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Plattencover 'Lieder ohne Leiden' von Christiane Rösinger Magazin Mitbestimmung

Das politische Lied: DER CHOR DER ERBEN

Ausgabe 01/2024

Eine Generation kommt in das Alter, in dem man erbt. Wer hat, kann die anderen verdrängen. Im Song „Eigentumswohnung“ besingt Christiane Rösinger das neue Machtgefälle auf dem Wohnungsmarkt. Von Martin Kaluza

Christiane Rösinger: Eigentumswohnung (2017)

Der Kapitalismus ist an allem schuld
Wir sind am Ende unsrer Geduld
Wir leben eigentlich selber prekär
Wenn nur das mit der Wohnung nicht wär


Die Mieterin hat sich den Wecker gestellt. Noch kurz Zähne putzen, da klingelt es schon an der Tür. Eine ganze Kolonne von Menschen schlurft in die Wohnung, alle ungefähr in der Lebensmitte, ein paar Kinder sind dabei, und alle schauen sich unverhohlen um, als würde das alles schon ihnen gehören. Die Mieterin, die hier immerhin noch wohnt, beachten sie
gar nicht.

Christiane Rösinger singt dazu: „Von den Eltern zur Belohnung/und zur eigenen Nervenschonung/und zur ständigen Naherholung/kriegen wir jetzt eine Eigentumswohnung.“ Die etwas verschämte Formulierung, wir „kriegen“ eine Eigentumswohnung, zeigt schon: So ganz wohl ist ihnen bei der Sache nicht, aber was soll man tun, wenn die Eltern es nur gut meinen mit einem? Lakonisch lässt Rösinger den Chor der Erben singen: „Wir leben eigentlich selber prekär, wenn nur das mit der Wohnung nicht wär.“ Da steht sie im Raum, die Klassenfrage.

Christiane Rösinger wuchs auf einem Bauernhof bei Rastatt auf. Mitte der 1980er Jahre zog sie, alleinerziehend, zum Studium nach Berlin. Mit Almut Klotz und Funny van Dannen gründete sie die Lassie Singers. Mit rumpeligem DIY-Indie-Charme beklagte die Band das Nervpotenzial öffentlich zur Schau gestellter Zweierbeziehungen („Pärchen verpisst euch, keiner vermisst euch!“), verweigerte sich demonstrativ dem Leistungsdenken („Wir wollen nämlich gar nicht besser sein“) und genoss in Studi-Kreisen schnell Kultstatus.

Berlin-Kreuzberg, damals ein armer Randbezirk im Schatten der Mauer, zieht Paradiesvögel und Verrückte aus der ganzen Bundesrepublik an, Kreative und Alternative sowie Männer, die hier dem Wehrdienst entgehen. Das Leben ist so günstig, dass ein Nebenjob reicht, die Selbstverwirklichung zu finanzieren. Das gilt sogar noch einige Jahre nach dem Mauerfall. „Damals war es einfacher, den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Leute hatten weniger Angst, ihre Wohnung zu verlieren. Es war eine unbeschwertere Zeit“, erinnert sich Rösinger in einem Radiointerview.

Mittlerweile veröffentlicht sie Alben unter eigenem Namen, schreibt Bücher und Zeitungsartikel, kuratiert die Veranstaltungsreihe „Flittchenbar“, schreibt und inszeniert Musicals und Theaterstücke, zuletzt die Agitpropshow „Die große Klassenrevue“. An zwei Tagen in der Woche gibt sie Geflüchteten Deutschunterricht. Nichts, womit man reich werden würde.

„Wenn man jünger ist, sieht man die Klassenunterschiede nicht“, erklärt Rösinger einmal. „Da haben halt alle wenig Geld und spartanische Wohnungen.“ Schon damals, meint sie, hätte auffallen können, dass einige gar nicht arbeiten mussten.

Doch jetzt, wo eine Generation in das Alter kommt, in dem man erbt, wird das Machtgefälle sichtbar: Wer hat, kann die anderen verdrängen. Dass sich in den Nachkriegsjahren im Westen deutlich mehr Wohlstand zum Vererben angesammelt hat als im Osten, ist dabei noch nicht einmal erwähnt.

Seit 1986 wohnt Rösinger in der gleichen Kreuzberger Wohnung – zur Miete. Vor ein paar Jahren wurden die Wohnungen in ihrem Haus einzeln verkauft und in Eigentum umgewandelt. Auch bei ihr liefen schon Kaufinteressenten durch die  Zimmer. Es ist die Wohnung, die im Video zu sehen ist.

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