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Magazin MitbestimmungMitbestimmungskultur: Das Lamborghini-Experiment
Der italienische Sportwagenhersteller setzt auf Arbeitnehmerbeteiligung und gilt als Modell für Europa. Die Beschäftigten der VW-Audi-Tochter wollen den Kurs jetzt beschleunigen. Von Michaela Namuth
Sant’Agata Bolognese liegt an der Durchfahrtsstraße zwischen Bologna und Modena, zwischen grüner Wiese und Industriegebiet. Den Namen des Ortes würde wohl niemand kennen, wenn hier nicht vor 51 Jahren ein Tüftler auf die Idee gekommen wäre, einen umgebauten Traktormotor in einen Sportwagen einzubauen. Der Tüftler hieß Ferruccio Lamborghini, und seine Superflitzer wurden weltberühmt. Aus seiner Werkstatt ist längst eine Fabrik geworden. Aber noch immer ist es ein großes Ereignis, wenn hier ein neues Modell geboren wird. So wie heute, an einem Tag im März, an dem der erste Huracàn von der Montagebühne rollt. Die Belegschaft klatscht, das neue Familienmitglied wird von allen Seiten begutachtet. Es ist ein echter Italiener – das beweist sein Äußeres, das elegante Design der Karosserie und die handgenähten Ledersitze. Auch sein Herz, der Motor, ist italienisch. Doch der Stall, aus dem Huracàn kommt, ist seit 16 Jahren fest in deutscher Hand: Lamborghini gehört als Audi-Tochter zum deutschen VW-Konzern.
„Als VW kam, war das eine große Chance, und wir haben sie genutzt“, erklärt Alberto Cocchi, Vorsitzender der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung RSU (Rappresentanza Sindacale Unitaria) und Mitglied der Metallgewerkschaft FIOM (Federazione Impiegati Operai Metallurgici). Er meint damit zwar auch die steigenden Verkaufszahlen, vor allem aber die neue Mitbestimmungskultur, die sich seither in der Firma breitmacht. Lamborghini ist heute ein Modell für Arbeitnehmerbeteiligung, das sich an den deutschen Mitbestimmungserfahrungen orientiert und das auch in Italien funktioniert. Viele italienische Manager können es kaum fassen, dass bei Lamborghini gerade die kämpferische FIOM als Garant für die Stabilität der Industriebeziehungen auftritt. Sie halten die Metallgewerkschaft nicht für verhandlungsfähig. „Das beweist mal wieder, dass wir in Italien viele Manager haben, die nicht auf der Höhe sind“, findet Cocchi.
BETEILIGUNGSORIENTIERTER WANDEL
Der Fall Lamborghini beweist aber auch, dass die Mitbestimmungskultur in den europäischen Niederlassungen deutscher Konzerne zu innovativen Partizipationserfahrungen führen kann. Dies war auch eines der Ergebnisse der Tagung „Mitbestimmung in Deutschland und Partizipationserfahrungen in Italien“, die im vergangenen November in Bologna von dem CGIL-Forschungsinstitut IRES Emilia Romagna, der Hans-Böckler-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet wurde. Auch Alberto Cocchi war dabei und hat erklärt, wie das Modell Lamborghini funktioniert. Heute führt er durch die Produktion, vorbei an den Montagebühnen, wo die Superschlitten behutsam zusammengebaut werden. Cocchi erklärt, dass die Einzelteile für die Motoren von überall her kommen, die meisten aber aus der eigenen Region oder aus Norditalien, und er verweist auf das rundum erneuerte Kontrollsystem.
„Wir haben in den ersten Jahren Riesenschritte gemacht“, sagt er. Mit der Ankunft von VW setzte ein tief gehender Wandlungsprozess in der Arbeitsorganisation unter Einbeziehung der Mitarbeiter ein. Management und Beschäftigte „lernten“ Gruppenarbeit. Es wurden gemischte Teams aus Arbeitern, Technikern und Angestellten zusammengestellt, die die Qualität der Arbeitsplätze kontinuierlich verbessern. Die Sozialleistungen wurden erhöht, und es wurde in die Qualifizierung der Beschäftigten investiert. Auch Cocchi holte sein Studium nach, er ist jetzt Koordinator des Trainingscenters. Wichtig waren für ihn und die anderen die Treffen mit den deutschen Kollegen des Weltkonzernbetriebsrats. Aber weder er noch die anderen Belegschaftsvertreter sind freigestellt. „Wir wollen den Kontakt zu den Kollegen in der Produktion nicht verlieren“, erklärt Gennaro Cifariello, ein RSU-Kollege von Cocchi. Auch die Gewerkschaft steht gut da bei Lamborghini. Von 1029 Beschäftigten sind 440 bei der FIOM eingeschrieben. Die beiden anderen Metallgewerkschaften FIM und UILM existieren hier praktisch nicht – 16 der 17 RSU-Mitglieder sind bei der FIOM organisiert.
Anders beim Fiat-Konzern: In allen Unternehmen der Gruppe, zu der auch der nahe gelegene Konkurrent Ferrari gehört, wurde die FIOM von den Betriebsverhandlungen ausgeschlossen. Während Fiat die Löhne niedrig hält, wird bei Lamborghini die höhere Qualifizierung entlohnt. „Bei Fiat wird die Mehrheit der Montagearbeiter in die dritte Tarifebene eingestuft. Bei Lamborghini können die Leute nach wenigen Jahren die fünfte Stufe erreichen“, so Alberto Cocchi. Ein Lamborghini-Arbeiter verdient rund 1800 Euro im Monat.
Das ist immer noch wenig im Vergleich zu Deutschland, aber mehr als in Italien, wo der Durchschnittslohn bei 1250 Euro liegt. Im Austausch für den höheren Lohn und die gestiegene Arbeitsplatzqualität sind Fehlzeiten und Konfliktpotenzial im Unternehmen deutlich gesunken. Die Belegschaft streikt nicht mehr wie früher vor jedem Vertragsabschluss, sondern setzt auf Verhandlungen. Die Produktivität ist enorm gestiegen. „1998 waren wir hier 500 Personen und haben im Jahr 300 Wagen produziert. Jetzt sind wir mehr als 1000 und montieren 2200 Autos, von denen ein Teil sogar individuell, sozusagen nach Maß gestaltet wird“, erklärt Cocchi.
Im vergangenen Jahr hat Lamborghini 508 Millionen Euro umgesetzt – ein Rekord. Dennoch läuft auch hier nicht alles glatt. Seit die Gewerkschaft und ihre Belegschaftsvertreter über konkrete Beteiligungsrechte verhandeln wollen, stoßen sie bei dem Management vor Ort auf mehr Widerstand. Für Cocchi und Cifariello fangen die Probleme bei den Mobiltelefonen und Computern an, die in der Ausstattung der Belegschaftsvertreter fehlen. Dazu kommt der Dauerkonflikt um die Leiharbeiter, deren Anteil an den Beschäftigten bei 15 bis 20 Prozent und damit deutlich höher als die betrieblich verhandelte Zehn-Prozent-Grenze liegt. Letztlich besteht das Ziel aber darin, die in der globalen VW-Vereinbarung zur Zeitarbeit festgeschriebene Fünf-Prozent-Grenze zu erreichen. Die nationale Rechtsgrundlage ist bei Lamborghini der Tarifvertrag von 2008, den die FIOM – im Gegensatz zu den folgenden Metalltarifverträgen – noch mitunterschrieben hat.
INNOVATIVES INSTITUTIONENGEFÜGE
Generell erlangen Konzernvereinbarungen auf europäischer und internationaler Ebene im Volkswagen-Konzern immer größere Bedeutung. Das für Lamborghini und andere internationale VW-Töchter entscheidende Regelwerk in Bezug auf Partizipationsrechte ist die vom Welt-Konzernbetriebsrat 2009 vereinbarte Charta der Arbeitsbeziehungen. Diese wurde auch vom Europäischen Betriebsrat unterzeichnet und legt den Ausbau der Beteiligungsrechte fest – vom Informationsrecht bis zur Mitbestimmung. Der Eurobetriebsrat bietet den Belegschaften über verschiedene Komitees zudem die Möglichkeit, direkte Vorschläge an die Konzernleitung zu vermitteln. Dabei kann es um Organisationsfragen, Arbeits- und Gesundheitsschutz, berufliche Bildung sowie viele andere Themen gehen.
„Die Charta hat sicherlich nicht zum Ziel, das deutsche Mitbestimmungsmodell zu exportieren, aber sie soll doch die Verbreitung einer Mitbestimmungskultur fördern, sofern es seitens der lokalen und nationalen Akteure ein konkretes Interesse daran gibt“, erklärt Volker Telljohann. Er ist Sozialforscher beim IRES-Institut Emilia Romagna der CGIL. Sein Schreibtisch steht im Gewerkschaftshaus im Zentrum von Bologna. Man tritt ein unter den antiken Bogengängen der Stadt, die auch „die Rote“ heißt, weil es die Farbe ihrer Gemäuer und ihrer politischen Tradition ist. Telljohann lebt hier seit 20 Jahren, kaum ein Deutscher kennt die italienischen Gewerkschaften so gut wie er. Deshalb ist er – wie im Fall Lamborghini – ein wichtiger Vermittler zwischen den beiden unterschiedlichen Gewerkschaftskulturen. Zudem beobachtet und begleitet Telljohann das Projekt, das er für einen einzigartigen Fall in Italien hält, im Auftrag der EU-Kommission. „Es ist ein vielversprechendes Experiment, das von Anfang an gut funktioniert hat“, sagt er.
Die Belegschaftsvertreter, die FIOM, die FIM und das Management haben im Februar 2011 eine Vereinbarung zur Umsetzung der VW-Charta bei Lamborghini unterschrieben. Gleichzeitig haben sie aber auch das geltende italienische Tarifrecht anerkannt. Die Firma verpflichtete sich außerdem zu einem Qualifizierungsprogramm für die Belegschaftsvertreter. Die Beteiligungsrechte sollen in folgenden Bereichen ausgedehnt werden: Leistungsprämien, Arbeitsorganisation, tarifliche Einstufung und Qualifizierung sowie Qualität des Arbeitsplatzes. Zur Umsetzung wurden paritätische Kommissionen zusammengestellt, deren Aufgaben „Beratung, Information, Qualifizierung und Erarbeitung von Vorschlägen“ sind.
BELASTBARE BEZIEHUNGEN
Entscheidend für die Entwicklung bei Lamborghini war und ist auch der Austausch mit der IG Metall und den Belegschaftsvertretern von VW und Audi bei Seminaren und Qualifizierungsprogrammen. „Lamborghini ist für uns ein Best-Practice-Beispiel. Die Gewerkschaft ist stark und im Betrieb gut verankert und wird vom Management anerkannt. Das sind entscheidende Voraussetzungen, um Beteiligung zu verhandeln“, erklärt Flavio Benites vom VW-Team der IG Metall Wolfsburg. Aus seiner Sicht genügt es aber nicht, sich auf einzelne Unternehmen zu konzentrieren. Der VW-Konzern kontrolliert in Italien inzwischen eine Firmengruppe, zu der neben Lamborghini auch der Motorradhersteller Ducati, die Designfirma Italdesign Giugiaro und das Vertriebsunternehmen VGI gehören. Die Belegschaften haben – gemeinsam mit den drei italienischen Metallgewerkschaften – inzwischen ein gewerkschaftliches Koordinierungsgremium eingerichtet, das Kontakt zum deutschen Headquarter hält. „Durch das Projekt Lamborghini haben wir mit der IG Metall eine stabile Beziehung aufgebaut“, sagt auch Bruno Papignani, Vorsitzender der FIOM Emilia Romagna.
In seiner Region ist die FIOM traditionell die stärkste Gewerkschaft. Sie stellte die letzten drei Generalsekretäre, auch Maurizio Landini, der aktuelle FIOM-Chef, kommt aus der Gegend um Bologna. Im Gegensatz zum Rest Italiens wird Arbeitnehmerbeteiligung hier seit Langem diskutiert und experimentiert. Bereits in den 80er Jahren orientierte sich die FIOM hier an dem schwedischen Mitbestimmungskonzept der „guten Arbeit“. Die Emilia Romagna ist das Herz des italienischen Maschinenbaus. Es existiert eine fast 30-jährige Zusammenarbeit mit der IG Metall Esslingen, dem deutschen Maschinenbau-Distrikt par excellence.
KONTINUIERLICHER AUSTAUSCH
Doch auch in der Emilia Romagna stoßen Vorschläge zur Arbeitnehmerbeteiligung bei Managern und Unternehmern meist auf Ablehnung, immer aber auf Skepsis. „Über die gesetzliche Verankerung eines Aufsichtsrates ist mit ihnen nicht zu reden“, sagt Papignani. Auf der gewerkschaftlichen Seite kommt das Problem der fragmentierten Vertretungsstrukturen in den Unternehmen dazu. „Die IG Metall vertritt eine ganze Branche, und es gibt in Deutschland nur eine Dachgewerkschaft. Hier machen sich die Organisationen in den Unternehmen untereinander Konkurrenz“, erklärt Papignani. So ist für die Leiharbeiter die Prekären-Gewerkschaft NIDIL zuständig, die wie die FIOM zum Dachverband CGIL gehört. Bei Lamborghini aber werden die Leiharbeiter von der dortigen RSU mitvertreten – und kommen auf diese Weise in den Genuss einer effektiveren Interessenvertretung. Eine andere Problemgruppe sind die Angestellten, die kaum gewerkschaftlich organisiert sind. Die FIOM bemüht sich derzeit, beide Gruppen für sich zu gewinnen. Gleichzeitig rudert sie – wie die IG Metall – gegen die Tendenz, die Verhandlungen immer stärker auf die betriebliche Ebene zu verlagern. „Wenn wir die Zulieferer und andere Unternehmen der Region nicht in unsere Verhandlungen miteinbeziehen, blutet das Territorium aus“, sagt er.
Deshalb haben die IG Metall Wolfsburg und die FIOM Emilia Romagna am 23. Juni in Wolfsburg ein wichtiges Kooperationsabkommen unterzeichnet. Es gilt für die Vertreter in den VW-Unternehmen unter Einbezug der anderen beiden Metallgewerkschaften FIM und UILM. Aber es gilt auch für die Zulieferer, die an die Unternehmen gebunden sind. Vorgesehen ist ein kontinuierlicher Austausch zwischen den deutschen und den italienischen Gewerkschaften bei Treffen und Seminaren, aber auch mehrwöchige Aufenthalte der Sekretäre bei den Schwesterorganisationen, wo sie auch Tarifverhandlungen beobachten und begleiten können. Ein weiteres Thema ist das duale Ausbildungssystem, dessen Einführung bei Lamborghini und Ducati geplant ist. Koordinator des Projekts ist Volker Telljohann. Für Bruno Papignani ist das Vorhaben ein guter Start „für eine echte Zusammenarbeit“.
Natürlich wollen von dem Abkommen auch Alberto Cocchi und seine Kollegen bei Lamborghini profitieren. Sie finden, dass sie die schnellen Schritte in Richtung Beteiligungsmodell VW nicht verlangsamen sollten. Cocchi verspricht: „Wir haben uns für Wolfsburg entschieden, in diese Richtung laufen wir weiter.“
MEHR INFORMATIONEN
Volker Telljohann: The implementation of the Global Labour Relations Charter at Volkswagen. In: Salvo Leonardi (Ed.): Transnational Company agreements. Rome, Ediesse 2012