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Magazin Mitbestimmung

: Das soziale Europa findet nicht statt

Ausgabe 05/2008

RECHT Mit den Urteilen zu Viking und Laval hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) streikende Gewerkschaften in die Schranken verwiesen - im Namen von Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit.

Von Martin Höpner. Der Autor ist Politikwissenschaftler am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Mitherausgeber eines Sammelbandes zur Politischen Ökonomie der Europäischen Integration.

Die Fälle sind schnell erzählt. Finnland und Estland trennen nur 80 Kilometer Ostsee. Viking, ein Fährunternehmen finnischen Rechts, plante unter Anwendung der in Art. 43 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) vereinbarten Niederlassungsfreiheit die Umflaggung eines seiner Schiffe auf estnisches Recht, um die Verpflichtung auf Einhaltung finnischer Tarifverträge zu umgehen. Die zuständige finnische Gewerkschaft reagierte empört und drohte mit Streik, um Viking auch im Fall einer Umflaggung auf Einhaltung der Arbeitsstandards zu verpflichten.

Der transnationale Gewerkschaftsverband ITF, der gegen Billigflaggen-Strategien kämpft, warb unter seinen nationalen Mitgliedsverbänden dafür, nicht mit Viking zu verhandeln und damit womöglich die finnischen Standards zu unterlaufen. Dem EuGH wurde die Frage vorgelegt, ob der Arbeitskampf der Gewerkschaften im Einklang mit den europäischen Verträgen stand. Garantierte die europäische Niederlassungsfreiheit Viking nicht das Recht, transnationale Lohnunterschiede durch Umflaggung gezielt auszunutzen?

Szenenwechsel: Auch Lettland und Schweden sind Nachbarn an der Ostsee. In Wahrnehmung der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 des EGV entsandte Laval, ein Bauunternehmen nach lettischem Recht, Arbeitnehmer zum Bau einer Schule an ein schwedisches Tochterunternehmen ins schwedische Vaxholm. Die zuständige Bauarbeitergewerkschaft leitete Arbeitskampfmaßnahmen ein, die zum Ziel hatten, das Unternehmen zu Verhandlungen zu bewegen und auf den schwedischen Bautarifvertrag zu verpflichten. Laval hielt die kollektiven Maßnahmen für illegal.

Die schwedische Polizei stellte sich auf den Standpunkt, die von der Gewerkschaft organisierte Blockade sei nach nationalem Recht zulässig, und verweigerte dem Unternehmen den geforderten Beistand. Auch dieser Fall landete vor dem EuGH. Der Reiz der Anwendung der Niederlassungsfreiheit lag für Laval ja gerade darin, nicht auf schwedische Lohn- und Arbeitsniveaus verpflichtet zu sein. Und die Dienstleistungsfreiheit war durch die europäischen Verträge garantiert. Durfte die schwedische Gewerkschaft Arbeitskampfmaßnahmen organisieren, durften die schwedischen Behörden das zulassen?

FOLGENREICHES GRUNDSATZURTEIL_ Die EuGH-Richter verkündeten ihre Entscheidungen am 11. Dezember 2007 (C-438/05, Viking) und am 18. Dezember 2007 (C-341/05, Laval). Wichtig sind vor allem zwei Punkte. Erstens: Ja, das Streikrecht ist als Grundrecht Bestandteil des Rechtsapparates der Europäischen Union. Zweitens und vor allem aber: Die Ausübung des Streikrechts darf die in den Verträgen festgelegten "vier Freiheiten" - neben der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit sind dies der freie Waren- und Personenverkehr - nicht über Gebühr einschränken.

Eine Behinderung dieser Freiheiten sei nur vertretbar, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses dies notwendig machten, "vorausgesetzt, es ist erwiesen, dass sie geeignet sind, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und dass sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist" (Leitsatz 3 des Viking-Urteils). Das Streikrecht sei, mit anderen Worten, dem Anwendungsbereich der "vier Freiheiten" nicht entzogen.

Den Fall Viking verwies der EuGH nach Verkündigung dieser Grundsätze in die Zuständigkeit nationaler Gerichte, legte diesen aber hohe Hürden bei der Beurteilung der "zwingenden Gründe" auf. Im Fall Laval erklärten die Richter die Blockade der schwedischen Arbeitnehmervertreter für mit europäischem Recht unvereinbar. Die Arbeitskampfmaßnahme, die geeignet war, Laval die Wahrnehmung der Dienstleistungsfreiheit "weniger attraktiv zu machen, ja sogar zu erschweren" (Randnummer 99), sei nicht durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gedeckt gewesen.

Für die Streikrechte vieler Mitgliedsländer hat dieses Urteil weit reichende Auswirkungen, war - wie auch in Deutschland - eine Verhältnismäßigkeitskontrolle von Streiks in ihnen doch bisher unüblich oder gänzlich unbekannt. Robert Rebhahn hat diese Auswirkungen in den Wirtschaftsrechtlichen Blättern erläutert (siehe "Mehr Informationen"). Treten wir einen Schritt zurück und überlegen, was hier eigentlich passiert.

Das Streikrecht ist als Waffe der Beschäftigten im strukturellen, asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnis kapitalistischer Arbeitsverträge ein hohes Gut. In Deutschland geht es aus den Grundsätzen des freiheitlichen sozialen Rechtsstaats und der Koalitionsfreiheit hervor, genießt also Verfassungsrang, steht nicht unter dem Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung und kann nicht angetastet werden. Vor vielen Jahren schlossen (heute schon lange abgewählte) Regierungen Verträge, die zum Ziel hatten, die Handelsschranken zwischen den Mitgliedstaaten abzubauen und einen gemeinsamen europäischen Markt zu verwirklichen.

Bei Investitionen, auf Arbeitsmärkten, im Güterverkehr und bei Dienstleistungen sollten Bürger anderer Mitgliedsstaaten nicht schlechter gestellt sein als Inländer. Mit dem Schutz der Verträge wurden europäische Institutionen - die Kommission und der Gerichtshof - beauftragt. Sie verfügen lediglich über eine aus den Verträgen abgeleitete, nicht also direkte Legitimation. Mit der Zeit schwammen sich Kommission und Gerichtshof zunehmend aus der Kontrolle durch die Mitgliedstaaten frei und verschoben die Grenzen zwischen nationalem und europäischem Recht immer weiter zu Ungunsten der Mitgliedsländer.

Sie sprachen den "vier Freiheiten" den Rang einer supranationalen Verfassung zu, die über den nationalen Rechtssystemen, im Zweifel sogar über deren Verfassungen rangierte und leiteten aus ihnen das Recht ab, ohne weitere Rücksprache mit den Mitgliedstaaten Liberalisierungsmaßnahmen einzuleiten, die auf nationaler Ebene politisch niemals durchsetzbar gewesen wären. Der Kölner Politikwissenschaftler Fritz Scharpf spricht von der "Konstitutionalisierung des Wettbewerbsrechts". Das geht nicht, möchte man naiv einwenden - aber es geht, so lange niemand ernsthaft dagegen protestiert.

BAUSTEINE DER EU-LIBERALISIERUNGSPOLITIK_ Die Urteile zu Viking und Laval sind ein Baustein in einer langen Geschichte rechtlich - nicht politisch! - durchgesetzter europäischer Liberalisierungspolitik durch Kommission und EuGH. Sie besagen im Kern, dass sich die nationalen Streikrechte den in den europäischen Verträgen vereinbarten "vier Freiheiten" unterordnen müssen.

Stationen in der Geschichte europäischer Liberalisierungspolitik sind die Liberalisierung des Telekommunikationswesens, des Luft- und Güterverkehrs, der Energiemärkte und des Postwesens, zudem die Aufhebung des Arbeitsvermittlungsmonopols der ehemaligen Bundesanstalt für Arbeit sowie Beschränkungen der Stellung des öffentlichen Rundfunks und der Gewährleistungshaftung öffentlicher Gebietskörperschaften für Landesbanken und Sparkassen. Eingehende Diskussionen dieser Vorgänge finden sich in den Schriften Fritz Scharpfs.

Mit den Rechtssachen Centros, Überseering und Inspire Art sprach der EuGH den Mitgliedstaaten das Recht ab, Unternehmen, die ausschließlich auf dem Hoheitsgebiet der jeweiligen Länder tätig sind, auf das jeweilige inländische Gesellschaftsrecht zu verpflichten - mit bis heute unklaren Auswirkungen auf die Arbeitnehmermitbestimmung auf Unternehmensebene. Unlängst erklärte der EuGH außerdem die an öffentliche Aufträge geknüpfte Auflage zur Orientierung an Tariflöhnen für mit der Dienstleistungsfreiheit unvereinbar.

Die "vier Freiheiten" sind nichts anderes als die Freiheit kapitalistischer Betätigung. Die Vorstellung, dieser Freiheit müsse sich das Streikrecht unterordnen, erscheint aus nationaler Sicht abwegig. Denken wir uns die europäische Dimension für einen Augenblick weg und stellen uns vor, ein deutsches Gericht erlege den Gewerkschaften auf, auf Arbeitskampfmaßnahmen zu verzichten, wenn dies die unternehmerischen Freiheiten behindere, es sei denn, diese Behinderung sei durch "zwingende Gründe des Allgemeinwohls" gerechtfertigt.

Was für ein Aufschrei wäre die Folge! Nichts anderes aber geschieht hier auf europäischer Ebene. Mit den Worten der Bremer Rechtswissenschaftler Christian Joerges und Florian Rödl: eine "Relativierung des Streikrechts durch eine Unternehmerfreiheit von verfassungsmäßigem Rang". Wenn schwedische oder finnische Gewerkschaften nicht mehr das Recht haben sollen, sich gegen gezielte Ausnutzungen des Europarechts zur Umgehung nationaler Tarifverträge durch Arbeitskampf zur Wehr zu setzen - was sollte das anderes sein als die Behauptung eines Grundrechts auf ungestörtes Sozialdumping?

Ein solches Grundrecht gibt es nicht - und der EuGH ist durch nichts und niemanden legitimiert, es zu verkünden. Oder die nationalen Streikrechte oder andere grundrechtlich geschützte Errungenschaften umzuorganisieren. Denn ihre Vergemeinschaftung ist nicht Gegenstand der europäischen Verträge. Das gesamte Arbeits- und Sozialrecht dient allein dem Ziel, der Freiheit kapitalistischer Betätigung Grenzen zu setzen und es in sozialverträgliche Bahnen zu lenken. Wird es der Freiheit kapitalistischer Betätigung untergeordnet, lässt es sich im Prinzip Stück für Stück aushebeln.

Warum - so ein Beispiel des Wiener Arbeits- und Sozialrechtlers Robert Rebhahn - sollten Lokführer ein Recht auf Streik haben, wenn sie doch damit den - innerstaatlichen oder grenzüberschreitenden - Warenverkehr behindern? Wegen ein paar Euro mehr, also gewiss nicht aus "zwingenden Gründen des Allgemeininteresses"? Ließe sich im Fahrwasser des Viking-Urteils nicht auch die Arbeitnehmermitbestimmung auf Ebene der Leitungsorgane von Unternehmen als mit Europarecht unvereinbar kennzeichnen, sobald sich Investoren finden, die behaupten, dass die Mitbestimmung sie von ihrem Recht abhalte, grenzüberschreitend zu investieren?

Es wäre zu wünschen, dass die Urteile zu Viking und Laval mehr als nur kritische Urteilsexegese auslösen. Leider besteht in weiten Teilen der politischen Eliten die Tendenz, das europäische Projekt auf Gedeih und Verderb zu verteidigen. Dabei wird jedes noch so wirkungslose "soft law" wie die "offene Methode der Koordinierung" im Sozialbereich und jede unverbindliche gemeinsame Stellungnahme der EU-Sozialpartner als sozialpolitischer Fortschritt verkauft, über die Wucht der mit "hard law" durchgesetzten europäischen Liberalisierungspolitik aber geflissentlich hinweggesehen.

Als sei die Liberalisierungspolitik lediglich ein Zwischenschritt zum im Entstehen begriffenen "sozialen Europa". Hören wir die Reaktion des EGB-Generalsekretärs John Monks auf das Laval-Urteil: "In ganz Europa sind Gewerkschaften schwer damit beschäftigt, ihre nationalen Systeme zu verteidigen - und wir riskieren protektionistische Reaktionen. Besonders das Laval-Urteil könnte die Ratifizierung des EU-Reformvertrages gefährden, wenn seine Implikationen bekannt werden."

Ich meine: Diese Interpretation stellt den Sachverhalt auf den Kopf. Das Problem an den Urteilen zu Viking und Laval ist nicht, dass sie eine kritische Reaktion auslösen könnten. Das Problem ist ein Angriff auf Arbeitnehmerrechte. Dass die Gewerkschaften die in den nationalen Regelungssystemen festgeschriebenen Sozialrechte verteidigen, hat nichts mit protektionistischen oder gar nationalistischen Reflexen gemein. Auch unbequeme Wahrheiten sind Wahrheiten: Orte des sozialen Ausgleichs sind bis heute die Nationalstaaten, nicht die Europäische Union.

Wenn in den Urteilen zu Viking und Laval eine Chance liegt, dann die, dass die kontrafaktische Behauptung eines "sozialen Europas" einem nüchternen Blick auf die Tatsachen weicht. Wir haben es hier nicht mit zwei oder drei "falschen" Urteilen europäischer Richter zu tun, sondern mit einem europäischen Einigungsprozess, der die kapitalistischen Freiheiten an die oberste Stelle rückt und aus dem solche Urteile systematisch hervorgehen.

Warum, so wäre abschließend zu fragen, werden Urteile wie Laval und Viking eigentlich als legitim empfunden? Warum gibt es nicht mehr Widerstand gegen eine europäische Wirtschaftsintegration, die über ihr Ziel hinausgeschossen ist und - wie die Teilnehmer vergangener und zukünftiger Referenden zur Ratifikation des Lissabon-Vertrags erfasst zu haben scheinen - die demokratischen Sozialstaaten einem europäischen Wettbewerbsstaat unterzuordnen beginnt? Das mag zwei Ursachen haben. Zum einen die mitunter komplexe juristische Materie.

Zum anderen die Existenz einer "Schweigekoalition": Dass Neoliberale gegen europäische Liberalisierungs-politik nicht protestieren, ist nicht verwunderlich. Sie sind definitionsgemäß für wirtschaftliche Liberalisierung. Es schweigen aber auch jene, die aus tiefer Überzeugung für das europäische Projekt eintreten. Als Ergebnis einer weit reichenden Fehleinschätzung. Denn die Unterordnung des Sozialen unter das Recht auf freie Betätigung auf kapitalistischen Märkten verliert nicht an Brisanz, nur weil sie aus Europa kommt. Hören wir auf, die europäische Wirtschaftsintegration als demokratisches und soziales Projekt zu verklären. Sie ist keins von beidem.


MEHR INFORMATIONEN

Martin Höpner, Armin Schäfer (2008): Grundzüge einer politökonomischen Perspektive auf die europäische Integration. In: dies. (Hrsg.), Die politische Ökonomie der europäischen Integration. Frankfurt/New York: Campus (erscheint im Herbst).

Christian Joerges, Florian Rödl (2008): Von der Entformalisierung europäischer Politik und dem Formalismus europäischer Rechtsprechung im Umgang mit dem "sozialen Defizit" des Integrationsprojekts. Ein Beitrag aus Anlass der Urteile des EuGH in den Rechtssachen Viking und Laval. ZERP-Diskussionspapier 2/2008. Bremen: Zentrum für Europäische Rechtspolitik.

John Monks: Presentation to the Employment and Social Affairs Committee of the European Parliament, Brussels, 26.2.2008, Präsentation zum Download (pdf)

Robert Rebhahn (2008): Grundfreiheit versus oder vor Streikrecht. In: Wirtschaftsrechtliche Blätter 22, Seite 63 - 69.

Fritz W. Scharpf (2008): Positive und negative Integration sowie Nachwort. In: Martin Höpner, Armin Schäfer (Hrsg.), Die politische Ökonomie der europäischen Integration. Frankfurt/New York: Campus (erscheint im Herbst).

 

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