Quelle: Ariola
Magazin MitbestimmungDas politische Lied: DAS LANGE WARTEN AUF DIE AUFARBEITUNG
1956 findet im Kursaal von Lugano erstmals der Grandprix Eurovision de la Chanson statt. Für Deutschland starten der noch unbekannte Freddy Quinn und der noch unbekanntere jüdische Künstler Walter Andreas Schwarz. Sein Chanson „Im Wartesaal zum großen Glück“ ist auch eine Geschichte der fehlenden Vergangenheitsbewältigung. Von Martin Kaluza
Walter Andreas Schwarz: Im Wartesaal zum großen Glück (1956)
Und man baute am Kai der Vergangenheit
Einen Saal mit Blick auf das Meer
Und mit Wänden aus Träumen gegen die Wirklichkeit
Denn die liebte man nicht sehr
Am 24. Mai 1956 findet im Kursaal von Lugano erstmals der Grandprix Eurovision de la Chanson statt, der Vorläufer des heutigen ESC. Jedes der damals sieben Teilnehmerländer schickt zwei Lieder ins Rennen. Der neue Wettbewerb soll das Fernsehen populärer machen, bislang haben nur sehr wenige Haushalte einen eigenen Apparat.
Für Deutschland startet der noch unbekannte Freddy Quinn mit dem flott swingenden „So geht das jede Nacht“. Doch zuvor trägt der noch unbekanntere Walter Andreas Schwarz das düstere Chanson „Im Wartesaal zum großen Glück“ vor. Ein wehmütiges Akkordeon suggeriert Seefahrerromantik. Arrangement und Sprechgesang erinnern an die Theatermusik von Brecht und Weill.
Der Wartesaal, um den geht, steht am Kai der Vergangenheit und bietet einen Blick auf ein Meer, auf dem kein Schiff kommt. Oder hat gerade eines abgelegt? Die Leute, die dort sitzen, warten auf das große Glück. „Die armen, armen Leute“, singt Schwarz.
Das Mitleid ist ironisch gemeint, denn die Wartenden haben es nicht anders verdient. Die Wände des Saals sind aus Träumen gemacht, „gegen die Wirklichkeit, denn die liebte man nicht sehr.“ Darum geht es also: Die Wartenden wollen die Vergangenheit nicht sehen. Im Deutschland der 1950er versteht das Publikum unmittelbar, dass die Verbrechen der Nazizeit gemeint sind.
Eine ambivalente Erlöserfigur taucht auf und kommt „mit gläserner Fracht von den Sternen.“ Er erleuchtet aber nicht die Wartenden, sondern die Fischer draußen auf dem Meer. Eine Figur wie bei Kafka, schwer zu fassen.
Die Jury befindet: Der Schweizer Beitrag „Refrain“ von Lys Assia gewinnt. Für die anderen Songs wird gar keine Rangfolge bekanntgegeben, die Stimmzettel werden vernichtet. Es halten sich Gerüchte, Schwarz hätte den 2. Platz belegt – das kann aber auch daran liegen, dass alle Titel, die nicht gewonnen haben, als 2. Platz aufgeführt werden.
Walter Andreas Schwarz ist jüdischer Abstammung, 1938 war er mit seiner Familie in das Konzentrationslager Holzen in Niedersachsen verschleppt worden. Seine Eltern werden ermordet, Schwarz überlebt, weil er den Lagerkommandanten aus der Schule kennt.
Für Schwarz bleibt der Song ein seltener Ausflug in musikalische Gefilde. Schwarz ist Radioautor und Sprecher – einer der profiliertesten. Nach dem Krieg hat er einige Jahre in England verbracht und für die deutschsprachige Sparte der BBC gearbeitet, bevor er nach Deutschland zurückkehrte.
Bis zu seinem Tod 1992 spricht Schwarz 200 Hörspiele ein und produziert Hörbücher. Er schreibt Radiofassungen von Cervantes' „Don Quijote“, Heinrich Manns „Untertan“ und Lion Feuchtwangers „Jud Süß“. Er ist für die deutsche Fassung von „Per Anhalter durch die Galaxis“ verantwortlich. Daneben tritt er als Kabarettist auf.
1966, rund zehn Jahre nach seinem Grandprix-Auftritt, beschäftigt ihn die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen erneut. Für WDR und HR produziert Schwarz eine Radiosendung unter dem Titel „Wiedergutmachung“, in der er, leicht fiktionalisiert, auch über seine eigenen Erfahrungen mit der schmerzhaft trägen und oft widersprüchlichen Entschädigungs-Bürokratie der Bundesrepublik spricht.
Die autobiographisch geprägte Figur George Kansky, wie Schwarz NS-Opfer und zwischenzeitlich nach England emigriert, hat auch achtzehn Jahre nach dem Krieg noch nicht das Recht bekommen, dass sie „zu finden hoffte“. Und gerade hat die Bundesregierung beschlossen, einen Teil der Zahlungen um weitere zwei Jahre aufzuschieben, um Haushalt und Währung nicht zu schaden. Stattdessen hat man ihm eine Abschlagszahlung aus einem Vergleich angeboten, um den Fall abschließen zu können. „Wie ist es möglich, dass die Wiedergutmachung so lange dauert?“ Kansky/Schwarz akzeptiert den Vergleich, kauft sich von dem Geld ein Auto – und zieht damit Neid auf sich.
Während noch viele der 3 Millionen Geschädigten des NS-Regimes auf materielle Wiedergutmachung warten müssen, geht es mit der Bearbeitung der Versorgungsansprüche der „Parteibuchbeamten“ viel schneller voran – also von Beamten, die in der NS-Zeit Mitglied der NSDAP waren.
„Wieso sitzen solche Leute heute noch immer als Beamte in den Ämtern?“
Kansky erfährt, dass der Hauptschuldige an der Verschleppung der holländischen Juden, der auch für den Tod von Anne Frank verantwortlich war, als Beamter mit größerer Verantwortung in der bayrischen Finanzverhaltung arbeitete – bis er kürzlich verhaftet wurde. „Wieso sitzen solche Leute heute noch immer als Beamte in den Ämtern?“
Debatten und Hängepartien um die materielle Entschädigung verstellen Kanskys Ansicht nach den Blick auf die noch tiefer greifende Frage nach der moralischen Wiedergutmachung. Die Frage will er erst beantworten, wenn sich nach ein paar Jahren die Debatten um die materielle Wiedergutmachung gelegt haben, „wenn nicht mehr jemand halb gelangweilt, halb verdrossen sagt: 'Wir zahlen ja.' (…) Wenn die Stacheldrahtzäune menschlicher Unzulänglichkeit fallen, hinter denen eine Vergangenheit gefangen gehalten wird, die den Menschen von heute und morgen ihre redliche Unbefangenheit und ihre Freude am Leben streitig macht; den Unschuldigen von heute und den Verfolgten von gestern.“
Walter Andreas Schwarz' Song über den Wartesaal wird noch hin und wieder im Fernsehen ausgestrahlt, gerät allmählich in Vergessenheit. Eine bemerkenswerte Wiedergeburt erfährt er rund sechzig Jahre nach dem ersten Grandprix in Lugano. Der Liedermacher Hannes Wader erinnert sich an den Song, spielt ihn auf Konzerten und veröffentlicht 2015 eine Aufnahme auf dem Album „Live“. Und – ganz aktuell – in diesem Jahr findet sich der Wartesaal auf dem Stoppok-Album „Teufelsküche“, im Duett mit Alin Coen gesungen.