: Der Betriebsrat muss die Risiken kennen
BESTE PRAXIS Als Verkaufsgerüchte aufkamen, gingen beim AOL-Betriebsrat die Warnleuchten an. Er recherchierte, prüfte die Interessenten und informierte die Belegschaft.
Von Oliver Wiesel, Gesamtbetriebsratsvorsitzender der AOL Deutschland GmbH und seit dem Verkauf stellvertretender GBR-Vorsitzender der Hansenet, einer Tochter der Telecom Italia. oliverwiesel@aol.com
Dass bei AOL Europa gravierende Veränderungen anstanden, erfuhren wir Betriebsräte der drei deutschen Niederlassungen aus der Zeitung. In der Finanzpresse tauchten Mitte März 2006 erste Berichte auf, das Unternehmen stehe zum Verkauf. Das europäische Management und der amerikanische Eigner Time Warner dementierten umgehend, inoffiziell aber bekamen wir diese Meldung bestätigt.
Gut zwei Monate später stellte die Unternehmensleitung den Betriebsräten einen radikalen Strategiewechsel vor: Der Internetdienstleister AOL, zuvor ein "Vollsortimenter", der sowohl Netzinhalte als auch Einwahlmöglichkeiten verkaufte, wolle in Europa künftig Portal- und Zugangsgeschäft radikal trennen. Die amerikanische Mutterfirma beauftragte die Investmentbank Citigroup New York, Verkaufsoptionen für die einzelnen Landesgesellschaften zu prüfen. Die geplante Aufteilung in zwei separate Geschäftsfelder erlaubte, das Zugangsgeschäft auf dem Markt anzubieten.
Ein Bieterverfahren folgte, für den Zugangsbereich von AOL Deutschland meldeten sich bis Ende Juni 2006 mehr als zwanzig Interessenten. Nach zwei Auswahlphasen blieben fünf Bieter übrig: KPN, Freenet, Versatel, United Internet und Telecom Italia. Am 18. September stand der Käufer fest, die Telecom Italia; sie wird das Geschäft mit Internetanschlüssen von AOL mit ihrer deutschen Tochter Hansenet zusammenlegen. Zum 1. März 2007 ist dieser Schritt auch formal vollzogen worden.
ABWARTEN, PROTESTIEREN ODER MITBESTIMMEN?_Die Fusion zog sich über mehrere Monate hin. Die Betriebsräte von AOL haben diese Zeit genutzt und mit vielfältigen Initiativen den Verkaufsprozess beeinflusst. Die schwierigste Frage, die wir im Frühjahr 2006 zu beantworten hatten, lautete: Wo liegen überhaupt unsere Einflussmöglichkeiten? Das Betriebsverfassungsgesetz sieht keine aktive Mitwirkung vor, sondern beschränkt die Arbeitnehmervertreter auf Informationsrechte und später getroffene Vereinbarungen wie Interessensausgleiche und Sozialpläne.
In unseren Betriebsratsgremien haben wir kontrovers diskutiert, von Abwarten bis Protest waren alle Strömungen vertreten. Wir haben uns für einen Weg entschieden, der gegenüber der Unternehmensseite eine aktive Mitbestimmung einforderte. Unser Ansatz, die Bieter mit eigenen Beurteilungen und Bewertungen zu prüfen, sorgte für Vertrauen und Akzeptanz in der Belegschaft. Auch das Management hat unsere Analysen dankbar aufgenommen. So konnten wir im weiteren Verlauf tragfähige Lösungen für mehr als 95 Prozent der AOL-Beschäftigten finden.
Verkaufsszenarien sind auch emotional keine einfachen Prozesse für die Beteiligten. Ängste vor einem möglichen Verlust des Arbeitsplatzes bewegen die Belegschaft, dazu kommt die Enttäuschung über das angebliche Versagen des Unternehmens: Denn wer verkauft wird, hat es doch am Markt nicht geschafft. Die Pessimisten sehen sich bestätigt, weil sie es schon immer gewusst haben, dass alles so kommen wird.
Besonders seltsam war es für uns Interessenvertreter, vom Management die näheren Umstände des Kurswechsels zu erfahren. Wichtige Führungskräfte im eigenen Hause hatten von der amerikanischen Konzernmutter den Verkauf verlangt, um sich aus den Reglementierungen des Medienriesen Time Warner lösen zu können. Das war eine weitere emotionale Kränkung: Schließlich sind wir ja alle AOL und haben in elf Jahren dieses Unternehmen erfolgreich und profitabel gestaltet.
Unsere Analysen ließen ein zunächst eher düsteres Bild entstehen, was neue Perspektiven für unsere Kollegen und die Sicherung der Arbeitsplätze angeht. Marktbetrachtungen legen nahe, dass bei Verkäufen und Fusionen meist kostenmindernde Synergien im Vordergrund stehen. Mit dieser Betrachtung hatten wir aber schon ein entscheidendes Kriterium für die Positionierung der Belegschaftsvertreter erarbeitet:
Ein Käufer sollte nicht auf kurzfristige Einsparungen, sondern auf die Gewinnung zusätzlicher Marktanteile ausgerichtet sein. Weitere Prüffragen stellten sich: Wie hat der künftige Eigner in der Vergangenheit bei Aufkäufen agiert? Wie war der Umgang mit der eigenen Belegschaft? Gab es die Bereitschaft, mögliche Nachteile für die Beschäftigten auszugleichen?
Unsere Wahl fiel auf das Instrument der so genannten SWOT-Analyse. Frei aus dem Englischen übersetzt geht es darum, die Stärken und Schwächen, die Chancen und die Risiken des geplanten gemeinsamen Unternehmens auszuloten (SWOT steht für strengths, weaknesses, opportunities und threats). Diese Analyse haben wir mit Marktdaten und mit der Unterstützung zweier Unternehmensberatungen für die fünf Bieter der Endrunde erstellt. Zurückgegriffen haben wir dabei sowohl auf klassische wie auch auf "mitbestimmungsnahe" Beratungsdienstleister.
Wir waren aber nicht so vermessen, eine eindeutige Empfehlung abzugeben. Wir haben die Interessenten in Rubriken eingeteilt, sie als Infrastruktur-Anbieter, Wiederverkäufer oder Finanzinvestoren charakterisiert. Vor allem lag uns daran aufzuzeigen, ob im Falle des Aufkaufs eine Tendenz zur Gefährdung von Arbeitsplätzen besteht. Die Ergebnisse unserer Prüfung kombinierten wir mit einem Forderungskatalog und mit einer Darstellung der Leistungsfähigkeit unseres eigenen Betriebes. Ausdrücklich hervorgehoben haben wir dabei die funktionierende Mitbestimmungskultur bei AOL.
Unsere Analyse hat das Unternehmen bei der Entscheidungsfindung herangezogen. Wir hatten uns also auf den richtigen Pfad begeben. Während des Auswahlverfahrens haben wir, die Betriebsräte, die Kommunikation mit den Mitarbeitern übernommen. Immer wieder informierten wir die Belegschaft über den jeweiligen Stand des Bieterprozesses. Insgesamt haben wir in über dreißig Abteilungsversammlungen an den drei AOL-Standorten Hamburg, Duisburg und Saarbrücken mit unseren Kolleginnen und Kollegen diskutiert.
JOB-GEFÄHRDUNGEN GENAU ANALYSIEREN_Als weiteres Mittel zur Positionierung haben wir Betriebsräte eine Risiko- und Gefährdungsanalyse genutzt. Hier ging es explizit um die Sicherheit der Arbeitsplätze. Bei Fusionen und Aufkäufen werden gerade die Zentral- und Stabsfunktionen nicht beliebig erweitert. Ein Unternehmen hat nur eine Finanzabteilung, nur ein Personalwesen. Auf Bereiche wie Qualitätssicherung, Kundenservice und Informationstechnologie trifft dies genauso zu.
Die Gefährdungsanalyse zeigte uns Belegschaftsvertretern auf, dass bis zu 25 Prozent der Jobs bei AOL Deutschland bedroht waren. Um gegenzusteuern, haben wir zusammen mit dem deutschen Management früh begonnen, mögliche Job-Alternativen für die Mitarbeiter zu prüfen und zu planen. Ein gutes Beispiel ist die Übergabe unserer Qualitätssicherung an den TÜV Rheinland. Wir konnten damit nicht nur 47 Arbeitsplätze erhalten, sondern dem neu aufgestellten Unternehmen im Portalgeschäft auch eine neutrale Qualitätskontrolle zur Seite stellen. Das dürfte sich positiv auf künftige Produkte auswirken.
Außerdem konnten wir zwanzig Mitarbeiter des AOL-Rechenzentrums bei T-Systems unterbringen. Beide Lösungen heben sich von den marktüblichen Gepflogenheiten ab und zeigen, dass auch in einer riskanten Phase kooperative Haltungen von Unternehmen und Betriebsräten innovative Ergebnisse erlauben. So konnten wir für jeden einzelnen Mitarbeiter früh Klarheit schaffen, wie die persönliche Arbeitsplatzperspektive aussieht. Damit haben wir Unsicherheiten reduziert und gefährdeten Mitarbeitern ermöglicht, sich rechtzeitig nach Alternativen umzusehen. Diesen Prozess begleitet das Unternehmen professionell über Outplacement-Pakete.
TELECOM ITALIA IN SOZIALPLAN EINBEZOGEN_Konzernbetriebsrat und die lokalen Betriebsräte haben parallel stets die gesetzlich garantierten Mitbestimmungsrechte wahrgenommen - zur Verhandlung eines Interessenausgleichs. Beim Verkauf des Zugangsgeschäftes hat AOL einen hohen Kaufpreis veranschlagt und auf dem Markt auch erzielt. Zehn Prozent des Erlöses stehen erfahrungsgemäß für Beratungs- und Abwicklungskosten zur Verfügung. Die Betriebsräte haben einen Teil dieser Summe für Sozialplanleistungen aktiviert.
Es ist eine Herausforderung, die Verträge auch für die Phase nach dem Verkauf verbindlich zu gestalten. Unser Ziel war es, den potenziellen Käufer bereits in die Verhandlungen zum Sozialplan zu integrieren. Wir haben erreicht, dass der Käufer, Telecom Italia, dem Rahmensozialplan beigetreten ist. Dieser weicht, was die gefundenen Regelungen und die Kosten angeht, nicht von den üblichen Bedingungen ab. Eine Besonderheit ist aber, dass er auch für leitende Angestellte gilt: So haben wir die Führungskräfte, die sich in der neuen Geschäftsleitung nicht positionieren konnten, ebenfalls abgesichert.
Nach einem Jahr der Unsicherheit gibt es für die AOL-Belegschaft seit März 2007 eine neue Perspektive - nun als Mitarbeiter der Hansenet Telekommunikation GmbH, einer hundertprozentigen Tochter der Telecom Italia. Wir sind stolz darauf, dass durch den Verkauf nur wenige Jobs verloren gegangen sind. Der Personalabbau beträgt nur vier Prozent und liegt damit weit unter dem Durchschnitt. Wir haben es geschafft, nicht einfach nur zwei Doppelhaushälften nebeneinander zu stellen, sondern ein neues Haus zu bauen.