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Magazin MitbestimmungAutoindustrie: Der blinde Fleck
Weil Mikrochips knapp sind, konnten Millionen Fahrzeuge in Deutschland nicht gebaut werden. Ursache sind massive Fehler im Risikomanagement. Der Schock wird die Branche für immer verändern. Von Kay Meiners
Das Auto war früher eine mechanische Angelegenheit: Ein Tritt aufs Gaspedal lenkte die Muskelkraft des Fahrers über einen Seilzug an eine Drosselklappe weiter und führte so dem Benzin-Luft-Gemisch, das zum Motor strömte, mehr Treibstoff zu. Das ist lange her. Längst ist das Gaspedal zum elektronischen Schalter degradiert. Wenn es getreten wird, messen Sensoren den Pedalweg und leiten die Information, dass das Fahrzeug beschleunigt werden soll, in Nanosekunden an ein digitales Steuergerät weiter, das mit anderen Geräten kommuniziert. Wegen dieser Änderungen sind in einem Auto heute mehr als 1000 Computerchips verbaut – wenn es denn welche gibt. Denn Chips sind Mangelware. Die Firma Intel rechnet damit, dass die Flaute zwei Jahre dauern kann.
Für die Autobauer ist es eine Katastrophe. In Eisenach, wo sonst 1300 Opel-Mitarbeiter das SUV-Modell Grandland bauen, wurden die Mitarbeiter nach Hause geschickt, weil Chips fehlen. Bei Ford in Köln ging nichts mehr, weil Chips für die Türsteuerung fehlten. „Seit Ende November bauen wir wieder Autos“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Benjamin Gruschka. Trotzdem sei die Lage prekär: „Für die jetzt geplanten reduzierten Stückzahlen reicht es bis Ende des Jahres. Was 2022 passiert, wissen wir noch nicht.“ Der Einbruch ist bedrohlich. So musste der Verband der Automobilindustrie (VDA) seine Vorhersage zur Inlandsproduktion für 2021 von erst vier Millionen Autos auf zwischenzeitlich 3,6 Millionen und jetzt 2,9 Millionen reduzieren. Die Branche, die gerade den Wechsel zu alternativen, nicht-fossilen Antrieben stemmen soll, wird jetzt unerwartet hart getroffen. Wie konnte es so weit kommen?
Hightech aus Sand
Um Chips zu produzieren, braucht man Halbleiter, Werkstoffe, die die Eigenschaften von elektrischen Leitern (wie Kupfer) als auch von Isolatoren (wie Porzellan) in sich vereinen. Das Standardmaterial ist Silizium, das mit Unmengen Energie aus Quarzsand geschmolzen wird. Es wird zu Rohlingen, sogenannten Wafern, verarbeitet, auf die Millionen digitaler Schaltungen fotolithografisch aufgetragen werden. Chips kamen aus dem Westen, wo die Computerindustrie ursprünglich entstand. Doch westliche Länder haben in der Chipproduktion dramatisch an Boden verloren. Während vor 30 Jahren drei Viertel aller Chips aus den USA und Europa kamen, aus China noch gar nichts, kommen heute drei Viertel aus Asien, so eine Studie der Boston Consulting Group (BCG) und der amerikanischen Semiconductor Industry Association (SIA). Ähnlich sieht es beim Rohstoff selbst aus.
„Das Silizium für die Chipproduktion muss hochrein sein“, erklärt der Geologe Dennis Bastian, der bei der Deutschen Rohstoffagentur (DERA) die globalen Rohstoffmärkte verfolgt. „Man braucht mindestens eine Reinheit von 99,9999999 Prozent.“ Wegen zwei Neunen vor dem Komma und den sieben Neunen danach nennt man das Material 9N-Silizium. Besser geeignet sind die Qualitäten 10N oder 11N. Für die Veredelung braucht man billige Energie. Die gab es in Asien lange. Doch jetzt haben sich die Preise für Silizium-Vorprodukte in nur einem Jahr vervielfacht. Ein Grund, so Bastian, seien neben der gestiegenen Nachfrage vor allem Probleme mit der Energieversorgung in China. Die Provinz Yunnan im Südwesten des Landes spielt eine wichtige Rolle für die weltweite Produktion von Siliziummetall, einem Vorprodukt für hochreines Silizium wie das 9N. Weil die Energie knapp wurde, zwang die lokale Regierung die Hersteller, die Produktion auf zehn Prozent zu drosseln. Ist damit der Schuldige gefunden?
Ein Versagen mit Vorlauf
Wie meist bei Katastrophen gibt es mehr als nur eine Ursache. Nach Einschätzung von Christian Brunkhorst, der den Bereich Zulieferer und Fahrzeugbau beim IG Metall Vorstand betreut, ist der „weltweite Mangel an Kapazitäten bei den Herstellern“ das eigentliche Problem. Neue Fabriken seien weltweit im Bau, sagt er. Aber so ein Bau dauert rund zwei Jahre. Hinzu kommt, dass die Autoindustrie und ihre Zulieferer nur relativ kleine Abnehmer sind, auf die „die Chiphersteller nicht unbedingt Rücksicht nehmen müssen“.
Gerade als die Notebook-Nachfrage wegen Corona durch die Decke ging, wurden kaum Autos verkauft, sodass die Hersteller Lieferverträge bei Zulieferern stornierten – und diese dann wiederum bei ihren Lieferanten. Ein Fehler, denn der Automarkt erholte sich schneller als gedacht. Da hatten die Chiphersteller ihre Kapazitäten schon anderweitig verkauft. Die Zulieferer müssen sich nun hinten anstellen: „Vorlaufzeiten von sechs bis neun Monaten sind typisch für komplexe Chips, weshalb es schwierig ist, auf Nachfrageschwankungen zu reagieren“, schreibt der US-Experte Paul Hansen im „Hansen Report on Automotive Electronics“. Die Autobauer unterhielten bisher kaum direkte Geschäftsbeziehungen zu den Herstellern, vielmehr gibt es eine fein verästelte Zulieferkette. Brunkhorst sagt: „Die Chiplieferanten sind da an vierter oder fünfter Stelle in der Kette, und die Chips werden in immer größere Einheiten eingebaut, etwa in ein Cockpitmodul oder eine Tür.“
Fragile Lieferketten
Computerchips haben eine abenteuerliche Reise hinter sich, bis sie in einem Auto landen. Kaum ein Zwischenhändler kennt den ganzen Weg der Ware. Nicht viel anders kamen einst Gewürze über die Seidenstraße nach Europa. Die Autoindustrie hat sich mit der Resilienz der Lieferketten für elektronische Bauteile nicht ausreichend beschäftigt. „Wir haben es mit einer massiven Fehleinschätzung zu tun, einem blinden Fleck im Risikomanagement“, sagt IG-Metall-Experte Brunkhorst. „Deutschland hat geschlafen“, sagt auch Oliver Emons vom Institut für Unternehmensführung und Mitbestimmung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung.
Auch bei den Betriebsräten ist der Unmut groß. Die VW-Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo kritisiert, im Konzern habe ein „nachhaltiges und strategisches Halbleitermanagement gefehlt“. Der weltweite, zeitlich genau getaktete Einkauf von Komponenten erschien lange ökonomisch vernünftig. Doch das ist immer eine riskante Wette darauf, dass nichts schiefgeht. „Die Autobauer haben einen starken Kostendruck auf die Zulieferer ausgeübt“, sagt IG-Metall-Experte Brunkhorst.
Warnungen, dass etwas schiefgehen kann, gab es. Etwa vor zehn Jahren, als die japanische Autoindustrie wegen des Tsunamis und der Reaktorkatastrophe in Fukushima ins Straucheln geriet. Wichtige Fabriken für Halbleiter fielen aus. Autoexperte Brunkhorst erinnert sich, dass eine Fabrik für weiße Farbpigmente ausfiel, die für Autolack verwendet wurden. Manche Hersteller konnten danach keine weißen Autos liefern.
Hektische Suche nach Lösungen
Was jetzt passiert, ist noch schmerzhafter als Fukushima. Mit etwas Lagerhaltung wird das Problem nicht zu lösen sein. „Die Autobauer suchen schon nach Lösungen“, versichert Brunkhorst. „Die Betriebsräte machen Druck, und es ist Thema in den Aufsichtsräten. Wir müssen über eine andere Lagerhaltung nachdenken, über mehr Transparenz über die Zulieferkette und technische Änderungen, um weniger anfällig von bestimmten Lieferanten zu sein.“
In der Chipkrise führen jetzt erst einmal die Betriebswirte das Regiment. Sie verwalten den Mangel. „Das führt dazu, dass die knappen Chips vor allem in den margenstarken Produkten verbaut werden, mit denen man Geld verdienen kann“, sagt Auto-Experte Brunkhorst. Sogar Endverbraucher merken das. Beim Autoradiohersteller Blaupunkt etwa gibt es derzeit lange Lieferzeiten für preiswerte Modelle. Weniger schwierig ist es, das Premiummodell „Bremen“ für 400 Euro zu bekommen. Der Versandhandel liefert es in wenigen Tagen frei Haus.
Der Mangel an Halbleitern wird nach Einschätzung von Daimler-Gesamtbetriebsratschef Michael Brecht tiefgreifende Veränderungen in der Automobilindustrie auslösen. „Die Fahrzeughersteller werden künftig selbst Rohstoffe und Schlüsselkomponenten direkt beim jeweiligen Lieferanten einkaufen und sich nicht mehr allein auf die großen Zulieferer als Systemlieferanten verlassen“, sagt er. Möglich, dass Partner aus Fernost dabei ihre Position ausbauen können. Die großen Autobauer wie Volkswagen oder Mercedes-Benz sind enorm abhängig von China – nicht nur als Absatzmarkt, auch als Produktionsstandort. Erst im Oktober hat Mercedes-Benz ein Technikzentrum in der Region Peking eröffnet, wo rund 1000 Ingenieure unter anderem an der Digitalisierung von Fahrzeugen arbeiten. Zudem kommt ein neuer Smart auf den Markt, der in China produziert wird – zusammen mit der Zhejiang Geely Holding Group.
Was, wenn sich solche Kooperationen verfestigen? Wenn die alten Produktionsziffern in Deutschland nie wieder erreicht werden und die Branche schrumpft? Das Jahr 2020 mit einer Inlandsproduktion von nur 3,5 Millionen Pkw war schon ein ausgesprochenes Krisenjahr mit dem niedrigsten Output seit 1975. Auf die Pandemie entfiel nach einer Einschätzung des VDA lediglich die Hälfte des Rückgangs. Der restliche Produktionsabbau hatte mit strukturellen Faktoren wie der Transformation zum Elektroantrieb oder zunehmender Vor-Ort-Fertigung zu tun. Seit 2018 verliert die Autobranche durch diesen Strukturwandel Jobs. Während die Beschäftigung in der deutschen Autoindustrie nach Angaben der IG Metall zwischen 2010 und 2018 noch um 18,9 Prozent stieg, betrug der Saldo im Jahr 2019 minus 1,3 Prozent und im Jahr 2020 schon 2,6 Prozent. Noch sind nicht viele Jobs verloren. Aber die Gewerkschaft befürchtet „erhebliche Risiken für die Beschäftigung“.