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Altstipendiat Jörg Seisselberg berichtet für die ARD aus Italien Magazin Mitbestimmung

Altstipendiat: Der Italienkenner

Ausgabe 03/2024

Jörg Seisselberg berichtet für die ARD aus Italien. Schon zum zweiten Mal lebt und arbeitet er in dem Land, das ihn seit dem Studium nicht mehr losgelassen hat. Von Fabienne Melzer

Es liegt einfach so nahe: Wer Italien liebt, liebt es vor allem des Genusses wegen. Vielleicht stellt Jörg Seisselberg deshalb gleich zweimal klar: „Ich gehöre nicht zur Toskana-Fraktion.“ Also zu jenen Menschen, die vor allem in den 1990er Jahren im Sommer in der Toskana einen hedonistischen Lebensstil mit gutem Wein und Nachdenken pflegten. Den 63-Jährigen fasziniert die Zerrissenheit des Landes. „Aus politischer Perspektive gibt es kaum etwas Interessanteres als Italien“, sagt der Journalist. „Es ist ein gespaltenes Land, ein Land der Extreme.“

Seit 2019 arbeitet Seisselberg als Korrespondent der ARD in Rom – zum zweiten Mal nach seinem ersten Einsatz in den Jahren 2003 bis 2008. Er nennt Berlusconi den „Urvater der Populisten“. Giorgia Meloni, die Ministerpräsidentin mit neofaschistischen Wurzeln, hält er für keineswegs so harmlos, wie viele in Europa inzwischen meinen. Um sie einzuschätzen, müsse man sich länger im Land bewegen. Das tut Seisselberg schon seit vielen Jahren. Und er hört genau hin, etwa wenn Meloni über Geschichte spricht und nicht einmal das Wort Faschismus in den Mund nimmt. Manchmal fragt er sich, ob er sich zu sehr an der Frau verbeißt, doch schon im nächsten Augenblick warnt er wieder: „Sie ist schlau. Ich bin sicher, wir haben noch nicht alles von ihr gesehen.“

Gleichzeitig fühlt er sich wohl in diesem Land, in dem die Menschen sich füreinander interessieren. Er mag die Herzlichkeit und den Austausch mit den Menschen, die, anders als in Deutschland, nicht ständig nach etwas suchen, an dem sie herumnörgeln können. „Für einen Norddeutschen wie mich etwas ungewöhnlich“, lacht Seisselberg. Aufgewachsen ist er in Soltau, einem 20 000-Einwohner-Örtchen in der Lüneburger Heide.

Dass er Journalist werden will, steht schon in der Schule fest. Nach dem Abitur fängt er als Volontär beim Pinneberger Tageblatt an. Mit 19 Jahren schreibt er über Sport. Gleich am zweiten Tag seines Volontariats tritt er in die Gewerkschaft ein, wird später Vertrauensmann und übernimmt den Vorsitz der dju-Jugend. Für ihn war das selbstverständlich. „Auch mein Vater war immer in der Gewerkschaft“, erinnert er sich.

Vielleicht wäre sein Weg ohne die Hans-Böckler-Stiftung anders verlaufen. Nach dem Zivildienst hätte er zum Pinneberger Tageblatt zurückkehren können, die Tür stand offen. „Für die Entscheidung gegen die sichere Stelle und für das Studium war das Stipendium der Stiftung nicht unwichtig“, sagt Seisselberg. Seine Eltern hätten kein Studium finanzieren können. In Hamburg studiert er Politikwissenschaften, hört Vorlesungen zum politischen System Italiens und geht für ein Jahr zum Studium nach Bologna. „Auch das hätte ich mir ohne die Förderung der Stiftung nicht leisten können“, sagt Seisselberg.

Nach dem Studium arbeitet er zunächst freiberuflich für den NDR, berichtet wieder über Sport. Für eine Wochenzeitung reist er immer wieder nach Italien und schreibt Beiträge. Als er 1996 beim NDR fest angestellt wird, fällt sein politisches Interesse schnell auf, und so geht der Sportredakteur 1997 als Parlamentskorrespondent nach Bonn. Dort begegnet er dem jungen Abgeordneten Olaf Scholz. Beide aus Hamburg und beide neu in Bonn, kommen sie schnell ins Gespräch. „Ich bin gerne mit ihm essen gegangen“, erzählt Seisselberg. „Er war sehr unterhaltsam. Er hatte Potenzial.“ Als Scholz 2021 zum Bundeskanzler gewählt wird, sagt ein Bekannter zum ihm: „Es gab drei Menschen, die daran geglaubt haben, dass Olaf Scholz Bundeskanzler wird: Olaf Scholz selber, sein Staatssekretär und du.“

Im Herbst geht es für Jörg Seisselberg zurück nach Deutschland. Für Italien wünscht er sich, dass die Opposition sich weniger streitet, denn auch das habe Meloni an die Macht verholfen. Ein Standbein will er auf jeden Fall in Italien behalten. Wo, steht noch nicht fest. Aber es wird sicher kein Haus in der Toskana.

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