Quelle: Stephen Petrat
Magazin MitbestimmungFörderung: „Demokratie steckt immer drin“
Die Studien- und Promotionsförderung will ihre geförderten Studierenden für aktuelle und künftige Herausforderungen wappnen – und lockt sie dafür auch aus der eigenen Komfortzone. Von Kevin Gallant
Nicht mehr alle politischen Fragen können auf nationaler Ebene beantwortet werden, sei es die Klima-, Sozial- oder Wirtschaftspolitik, die Risiken und Chancen der Digitalisierung oder eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Viele aktuelle Probleme in Europa lassen sich nur gemeinschaftlich lösen.
Um sich Schritt für Schritt Antworten zu nähern, organisiert die Studien- und Promotionsförderung der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung etwa regelmäßige Reisen nach Brüssel für ihre Stipendiatinnen und Stipendiaten. Parlamentsbesuch, Stadtführungen, Projekte, Diskussionen: Die Geförderten sollen mehr über die dortige Politik erfahren – von denen, die sie machen. Sarah Winter, Referatsleiterin Alumni, begleitet die Reisen nach Brüssel regelmäßig. Sie sagt: „Dabei diskutieren wir nicht pauschal über Europa, sondern setzen thematische Schlaglichter. Zuletzt ging es etwa um die Kandidatur von Ursula von der Leyen als Präsidentin der Europäischen Kommission.“
Meist springen bei einer solchen Reise zwar keine klaren Antworten auf die drängenden Fragen heraus, dafür aber eine wichtige Erkenntnis: „Wir alle hier sind für Europa“, sagt Winter. „Wir sind uns darin einig, dass wir für Europa kämpfen müssen – auch, wenn man sich dafür mit extrem schwierigen Themen beschäftigen muss.“
Eines davon kam etwa bei einer anderen Reise nach Brüssel auf, als die Geförderten mit der Europaabgeordneten und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, über den europäischen Migrationspakt und die Außengrenzen diskutierten. „Barley hat eine andere Meinung vertreten als viele unserer Stipendiatinnen und Stipendiaten, aber alle haben sich trotzdem auf Augenhöhe ausgetauscht“, sagt Winter. „So sollten demokratische Diskurse laufen, gerade in so wichtigen Parlamenten.“
Die EU hat mich schon im Studium beschäftigt. Spannend war aber, einmal selbst nach Brüssel zu reisen und etwa mit Abgeordneten und Referenten ins Gespräch zu kommen und zu verstehen, wie EU-Politik aus der Perspektive von den Leuten gesehen wird, die sie machen. Das zeigte mir noch vertiefender, wie schwierig es sein kann, politische Kompromisse zu finden, weil mehr unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen als im Nationalen.“
Genau das zu vermitteln sei ein wichtiger Teil der ideellen Förderung der Stiftung – das „Herzstück“ des Stipendiums, wie Winter sagt: sich mit Positionen auseinanderzusetzen, denen man selbst nicht nahesteht. Oder sie zumindest auszuhalten. Ihr Kollege Alexander Kejo, Referent in der Studienförderung, ergänzt: „Nicht nur im eigenen Saft zu schwimmen, das gehört auch zur Demokratie. Und dann zählt, wer das beste Argument hat – so schafft man es, Demokratie zu leben und zu gestalten.“
Generell gehe es darum, die geförderten Studierenden aus ihrer Komfortzone zu holen und sie mit Themen zu konfrontieren, die hart und komplex sind. Mit ihrem Seminarangebot will die Studien- und Promotionsförderung aufzeigen, welche Themen bewegen, wo man sich für andere Menschen einsetzen kann, und die Studierenden direkt dorthin führen. Es soll gezeigt werden, dass sich die Herausforderungen der Zukunft auch als Nationalstaat nur mit einer globalen Perspektive verstehen und lösen lassen. So reisten die Geförderten bis zuletzt etwa regelmäßig nach Israel oder nach Bangladesch, wo 2013 eine Textilfabrik eingestürzt war und über 1000 Menschen getötet wurden.
„Demokratie lernen und stärken steckt bei uns immer drin, selbst, wenn es bei unseren Seminaren nicht immer oben draufsteht – denn wir als Begabtenförderungswerk haben mit unserer ideellen Förderung einen klaren Auftrag“, sagt Sarah Winter. Und der lasse sich auf zwei Worte herunterkürzen: Nie wieder. Während des Nationalsozialismus gab es keine Begabtenförderungswerke mehr. Erst mit Gründung der Bundesrepublik wurden sie wieder eingerichtet. Gesellschaftliche Entscheidungsträger sollten nicht länger nur aus einer sozialen Schicht kommen, sondern in den verschiedenen Förderungswerken nach dem jeweiligen Wertekanon ausgebildet werden. Heute hat Deutschland 13 dieser akademischen Begabtenförderungswerke, die etwa zu Parteien, Religionen oder eben Sozialpartnern gehören. Und alle davon haben laut Winter das Ziel, Menschen bei der Gestaltung einer pluralistischen und damit auch demokratischen Gesellschaft zu unterstützen.
„Die Zeit in Yad Vashem, Israel, hat mir die Shoa anders vermittelt als deutsche Geschichtsbücher. Die jüdische Perspektive hat auch meinen Blickwinkel verändert. In Deutschland geht es mehr um die großen Zahlen, bei dem Seminar in Jerusalem haben wir über Einzelschicksale gesprochen. Es war sehr eindrücklich, zu erfahren, wie einzelne Personen während der NS-Zeit gehandelt haben und welche unmittelbaren Konsequenzen das hatte.“
Demokratie ist tägliche Arbeit
Die für die Studien- und Promotionsförderung wichtigen Themen finden sich auch in Deutschland, daher haben auch viele Seminare einen nationalen Bezug: Marginalisierte Gruppen werden immer öfter Opfer von Rassismus, Antisemitismus oder anderen Arten rechter Gewalt, ob physisch oder psychisch. „Unsere Seminare sollten Strukturen offenlegen, die vielen gar nicht bewusst sind“, sagt Alexander Kejo. „Nach dem Motto: Wenn ich selbst nicht betroffen bin, habe ich keine Ahnung davon.“ Das Seminar beschäftigte sich etwa damit, wo Betroffene Unterstützung finden und was man als Einzelperson, Gruppe oder sogar als Gesellschaft gegen diese Übergriffe tun kann.
Nicht gewöhnlich
Olga Timochin, Referatsleiterin in der Studienförderung, fuhr unter anderem mit einer Gruppe zum Internationalen Strafgerichtshof nach Den Haag. „Unsere Seminare sind keine, die man für gewöhnlich an der Uni besuchen kann“, sagt sie. Alle Seminare sind als Initialzündung zu verstehen, sich intensiver mit Themen zu beschäftigen. In Den Haag sprachen die Studierenden mit Beschäftigten über Struktur, Möglichkeiten und Grenzen des Gerichtshofs oder besuchten Verhandlungen, etwa zu den mutmaßlichen Kriegsverbrechen im Sudan. „Der Gerichtshof ist eine interessante Institution, weil wichtige Länder wie die USA ihn auf der einen Seite gar nicht ratifiziert haben, er auf der anderen Seite dennoch das beste Weltgericht ist, das wir aktuell haben“, sagt Timochin. „Auch hier zeigt sich, dass es harte Arbeit ist, Demokratie zu gestalten.“
Dass diese Arbeit nicht immer erledigt wurde, zeigte sich laut Alexander Kejo auch bei einem Seminar in Ungarn. Dort beschäftigte er sich mit einer Gruppe von Studierenden mit der Frage, wie Menschen in Ungarn die Politik ihres Landes wahrnehmen, auch in Europa. Heraus kam, dass viele sich überhaupt nicht von der Politik Orbans vertreten fühlen und zum Teil sogar resignieren: „Viele eigentlich engagierte Leute ziehen sich zurück, weil sie glauben, dass es nichts bringt, noch gegen diese Politik anzukämpfen“, sagt Kejo. „Aus der Ferne bekommt man das nicht in dieser Intensität mit, da helfen diese Seminare.“ Deswegen will er in diesem Jahr mit einer weiteren Gruppe auch noch nach Brasilien reisen, um zu erkunden, wie sehr Ex-Präsident Jair Bolsonaro die Gesellschaft gespalten hat – und inwiefern das in einem Land mit so vielen unterschiedlichen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen wieder geradegerückt werden kann.
Für Olga Timochin ist klar: „Die Demokratie ist tägliche Arbeit und muss gepflegt werden.“ Es sei wichtig, was bereits erreicht wurde, zu erhalten und sich den aktuellen und künftigen Herausforderungen zu stellen – am besten gemeinsam mit der jungen Generation.
„Die Stipendiaten und Stipendiatinnen durften das Seminar mitgestalten und mitentscheiden, welche Gäste zu den Gesprächen eingeladen werden. Auch das ist für mich eine Art von demokratischem Prozess. Verschiedene Herkünfte und kulturelle Hintergründe sorgen dafür, dass die Seminare so vielfältig wie möglich werden. Angesichts des Rechtsrucks in Deutschland war es wertvoll, einen Ort zu schaffen, an dem wir darüber sprechen können. Für mich ist das besonders wichtig, denn ich komme aus Syrien, einer Diktatur.“