Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungInterview: „Der Gesetzgeber muss nur wollen“
Wolfgang Uellenberg-van Dawen über entsicherte Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungsbereich und die Chancen, mit dieser Bundestagswahl umzusteuern – hin zu guter Arbeit und guten Dienstleistungen. Das Gespräch führte Cornelia Girndt in Berlin.
Wolfgang Uellenberg, warum haben sich Formen von ungesicherter, schlecht entlohnter Beschäftigung gerade im Dienstleistungsbereich so ausgebreitet?
Viele Dienstleistungsunternehmen bevorzugen das Geschäftsmodell „Niedriglohn und Entsicherung von Arbeitsverhältnissen“ anstelle des Geschäftsmodells „Innovationen, gute Arbeit und gute Dienstleistungen“. Das ist unser Hauptproblem. Ein Grund dafür ist, dass die Devise „Jede Arbeit ist besser als keine“ insgesamt das gesellschaftliche Klima verändert und Arbeit systematisch entwertet hat. Darum ist es notwendig, wie in der Industrie, durch Druck von Gewerkschaft und betrieblicher Interessenvertretung eine Strategie von „Besser statt billiger“ durchzusetzen, konkret von guter Arbeit für die Beschäftigten und guten Dienstleistungen für die Nutzerinnen und Nutzer.
Der große Lohnabstand zwischen Industrie- und Servicebeschäftigten ist ein spezifisch deutsches Phänomen. Warum ist das so?
Weil es politisch gewollt ist! Uns allen war klar: Der Beschäftigungsaufbau muss vor allem im Dienstleistungssektor passieren. Der richtigen Erkenntnis folgte die falsche Niedriglohnstrategie. Man hätte die Beschäftigungslücke bei den Dienstleistungen schließen müssen durch mehr Geld und gute Löhne, etwa wie in der Schweiz. Sowie durch einen Ausbau der Kinderbetreuung, Investitionen ins Gesundheitswesen oder in die Pflege, wie beispielsweise in den skandinavischen Ländern.
Hätte man Alternativen gehabt? Es hieß doch immer, bei Dienstleistungen funktioniert die Produktivitätspeitsche nicht.
Man hat den Dienstleistungen in Deutschland einen falschen Produktivitätsbegriff übergestülpt, der für die Industrie stimmen mag, nicht aber für den Dienstleistungssektor. Das war der Grundfehler. Wenn eine Erzieherin in einer Kita-Gruppe statt zehn Kinder 20 erziehen soll, dann wird das Arbeitsergebnis betriebswirtschaftlich gerechnet „produktiver“, aber die Qualität nimmt ab. Wir benötigen einen dem besonderen Charakter der Dienstleistungsarbeit angemessenen Begriff von Produktivität. Stattdessen schaut man nicht auf Qualität, sondern auf Zahlen, senkt die Kosten und entwickelt damit eine Strategie der Entsicherung von Arbeitsverhältnissen und Lohndrückerei.
Wo ist das besonders eklatant?
Wir reden von Hunger- und Niedriglöhnen gerade im Bereich der Minijobs, aber auch bei vielen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten. Im Handel beispielsweise finden Frauen vielfach schlicht keine andere Beschäftigung mehr als in Minijobs. Wir reden auch von der kurzfristigen Leiharbeit, wo wir dringend Equal Pay brauchen. Wir reden vom Missbrauch von Werkverträgen, wo es durch Scheinselbstständigkeit zum Beispiel bei Kurierfahrern zum Sozialversicherungsbetrug kommt, weil sich Arbeitgeber durch Werkverträge der Pflicht von Sozialabgaben entziehen, obwohl sie die Hauptauftraggeber sind.
Kann die Politik nachhaltig dagegen vorgehen?
Auf jeden Fall. Der Gesetzgeber muss es nur wollen. Das sieht man bei der Leiharbeit, wo es nach Jahren der weitgehenden Deregulierung jetzt einen verbindlichen Mindestlohn gibt. Solange die Politik die Arbeitsverhältnisse weiter entsichert, nutzen Arbeitgeber, was ihnen die Politik anbietet. Der Staat muss daher wieder knallhart re-regulieren. Denn die Hartz-Reformen waren die Initialzündung für die Spaltung des Arbeitsmarktes – und eben kein Sprungbrett in dauerhafte und reguläre Beschäftigung, wie es versprochen worden war. Wenn alle Arbeitsverhältnisse wieder gleichermaßen arbeits- und sozialrechtlich gesichert sind, dann sind auch für alle Arbeitgeber die Bedingungen gleich. Der gesamte Niedriglohnsektor ist eine gigantische Subventionierung jener Arbeitgeber, die ihr Billig-Geschäftsmodell durchziehen.
Im Handel, im Gesundheitswesen, der Gastronomie, im Erziehungsbereich, selbst bei öffentlichen Dienstleistungen sind mittlerweile die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse atypisch.
Das sind vor allem Dienstleistungsbranchen mit einer hohen Beschäftigung von Frauen. Der Dienstleistungssektor ist auch deshalb besonders betroffen, weil die Arbeit von Frauen geringer bewertet wird als die von Männern, ebenso wie die Dienstleistungsarbeit gegenüber der Industriearbeit geringer bewertet wird. Zudem sind es die Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren müssen, was dann im Dienstleistungsbereich zu ausufernden Teilzeitbeschäftigungen führt. Deshalb fordert der DGB schon seit vielen Jahren ein Rückkehrrecht von der Teilzeit in die Vollzeit oder Arbeitszeiten, die eine bessere Vereinbarkeit für Männer wie Frauen ermöglichen.
Sind die Parteien generell bereit, mehr zu tun?
Was die Wahlprogramme von SPD, Grünen und Linken betrifft, sind wir mit unseren Forderungen relativ weit vorgedrungen. So beinhaltet das Wahlprogramm der Sozialdemokraten und das der Grünen in weiten Teilen die Abkehr von Hartz IV. Und es gibt in allen Lagern eine große Bereitschaft, die Entsicherung der Arbeitsverhältnisse zurückzunehmen, nachzulesen etwa in den Programmen aller Oppositionsparteien. Denn es ist etwas Vorhersehbares passiert: Viele Menschen können von ihrer Arbeit, häufig sogar in Vollzeitbeschäftigung, nicht mehr menschenwürdig leben. Sie sind auf staatliche Unterstützung angewiesen, können keinen Beitrag zu den Sozialsystemen leisten und fallen auch als Steuerzahler aus.
Hätte ver.di mehr tun müssen gegen die Deregulierung der Dienstleistungen? Wo bleibt das genuine Geschäft der Gewerkschaften?
Wir als ver.di müssen nicht nach dem Gesetzgeber als Retter in der Not rufen. Unsere tariflichen Erfolge können sich sehen lassen. Dennoch können wir im ständig wachsenden Dienstleistungssektor nicht die zunehmende Arbeitgeberwillkür und Entrechtung verhindern, wenn diese gesetzlich möglich sind. Denn die Entsicherung der Beschäftigungsverhältnisse hat unzuträgliche Machtverhältnisse in den Betrieben geschaffen und Menschen verängstigt. Wir wollen, dass die Menschen in ihrer Arbeit wieder frei und selbstbestimmt sind. Darum geht es und nicht um Flexibilität zulasten von Menschenwürde und Sicherheit.
Gilt das auch für die europäischen Länder, die derzeit harten Struktur- sprich Arbeitsmarktreformen unterzogen werden?
Deutschland ist ein Referenzmodell für Europa. Umso wichtiger ist es, dass bei uns die Entsicherung der Arbeitsverhältnisse zurückgenommen wird. Genau das Gegenteil will aber der Sachverständigenrat, wenn er der „Neuen Ordnung der Arbeit“ eine Absage erteilt, weil diese die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland schwächen, während die Wettbewerbsfähigkeit in Südeuropa durch Strukturreformen verbessert würde. Die deutsche Lektion ist aber: Nur durch Innovation und Wachstum werden wir in Europa aus der Krise kommen, nicht durch weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte. Wir sind durch alle Höhen und Tiefen dieser Entsicherung der Arbeitsverhältnisse gegangen. Und merken jetzt, wohin das führt.
Verwundert nicht umso mehr die allgemeine Apathie bei dieser Bundestagswahl 2013?
Das Drama dieser Wahl ist die öffentliche Inszenierung eines Kampfes zweier Personen, wovon die eine hoch- und die andere heruntergeschrieben wird. Verdeckt wird dadurch ein knallharter Machtkampf um Verteilungsgerechtigkeit und um eine Neuordnung des Arbeitsmarktes in einem handlungsfähigen Sozialstaat. Meine Meinung ist: Wer eine andere Politik will, darf auch Optionen wie Rot-Rot-Grün nicht ausschließen. Ein Politikwechsel, wie er für unsere Gesellschaft und für ein soziales Europa dringend erforderlich ist, erfordert auch einen Machtwechsel. Darum darf es kein „Weiter so“ geben.
Zur Person
Wolfgang Uellenberg-van Dawen, 62, leitet den Bereich „Politik und Planung“ in der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin. Der promovierte Historiker pendelt zwischen Hauptstadt und Heimatstadt Köln. Dort war er bis 2008 DGB-Vorsitzender, davor in Berlin Bundesvorstandssekretär des DGB und zuvor Büroleiter des damaligen DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte. Wolfgang Uellenberg-van Dawen ist im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung.