten. Diese Struktur hat sich durch den Familiennachzug verfestigt.
Nun sind mit Zuwanderung nach wie vor viele Befürchtungen und auch Ressentiments verbunden. So ist immer wieder von den Belastungen für die Sozialsysteme die Rede.
Der Sozialstaat ist verblüffenderweise der große Gewinner der Zuwanderung. Migranten zahlen zwar weniger Steuern, beziehen häufiger Hartz-IV-Leistungen und sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als Menschen ohne Migrationshintergrund. Trotzdem leisten sie einen positiven Nettobeitrag zum Finanzierungssaldo der öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungssysteme. Der entscheidende Punkt sind die Renten. Migranten sind sehr viel jünger als der Bevölkerungsdurchschnitt – und wer heute jung ist, wird im Alter generell weniger ausgezahlt bekommen, als er über den Lebenszyklus eingezahlt hat. Deshalb profitieren die Rentenversicherungssysteme massiv. Eine Studie von Holger Bonin aus dem Jahr 2006 kam auf ein jährliches Plus für die Sozialversicherungssysteme von 2000 Euro pro Kopf der ausländischen Bevölkerung. Die Gewinne durch die gegenwärtige Zuwanderung werden wahrscheinlich noch sehr viel höher ausfallen.
Fordern Sie deshalb mehr Zuwanderung?
Ohne Zuwanderung würde das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland, das derzeit mit 45 Millionen Menschen auf seinem historischen Höchststand steht, bis zum Jahr 2050 um etwa 40 Prozent sinken. Bei einer Nettozuwanderung von 200 000 Personen pro Jahr würde sich dieser Rückgang halbieren – und da sind eine höhere Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben und die Rente mit 67 schon eingerechnet. Wir müssen also auf jeden Fall davon ausgehen, dass eine kleinere Zahl von Erwerbstätigen eine immer größere Zahl von Rentnern finanzieren muss. Die Verteilungskonflikte, die wir bekommen werden, wenn der demografische Wandel irgendwann mal richtig zuschlagen sollte, werden durch Migration entschärft.
Aber verschärft sich dafür nicht die Lage auf dem Arbeitsmarkt? Gewerkschaften fürchten, dass verstärkte Zuwanderung zu höherer Arbeitslosigkeit und einer Absenkung des Lohnniveaus führen könnte.
Auf den Arbeitsmarkt wirkt Zuwanderung weitgehend neutral. Das hängt damit zusammen, dass sich die anderen Märkte anpassen, vor allem die Kapitalmärkte. Wenn wir ein steigendes Arbeitsangebot haben, steigen auch die Investitionen. Man darf sich Zuwanderung auch nicht so vorstellen, dass über Nacht auf einmal zehn Millionen Menschen mehr in Deutschland sind. Wir reden von ganz langsamen Veränderungen, an die Investoren ihre Investitionen leicht anpassen können. Und wir können empirisch zeigen, dass sie das auch tun. Weil der Kapitalstock sich an das steigende Arbeitsangebot anpasst, bleibt im Aggregat auch das Lohnniveau konstant.
Es gibt keine Verlierer?
Doch. Wir haben in Deutschland ein großes Integrationsproblem. Bei gleicher Qualifikation und Berufserfahrung verdienen Migranten weniger und haben ein viel höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Der Arbeitsmarkt ist sehr stark segmentiert nach Inländern und Ausländern. Neuzuwanderer konkurrieren darum vor allem mit den schon im Lande lebenden Ausländern – wodurch sich die bereits bestehenden Lohnunterschiede und Beschäftigungsrisiken weiter vergrößern können.
Wenn Migranten unter ihrem Qualifikationsniveau arbeiten und schlechter entlohnt werden: Warnen Gewerkschaften nicht zu Recht vor Lohndumping und dem Unterminieren erreichter Standards?
Der Fehler ist, dass man versucht, den Arbeitsmarkt vor Zuwanderung zu schützen, statt an der Integration zu arbeiten. Bei der EU-Osterweiterung ging die Vereinbarung von langen Übergangsfristen bis zur vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit, das ist kein Geheimnis, maßgeblich auf das Drängen der Gewerkschaften zurück. Die Idee war, sich gegen Lohndumping zu schützen. Doch man hat durch diese Regulation genau das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte.
Inwiefern?
Weil sich die Migranten nicht als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte normal in den Arbeitsmarkt integrieren konnten, sind sie in die Nischen gegangen, die ihnen die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit eröffnet haben – als Saisonarbeiter, als Scheinselbstständige oder als entsendete Arbeitnehmer von ausländischen Werkvertragsfirmen. Und dadurch ist es in der Tat zu Lohndumping gekommen, weil diese nicht-regulären Beschäftigungsverhältnisse mit regulären konkurriert haben.
In der Fleischindustrie gibt es heutzutage kaum noch deutsche Arbeitskräfte. Mithilfe von Werkvertragskonstruktionen, die mit großer Findigkeit und durchaus auch krimineller Energie ausgeheckt werden, sind die bisherigen Beschäftigten gegen Billiglöhner aus Rumänien und Bulgarien ausgetauscht worden.
Je restriktiver die Abschottung des Arbeitsmarktes ist, desto ekelhafter sind die Nischen. Das hat man dann nicht mehr im Griff. Wenn diese Menschen die Möglichkeit hätten, zehn Euro im normalen Arbeitsmarkt zu verdienen, dann würden sie sich nicht zu kriminellen Bedingungen in der Fleischindustrie verdingen. Wegen des großen Einkommensgefälles besteht für sie aber auch ein ökonomischer Anreiz, für nur fünf Euro pro Stunde in Deutschland zu arbeiten. Es wäre deshalb vernünftiger gewesen, die Freizügigkeit sofort einzuführen – und parallel dazu die Entsendung durch die Festschreibung von Sozialstandards und Mindestlöhnen zu regulieren.
Wird das gestützt durch Erfahrungen aus Ländern, die damals auf die lange Übergangsfrist verzichtet haben?
Ja. Großbritannien beispielsweise hat den Zugang zum regulären Arbeitsmarkt sofort ermöglicht. Dort sind Migranten heute weniger von Arbeitslosigkeit betroffen als Einheimische – und verdienen in den unteren und mittleren Qualifikationsgruppen sogar mehr. Daraus folgt für mich: Man muss alles versuchen, Zuwanderer so in den Arbeitsmarkt zu integrieren, dass sie mit einheimischen Beschäftigten in einem regulären Wettbewerb stehen. Das sollten die Gewerkschaften als ihre Aufgabe verstehen. Sonst schaffen wir Enklaven, richtige Niedriglohnbereiche. Außerdem sind Menschen, die wie die Werkvertragsbeschäftigten in der Fleischindustrie irgendwo kaserniert leben, für die Gewerkschaften nicht mehr erreichbar.
Die deutsche Einwanderungspolitik folgte jahrzehntelang der Lebenslüge, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Inwiefern hat sich daran etwas verändert?
Die politischen Akteure in den meisten Parteien haben verstanden, dass wir aufgrund des demografischen Wandels bessergestellt sind, wenn wir Zuwanderung haben. Ein Wahlkampf mit dem Slogan „Kinder statt Inder“ wäre heute nicht mehr vorstellbar. Es gibt zwar nach wie vor Widerstände in der Gesellschaft, die sich – Stichwort Arbeitnehmerfreizügigkeit – natürlich auch in der Gesetzgebung widerspiegeln. Das sehr restriktive Einwanderungsrecht gegenüber Drittstaaten, für Nicht-EU-Bürger also, ist seit Rot-Grün jedoch schrittweise verändert worden. Wir haben jetzt relativ liberale Bedingungen für die Zuwanderung von Hochschulabsolventen. Die Einkommensgrenzen sind allerdings immer noch zu hoch.
Um mit der sogenannten Blue Card nach Deutschland kommen zu können, müssen Zuwanderer ein Jahresgehalt von mindestens 44.500 Euro nachweisen. Nur für einige ausgewählte Berufe liegt die Messlatte niedriger. Sollte diese Schwelle weiter abgesenkt oder gar gänzlich abgeschafft werden?
Um junge Hochschulabsolventen zu gewinnen, müssten wir die Einkommensschwelle auf das realistische Einstiegsgehalt eines jungen Akademikers in Deutschland setzen. Und das wären 35.000 Euro. Eine Schranke festzulegen macht durchaus Sinn. Man könnte das aber auch über ein Punktesystem machen, also nicht das konkrete Jobangebot, sondern die Qualifikation bewerten. Dafür spricht eine ganze Menge.
Warum?
Wir wissen, dass besser qualifizierte Migranten sich flexibler im Arbeitsmarkt einordnen, die Integrationsrisiken also sehr viel geringer sind. Darum ist es sinnvoll, Migration nach Qualifikation zu steuern. Aber das muss Hand in Hand gehen mit einer vernünftigen Integrationspolitik, die wir in Deutschland noch nicht haben. Die Schulen sind auf Zuwanderung schlecht vorbereitet. Das Angebot an Sprachkursen ist zu klein und zu undifferenziert. Auch die Arbeitgeber könnten viel mehr tun: Bislang wird in deutschen Unternehmen meist kein Englisch gesprochen. Es gibt in weiten Bereichen noch keine Integrationskultur.
Seit der Einführung im vergangenen Jahr sind gerade einmal gut 4000 Blue Cards ausgestellt worden. Gemessen an der Gesamtzuwanderung nimmt sich das verschwindend gering aus.
Man kann nicht sagen, dass es keine qualifizierte Zuwanderung gibt, nur weil so wenig Blue Cards ausgestellt werden. Aber ein Problem, das signalisieren die niedrigen Zahlen, haben wir da schon. Im Moment kommen nur knapp 25 Prozent der Migranten aus Nicht-EU-Staaten. Aber mittelfristig werden es 50 bis 70 Prozent sein müssen, damit wir einen Zuwanderungssaldo von 200 000 bis 300 000 Menschen im Jahr auch dann halten können, wenn sich die europäischen Länder von der Eurokrise erholt haben. Mit den Instrumenten, die wir im Moment haben, wird das nicht funktionieren. Da ist ein gewaltiger Handlungsbedarf.
Für politischen Streit hat zuletzt aber nicht der Mangel an hoch qualifizierten Migranten, sondern eher die sogenannte Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien gesorgt.
Es mag viele überraschen, aber Bulgaren und Rumänen gehören aus gesamtstaatlicher Perspektive zu den am besten integrierten Zuwanderern. Sowohl die Arbeitslosenquote als auch der Anteil von Hartz-IV-Empfängern ist deutlich niedriger als bei der ausländischen Bevölkerung insgesamt. Und der Anteil von Kindergeldempfängern liegt unter dem der deutschen Bevölkerung. Es gibt ganz wenige Zuwanderergruppen, die eine geringere Belastung für den Sozialstaat bedeuten – Franzosen etwa oder US-Amerikaner. Probleme haben allerdings einige Kommunen, wo Arbeitslosigkeit und Leistungsbezug bei Menschen aus diesen Ländern in der Tat sehr hoch sind – und wo es zum Teil auch Hinweise auf kriminelle Machenschaften durch Scheinselbstständigkeit gibt. Betroffen sind vor allem Duisburg, Berlin und Dortmund.
Der EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien wurde trotz des Wohlstandsgefälles zu den alten EU-Staaten beschlossen. Müssen diese Städte das jetzt ausbaden?
Da bin ich völlig anderer Meinung. Dass Migranten wandern, weil es ein Einkommensgefälle gibt, war schon bei der Gastarbeiteranwerbung so. Solange das eine Arbeitsmigration ist, gibt es überhaupt kein Problem. Ein Problem entstünde erst bei einer Zuwanderung in das Sozialsystem. Aber das war die Migration aus Rumänien und Bulgarien weder in Spanien noch in Italien, und das ist sie im Moment auch bei uns nicht. Sorgen macht mir nur, dass bei den Saisonarbeitskräften ein sehr hoher Anteil der Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien über keine Berufsausbildung verfügt. Das könnte längerfristig Integrationsprobleme aufwerfen.
Zur Person
Herbert Brücker, 53, ist Leiter des Forschungsbereichs für internationale Vergleiche und europäische Integration am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Daneben hat er an der Universität Bamberg eine Professur für Volkswirtschaftslehre inne. Seine Habilitation schrieb er über Ursachen und Wirkungen der internationalen Migration in Europa. Er hat Gutachten für die EU-Kommission koordiniert und berät auch die Bundesregierung in Fragen der Arbeitsmarktöffnung.