Quelle: Stephen Petrat
Magazin MitbestimmungForschung: Den Anderen nicht als Feind sehen
Das Gefühl der gesellschaftlichen Spaltung ist nicht neu, aber es wächst rasant. Helfen könnten mehr soziale Durchlässigkeit, eine gerechtere Verteilung der Lasten und eine Utopie. Von Fabienne Melzer
„Fast überall auf der Welt ist heute anstelle des Dialogs die Polemik getreten. (…) Tag und Nacht halten Tausende von Stimmen, jede von ihrem Standpunkt aus, einen lärmenden Monolog und lassen über die Völker eine Flut irreführender Phrasen, Attacken, Gegenattacken und Übertreibungen niedergehen. (…) Ihr Kennzeichen ist, den Gegner als Feind zu betrachten, ihn damit auf einen einfachen Begriff zu bringen und sich zu weigern, ihn zu sehen.“ Was fatal an Kommentarspalten in den virtuellen Medien des 21. Jahrhunderts denken lässt, stammt aus dem Jahr 1948. Mit diesen Worten beschrieb der französische Schriftsteller Albert Camus den Zustand der Gesellschaften im beginnenden Kalten Krieg.
Auch heute haben Menschen zunehmend das Gefühl, dass das Gegeneinander ein gesellschaftliches Miteinander überwiegt. Eine Welt in der Dauerkrise birgt offenbar Sprengstoff. Konflikte entzünden sich an Fragen des Klimawandels,
der Haltung zu Flüchtlingen und Zuwanderern, an Einstellungen zu Coronamaßnahmen und politischen Überzeugungen generell. In der aktuellen Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung sagten fast die Hälfte der Befragten, dass sie sich um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen. In der ersten Befragung im April 2020 lag der Anteil bei 24 Prozent – eine Verdoppelung in nur drei Jahren.
Egal wer die Menschen derzeit fragt, überall zeigt sich ein ähnliches Bild. Der Verein More in common, der sich mit Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts beschäftigt, stellt fest: „‚Gespalten‘ ist mittlerweile die Eigenschaft, an die Menschen im Schnitt am häufigsten denken, wenn sie Deutschland beschreiben sollen.“ Auf die Frage, was Menschen in Deutschland am meisten trennt, gaben bei einer Befragung der Roland-Versicherung 71 Prozent die soziale Herkunft und 70 Prozent das Einkommen an.
Dorothee Spannagel forscht am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zu sozialer Ungleichheit und beobachtet, dass soziale Milieus immer mehr unter sich bleiben. Die Gesellschaft sei im Vergleich zu den 1970er Jahren insgesamt weniger durchlässig geworden. Sozialer Aufstieg gelingt immer weniger durch Bildung und Einkommen. „Immer mehr Menschen verbleiben dauerhaft in ihrer Einkommensposition“, sagt Spannagel.
Gleichzeitig sorgt die Lage auf dem Wohnungsmarkt für Konflikte und eine räumliche Spaltung sozialer Gruppen. Der Wohnungsbau hinkt seit Jahren dem Bedarf hinterher. Die Bundesregierung hat 2022 ihr selbst gestecktes Ziel von 400 000 Neubauten gerissen und nur 295 000 neue Wohnungen errichtet. In diesem Jahr könnte die Zahl noch niedriger ausfallen mit schätzungsweise 223 000 Neubauten. Bezahlbare Wohnungen sind vor allem in Städten Mangelware. Menschen mit geringem Einkommen können sich viele Viertel nicht mehr leisten. So bleiben sie in ihrem Wohnumfeld zunehmend unter sich. Dorothee Spannagel stellt fest: „Freundeskreise werden tendenziell homogener. Menschen kennen fast nur noch Menschen ihrer eigenen sozialen Schicht.“
Eine Rolle spielt dabei auch der Heiratsmarkt. „Auch wenn es wie ein Klischee klingt“, sagt die WSI-Forscherin, „aber bis in die 1980er Jahre heiratete der Arzt tatsächlich die Krankenschwester. Heute heiratet der Arzt die Ärztin und die Krankenpflegerin den Krankenpfleger.“ Allerdings steckt dahinter auch eine positive Entwicklung: Ärzte können heute Ärztinnen heiraten, weil es sie gibt, weil inzwischen viel mehr Frauen studieren. Die Kehrseite: Verschiedene soziale Gruppen mischen sich auch in der Familie kaum noch.
Selbst in der Arbeitswelt begegnen sich Menschen seltener außerhalb ihrer eigenen sozialen Gruppe. Einen Grund dafür sieht Natalie Grimm vom Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen unter anderem im Outsourcing. Reinigungs- und Küchenkräfte arbeiten oft bei externen Dienstleistern. Auf Betriebsversammlungen oder Weihnachtsfeiern begegnen Beschäftigte aus Verwaltung oder Produktion ihnen nicht mehr. Auch mit der Ausweitung mobiler Arbeit nehmen die zufälligen sozialen Begegnungen ab. Menschen erledigen immer mehr Dinge von zu Hause aus und bewegen sich weniger im öffentlichen Raum.
Natalie Grimm gehört zu einem bundesweiten Team, das am Forschungsinstitut für Gesellschaftlichen Zusammenhalt (FGZ) Spaltungen und deren Ursachen erforscht. „Die Gründung des Instituts 2020 war auch eine Reaktion auf wachsende Konflikte in der Gesellschaft“, sagt Grimm. Sie befragt regelmäßig Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Alters und Geschlechts und stellt fest: „Die meisten sehen nur ihre Probleme, ihre persönliche Benachteiligung. Sie sehen, dass andere besser verdienen oder von der Politik bevorzugt werden. Nur wenige sehen das Gemeinsame.“
Es fehlt eine Utopie. Uns wird nur erzählt, was wir alles nicht mehr dürfen, was uns weggenommen wird. Wichtiger wäre es, ein Bild zu entwerfen, was wir gewinnen können.“
Das könnte auch daran liegen, dass vor allem Belastungen nicht gemeinsam getragen werden. Unter den Coronamaßnahmen litten einige mehr als andere. „Bildungsungleichheit wurde durch Homeschooling verschärft“, sagt Dorothee Spannagel vom WSI. Kurzarbeit in der Pandemie traf Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen, die schon in Vorkrisenzeiten kaum über die Runden kamen, besonders hart. Nun fallen bei ihnen auch die Lasten des Ukrainekrieges höher ins Gewicht. Viele haben von den wirtschaftlichen Erfolgen der 2010er Jahre nichts gespürt und wenden sich von dem System ab, weil es für sie nicht funktioniert. In der Politik vermisst Dorothee Spannagel den Willen, sich um diese Gruppe zu kümmern. Von einer tiefen Spaltung der Gesellschaft will die WSI-Forscherin noch nicht sprechen. „Aber es zeigen sich deutliche Risse.“
Etwa beim Vertrauen der Menschen in Institutionen, ein Indikator für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Am wenigsten Vertrauen genießt inzwischen die Bundesregierung. Gaben bei der WSI-Befragung im Herbst 2021 noch 21 Prozent an, sie haben großes oder sehr großes Vertrauen in die Bundesregierung, sackte der Anteil im Sommer 2023 auf 14 Prozent. In der Studie von More in common glaubten nur 17 Prozent, dass die Politik sich dafür interessiere, was Leute wie sie denken. Das Gefühl könnte nicht ganz unbegründet sein. Schließlich gilt für Menschen in der Politik auch nichts anderes als für den Rest der Gesellschaft: Ihr privates Umfeld wird homogener.
Um positiv in die Zukunft zu blicken, muss der Staat das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Dafür braucht es auch eine funktionierende Infrastruktur. Die Menschen müssen erleben, dass der Zug pünktlich fährt, die Kita mehr als eine Notbetreuung bietet und die Mülleimer im Park nicht überquellen. Dorothee Spannagel vom WSI sieht hier großen Nachholbedarf. Gesundheit dürfe nicht vom Geld abhängen, Bildung nicht von der Herkunft. Der Staat müsse die Infrastruktur bereitstellen, die allen eine Chance bietet, und Lasten wieder gerechter verteilen.
Denn auch wenn in der öffentlichen Wahrnehmung die Konflikte überwiegen, teilen viele immer noch die gleichen Werte, etwa das Ideal des demokratischen Aushandelns von Kompromissen, wie die Pilotstudie des Forschungszentrums für Gesellschaftlichen Zusammenhalt zeigt. Auch der Klimaschutz hat in der Sache an sich verbindendes Potenzial, stellt die Organisation More in common fest, birgt aber gleichzeitig Zündstoff. Immerhin 43 Prozent empfinden die Gesellschaft beim Klimaschutz als gespalten.
Hier fehlt offenbar das Verbindende oder, wie Natalie Grimm vom SOFI sagt: „Es fehlt eine Utopie. Uns wird nur erzählt, was wir alles nicht mehr dürfen, was uns weggenommen wird. Wichtiger wäre es, ein Bild zu entwerfen, was wir gewinnen können.“ Gerade in Zeiten der Dauerkrisen müsse Politik den Menschen starke Zukunftsbilder anbieten, schreibt die Organisation More in common. Sonst verstärke eine Politik des Klein-Kleins oder die Rede von der großen Transformation das Misstrauen in einer ohnehin verunsicherten Gesellschaft. „Die Menschen wissen durchaus, dass die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ihren Preis auch für das eigene Leben haben werden – sie wollen auf dem Weg dorthin aber auch attraktive Leitbilder“, heißt es in ihrem Bericht.
Wir müssen mit den Menschen im Gespräch bleiben und dürfen sie nicht vor den Kopf stoßen.“
Und was bedeutet es für Gewerkschaften, wenn der Zusammenhalt schwindet? Isabel Eder vom DGB in Berlin sagt: „Wir können das Verbindende in einer auseinanderfallenden Welt sein, weil wir im Arbeitsumfeld wirken und gestalten.“ Sie leitet die Abteilung Recht und Vielfalt beim DGB-Bundesvorstand. Gerade angesichts der multiplen Krisen, wo Betriebe auf der Kippe stehen, komme es mehr denn je auf Zusammenhalt an. Steigende Mitgliederzahlen bei einigen Gewerkschaften stimmen sie daher hoffnungsvoll. „Das Wichtigste ist“, sagt Isabel Eder, „dass wir mit den Menschen im Gespräch bleiben und sie nicht vor den Kopf stoßen. Unsere Stärke ist Gemeinschaft.“
Rafael Jenek ist stellvertretender Betriebsratsvorsitzender beim Chemieunternehmen Evonik am Standort Essen Goldschmidtstraße und erlebt, wie am Arbeitsplatz unterschiedliche Weltsichten aufeinanderprallen. Da geraten Wünsche nach modernen Lebensentwürfen mit traditionellen Vorstellungen und betrieblichen Erfordernissen aneinander. Dann ist Rafael Jenek als Vermittler gefragt. „Wir müssen uns jede Seite anhören, und sie müssen aufeinander zugehen“, sagt er. Seine Zauberformel heißt: Kompromiss durch Dialog.
Oder wie es Albert Camus 1946 formulierte: „Wir müssen vielmehr bestrebt sein, die Kritik nie in Beleidigung ausarten zu lassen, wir müssen als möglich annehmen, dass unsere Gegner recht haben oder zumindest, dass auch ihre schlechten Gründe uneigennützig sein können.“
Weitere Informationen:
- Ergebnisse der Erwerbspersonenbefragung des WSI
- Polarisierungs- und Spaltungstendenzen in Deutschland ausgewählte Ergebnisse der FGZ-Pilotstudie 2020