Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Den EU-Prozess neu programmieren
GEWERKSCHAFTEN Was setzen wir dem Europa der Eliten und Konzerne entgegen?
Von Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall für Sozialpolitik/Foto: Ives Logghe
Die deutschen Gewerkschaften sind fraglos verlässliche Unterstützerinnen des europäischen Projektes. Zwar drängen sie bei jeder Gelegenheit auf ein Mehr an sozialer Gestaltung, aber insgesamt stehen die Gewerkschaften fast ohne Wenn und Aber hinter der europäischen Einigung. Dafür gibt es Gründe. Europafreundlichkeit war ein positiver Teil des Gründungskonsenses der Nachkriegsgesellschaft. Und die deutschen Gewerkschaften haben stets die ökonomischen Erträge des europäischen Binnenmarktes zu schätzen gewusst. Dies in der Hoffnung, die Wettbewerbsgewinne einer exportstarken deutschen Wirtschaft ließen sich in Wohlfahrtsgewinne für Belegschaften und Gesellschaft umwandeln.
AUSGANGSLAGE: NAIVE EUROPAFREUNDLICHKEIT_ Seit geraumer Zeit geraten diese Säulen gewerkschaftlicher Europafreundlichkeit ins Wanken. In Rahmen eines weitreichenden wettbewerbspolitischen Restrukturierungsprozesses versuchen die EU-Mitgliedstaaten, wirtschaftliche und machtpolitische Geländegewinne zu realisieren. Nicht selten stützen sie sich dabei auf nationale Wettbewerbs-Pakte zwischen Kapital, Arbeit und Staat. Geprägt durch diese Konflikte, erscheint Europa immer seltener als harmonischer Staatenbund und immer öfter als Arena machtpolitischer Interessenkonflikte und nationaler Egoismen. Von daher verbinden die Beschäftigten den europäischen Binnenmarkt weniger mit einem Zuwachs an Wohlstand als mit erlebten Standort- und Arbeitsplatzverlagerungen, mit sozialer Prekarisierung und Abbau von Arbeitnehmerrechten. Die Folge: eine wachsende Europaskepsis - ablesbar in der Ablehnung des "EU-Verfassungsvertrages" in Kernländern wie Frankreich, den Niederlanden und Irland.
Europaskepsis als Zeitdiagnose_ Wie die politische Klasse insgesamt, so haben auch die Gewerkschaften bisher relativ hilflos auf diese Entwicklungen reagiert. Jedenfalls gerät ihre prinzipielle Europafreundlichkeit immer offensichtlicher in Konflikt mit der wachsenden Europaskepsis und den machtpolitischen Realitäten in Europa. Mehr noch: Im Zangengriff von Binnenmarktdynamik und forcierter Liberalisierungspolitik drohen den Gewerkschaften weitere Verluste an Mitgliedern, Verhandlungsmacht und politischem Einfluss. Irgendwann müssen sie sich und ihren Mitgliedern die Frage beantworten, warum Europaskepsis sowie die Kluft zwischen wirtschaftlicher und sozialer Integration immer größer werden - trotz der gewerkschaftlichen Gegenforderungen und unserem Werben für das Projekt Europa.
SYSTEMATISCHE VERSCHIEBUNG DER KRÄFTE_ Bei der Suche nach Antworten könnten die Forschungen des Kölner Max-Planck-Institutes für Gesellschaftsforschung hilfreich sein. So hat etwa Fritz W. Scharpf auf eine strukturelle "Asymmetrie" zwischen wirtschaftlicher und sozialer Integration verwiesen: Die institutionellen Entscheidungsregeln in Europa befördern die Integration von Märkten, während sie gleichzeitig Marktkorrekturen und die Entwicklung sozialer Standards blockieren. Konkreter: Während Wettbewerb und Binnenmarktintegration freie Fahrt haben, steht eine marktregulierende Sozialpolitik vor vielen Schranken. So müssen sich die mittlerweile 27 EU-Länder, darunter ausgebaute Wohlfahrtsstaaten und deregulierte Niedrigstlohnländer, trotz äußerst unterschiedlicher Ausgangsbedingungen und Interessenlage auf gemeinsame Sozialstandards einigen. Vetopolitiken und Blockaden sind da vorprogrammiert. Die Folge: In Europa schreiten Wettbewerb und die Integration von Märkten voran, während die Politik an Fähigkeit verliert, regulierend und korrigierend in die Marktprozesse einzugreifen.
Hinzu kommt eine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), der mit einigen Urteilen zu einer weiteren "Radikalisierung der Binnenmarktintegration", so Fritz Scharpf, beigetragen hat. In diesen hat der EuGH wiederholt den wirtschaftlichen Grundfreiheiten Vorrang gegenüber staatlichen und gewerkschaftlichen Einschränkungen der Wirtschaftsfreiheiten eingeräumt. Diese generelle Bevorzugung unternehmerischer Wettbewerbsinteressen vor den Verteilungs-, Beschäftigungs- und Sicherheitsinteressen der Beschäftigten sei jedoch weder durch die Europäischen Verträge noch durch den politischen Willen der europäischen Regierungen gedeckt. Damit überschreite der EuGH systematisch seine Kompetenzen.
Aber was tun? Aufgrund institutioneller Hürden und eines marktfixierten obersten Gerichtshofs scheint eine marktkorrigierende Sozialpolitik in Europa schlicht aussichtslos. Und die forcierte Binnenmarkt-Dynamik droht, die Basisinstitutionen des nationalen Sozialstaates und damit etwa das deutsche Tarifsystem und die Unternehmensmitbestimmung massiv zu beschädigen. Werden folglich institutionelle Machtpositionen, wirtschaftliche Verhandlungsmacht und politischer Einfluss der Gewerkschaften weiter schwinden?
Scharpfs Lösungsvorschläge provozieren. Die Mitgliedstaaten sollten auf "politisch konditionierte Abweichungsrechte" in den Europäischen Verträgen drängen, um auf nationalstaatlicher Ebene von Vorgaben des Europarechts abweichen zu können. Und sie sollten die Urteile des EuGH so lange nicht befolgen, bis geklärt ist, ob sie durch den politischen Willen des Gesetzgebers gedeckt sind.
SACKGASSE: WOHLSTANDSNATIONALISTISCHE EUROPAABLEHNUNG_ Man mag gegen die Scharpf'sche Strategieempfehlung einwenden, sie redete einer Re-Nationalisierung der Politik das Wort. Oder man mag kritisieren, sie sei offen für einen wohlstandsnationalistischen Protektionismus, der den deutschen Wettbewerbskorporatismus zwischen Kapital, Arbeit und Staat gegen unliebsame Konkurrenz verteidigen wolle, ohne die legitimen Aufholinteressen etwa der neuen EU-Mitgliedstaaten angemessen zu berücksichtigen. Gleichwohl taugen Scharpfs Analysen auch als Basis einer pro-europäischen Europakritik, die nicht auf eine Re-Nationalisierung, sondern auf einen neuen europäischen Entwicklungspfad zielt. Und die aus der Diagnose der macht- und sozialpolitischen Defizite des Integrationsprozesses Korrekturbedarfe ableitet. Nicht, um den Einigungsprozess zu stoppen oder zu diskreditieren. Wohl, um ihn neu zu programmieren. Für die Gewerkschaften dürfte ein prinzipiell-europakritischer Rückzug auf den Nationalstaat kein sinnvoller Weg sein. Unternehmensentscheidungen, Arbeitsmärkte und Verteilungskonflikte haben unumkehrbar die nationalstaatlichen Grenzen überschritten. Marktkorrigierende sozialpolitische Interventionen von Staaten und Gewerkschaften müssen dem folgen und ihren Transnationalisierungsrückstand aufholen.
DRAMATIK STRUKTURELLER SCHIEFLAGEN_ Dennoch: Die Kölner Analysen sollten als Schüsse vor den Bug einer allzu naiven Europafreundlichkeit verstanden werden. Sie verweisen darauf, dass das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Binnenmarkt und Sozialpolitik in der politischen Ökonomie des Integrationsprozesses und dem institutionellen Design der EU fest verankert ist. Und dass die Beschäftigten unter diesen Bedingungen weiterhin an Rechten und die Gewerkschaften an Verhandlungs- und Organisationsmacht verlieren werden.
Diese Situationsbeschreibung lässt die Dramatik der Lage und zugleich Defizite der bisherigen Positionierung der Gewerkschaften deutlich werden. Wenn fehlende Sozialstandards, Beschädigungen am nationalen Wohlfahrtsstaat und gewerkschaftlicher Machtverlust auf strukturelle Defekte im europäischen Integrationsprozess zurückzuführen sind, dann müssen auch die Gegenstrategien strukturverändernde Qualität haben. Eine Politik der sozialen Rhetorik, die vor allem normative Appelle an die europäische Entscheidungs-Elite richtet, wird dann den marktdominierten Einigungsprozess nicht auf eine sozialere Bahn lenken können. Was ansteht, ist eine strategische Neuausrichtung der gewerkschaftlichen Europapolitik.
DEMOKRATIE WIRD UNTERSPÜLT_ Auf dem gegenwärtigen Integrationskurs, so viel steht fest, läuft das europäische Projekt in die falsche Richtung. Bisher haben die Entscheidungs-Eliten auf Marktradikalisierung und Europaskepsis nicht mit einer Kurskorrektur, sondern mit einer forcierten Privilegierung ökonomischer Interessen und einer besorgniserregenden Missachtung demokratischer Prinzipien reagiert.
Im Zuge dieser Strategie ist Europa zu einem abgehobenen "Elitenprozess" (Max Haller) mutiert. Zu einem Europa, in dem die Institutionen der repräsentativen Demokratie äußerlich intakt bleiben, während demokratische Politik zunehmend unterspült wird durch eine Mixtur aus Passivität frustrierter Bevölkerungen, ausgeklügelten Polit-Techniken der Eliten und einer ausufernden politischen Lobbymacht transnationaler Konzerne. Der britische Soziologe Colin Crouch hat eine solche Konstellation als "Post-Demokratie" bezeichnet.
Fehlende sozialpolitische Regulierungen und die eklatante Demokratielücke sollten die Ansatzpunkte eines gewerkschaftlichen Strategiewechsels in der Europapolitik sein. Die naive Europafreundlichkeit muss einem reflektierten Europarealismus weichen. Einem strategischen Realismus, der nicht in die Falle einer europafeindlichen Re-Nationalisierung tappt, aber auch keine Illusionen über Stellenwert und Erfolgschancen von Arbeitnehmerinteressen in einem marktdominierten und politikverflochtenen Europa hegt. Ein Realismus, der durch strukturverändernde Reformen auf die Korrektur des Sozial- und Demokratiedefizits zielt. In der politischen Praxis wird das eine Mehrebenen-Strategie erfordern. Da ein europäischer Sozialstaat auf absehbare Zeit nicht realistisch ist, erhalten Verteidigung und Weiterentwicklung der nationalen Sozialmodelle zusätzliche Dringlichkeit. Dazu müssten gleichwohl auf europäischer Ebene Mindeststandards und Bestandszusagen in der Steuer-, Sozial- und Mitbestimmungspolitik durchgesetzt werden, um die sozialstaatlichen Basisinstitutionen in den Mitgliedstaaten aus dem wirtschaftlichen und institutionellen Dumpingwettbewerb herauszuholen und neue Spielräume für Marktkorrekturen zu eröffnen.
Dies liefe auf die Weiterentwicklung dessen hinaus, was als Europäisches Sozialmodell bezeichnet werden kann - trotz der "Heterogenität europäischer Spielarten des Kapitalismus", die Martin Höpner und Armin Schäfer in ihrem Buch herausstellen. Dieses europäische Sozialmodell besteht im Kern aus europaweit geteilten Sicherheits- und Gerechtigkeits-Ansprüchen an die Nationalstaaten und entsprechenden Verteilungs- und Sozialrechtssystemen, die sich gleichwohl in unterschiedlichen institutionellen Regimes realisieren.
Um weiteren Schaden zu vermeiden, muss zugleich jene Strategie des EuGH politisch korrigiert werden, die die Durchschlagskraft des europäischen Wettbewerbsrechts zulasten der nationalen Arbeits- und Sozialverfassungen stärkt. Dazu könnten die Scharpf'sche Gehorsamsverweigerung oder die Aufnahme einer "sozialen Fortschrittsklausel" in den Lissabonner Vertrag, wie es der DGB fordert, beitragen. Zugleich könnten die steuer-, sozial- und arbeitspolitischen Mindeststandards auf europäischer Ebene als relative, wirtschaftskraftorientierte Standards definiert und auf nationalstaatlicher Ebene konkretisiert werden, um so den unterschiedlichen ökonomischen Entwicklungsniveaus der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen. In Bedarfsfällen sollte ihre Implementierung in wirtschaftlich schwächeren Ökonomien temporär subventioniert werden.
Doch eines muss klar sein: Fortschritte im sozialpolitischen Feld setzen Fortschritte bei der Demokratisierung Europas voraus. Die Beteiligungsinteressen der Bevölkerungen brauchen neue Einflusskanäle in die europäische Entscheidungsmaschinerie. Nur so können sie sich Geltung verschaffen gegen die Verteilungs- und Machtinteressen der Wirtschafts- und Politikeliten. Europa muss sich von einem Eliteprojekt zu einem Beteiligungs- und Zustimmungsprojekt wandeln!
Notwendig dafür sind sicherlich institutionelle Reformen wie die Stärkung des Europäischen Parlamentes und die generelle Entflechtung institutioneller Entscheidungsstrukturen. So sollten Mehrheitsentscheidungen auf weitere Felder der Sozialpolitik ausgedehnt werden, um marktkorrigierende EU-Politik zu erleichtern.
Doch Colin Crouchs Mahnung vor einem postdemokratischen Europa verweist zugleich auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Voraussetzungen für mehr Demokratie. Der direkten Beteiligung der Bevölkerungen an Entscheidungen von grundlegender Bedeutung könnte hier eine Schlüsselfunktion zukommen. Die Plebiszite über den EU-Verfassungs-Vertrag oder gesellschaftliche Protestbewegungen gegen die "Europäische Dienstleistungsrichtlinie" mögen in ihren Resultaten auf Kritik stoßen. Aber sie haben "Europa" in nahezu allen Mitgliedstaaten wie nie zuvor zum Thema gemacht.
MEHR DEMOKRATIE, MEHR DISKURS_ Dies verweist auf die Dringlichkeit einer "europäischen Öffentlichkeit" - als Sphäre der demokratischen Politikkontrolle, reformpolitischer Diskurse und der Herausbildung einer transnationalen Zivilgesellschaft. Diese europäische Öffentlichkeit muss die entscheidende Frage bearbeiten: Soll Europa weiter zu einem Projekt marktgetriebener Deregulierung und Liberalisierung degenerieren? Oder eröffnet eine politische Reformkoalition neue Perspektiven eines sozialen und demokratischen Projekt des regulierten Kapitalismus?
Die Gewerkschaften sollten sich in diesem Sinne als Teil einer diskursiven Demokratisierung verstehen. Etwa mit ihren Informations- und Koordinationsstrukturen auf Betriebsebene. Europäische Betriebsräte und die Koordinierung gewerkschaftlicher Tarif- und Sozialpolitiken über die Europäischen Gewerkschaftsbünde stellen Fäden eines europaweiten Kommunikationsnetzwerkes dar. Dies gilt es auszubauen. Das würde demokratische Diskurse und transnationale gewerkschaftliche Verhandlungsmacht zugleich stärken.
Entscheidend wird sein: Dass die Gewerkschaften die gegenwärtige Entwicklungsrichtung Europas ungeschminkt zur Kenntnis nehmen und mehr strategischen Mut aufbringen, an den macht- und demokratiepolitischen Voraussetzungen für ein soziales Europa zu arbeiten. Ansonsten dürfte dieses eine politische Fata Morgana bleiben - und die Gewerkschaften weiter an Macht verlieren.
Mehr Informationen
Hans-Jürgen Bieling/Christian Deckwirth/Stefan Schmalz (Hg): Liberalisierung und Privatisierung in Europa.
Münster, 2008
Martin Höpner/Armin Schäfer (Hg.): Die Politische Ökonomie der europäischen Integration. Frankfurt/M., 2008
Hans-Jürgen Urban: Gewerkschaftliche Revitalisierung in einem post-demokratischen Europa?, in: D. Scholz u.?a., Europa sind wir. Gewerkschaftspolitik für ein anderes Europa (im Erscheinen 2009)