Quelle: Stephen Petrat
Magazin MitbestimmungInterview mit Ernesto Klengel: „Das HSI denkt nach vorne”
Ernesto Klengel, der neue wissenschaftliche Direktor des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, erklärt, was ihn zum Jurastudium brachte – und was sein Institut von anderen unterscheidet.
Das Gespräch führten Kay Meiners und Fabienne Melzer
Wie fühlt es sich an, ein Institut zu übernehmen?
Das HSI ist mir ja vertraut – wenn auch in einer anderen Rolle. Trotzdem ist es ein großer Schritt, die Verantwortung zu übernehmen, der mir aufgrund der Unterstützung aus dem Institut und aus meinem Umfeld leichtgefallen ist. Auch aufgrund der Arbeit von Johanna Wenckebach habe ich beste Ausgangsbedingungen vorgefunden. Es gilt, daran anzuknüpfen. Ich habe mir vorgenommen, an einigen Stellschrauben zu drehen und das Team in der veränderten Zusammensetzung weiterzuentwickeln und zu neuen Erfolgen zu verhelfen. Das HSI bietet großartige Möglichkeiten, Fragen aufzuwerfen, die das Arbeitsrecht in Zukunft prägen werden – denken wir an die Veränderungen, die mit dem Einsatz neuer Technologien in der Arbeitswelt einhergehen, neue Formen prekärer Arbeit etwa in der Plattformwirtschaft oder die aktuell intensiv diskutierte Frage der Betriebsratsvergütung.
Wie kamen Sie dazu, Jura zu studieren?
Es lief eigentlich alles auf ein naturwissenschaftliches Studium hinaus, meine Lehrerinnen hatten mir die Physik ans Herz gelegt, aber ich habe mich für Jura entschieden, weil es aus meiner Sicht mehr gesellschaftliche Relevanz hatte. Um das zu verstehen, muss man sich die Umstände vor Augen führen: Ich habe meine Zeit in der Schule als schöne, aber politisch verunsicherte Zeit erlebt. Es gab in der Nachwendezeit in Sachsen Massenarbeitslosigkeit und ein starkes Befremden mit den politischen Verhältnissen, das bei Vielen mit konservativen Positionen einherging. Mir war es wichtig, mich zu engagieren – als Schülersprecher habe ich Themen wie den Irak-Krieg oder Kürzungen im Bildungsbereich auf die Tagesordnung gesetzt, die Hartz-Reformen haben mich empört, aber auch die Nazi-Szene – Teile Sachsens waren als „National befreite Zonen“ bekannt. Im Jura-Studium war dann das Lebendige am Recht ziemlich versteckt – ich habe es aber gefunden, etwa bei einem Praktikum in der gewerkschaftlichen Rechtsberatung. Auch zu Betriebsversammlungen bin ich mitgenommen worden.
Was unterscheidet das HSI von anderen rechtswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen?
Wir sind ein Institut, das nach vorne denkt. Das funktioniert, weil wir eine Vermittlerrolle zwischen der Grundlagenwissenschaft im Arbeits- und Sozialrecht und der Praxis einnehmen. Schon zu Zeiten von Hugo Sinzheimer, dem Mitbegründer des Arbeitsrechts, sind die Innovationen des Arbeitsrechts in den Kollektivverträgen entstanden und wurden dann ins Gesetzesrecht übernommen. Mit dieser recht einzigartigen Perspektive sind wir dicht an den aktuellen Trends dran – etwa beim Thema KI oder der Sicherung von Arbeitsstandards in Lieferketten – aber auch mit dem Entwurf für ein modernes Betriebsverfassungsrecht. Darin ist eine Demokratiezeit enthalten, die im Rahmen der Arbeitszeit Raum für den Austausch über Angelegenheiten des Betriebs bietet. Der Vorschlag, einen Rechtsanspruch darauf zu verwirklichen, wurde anfangs belächelt. Jetzt ist er hochaktuell und wird in ersten Betrieben praktiziert – wenn auch nicht auf der Grundlage des Betriebsverfassungsrechts. Zudem kann das HSI stärker interdisziplinär arbeiten als universitäre Institute. Die Zusammenarbeit mit den Expertinnen und Experten der anderen Institute der Hans-Böckler-Stiftung bietet die Möglichkeit, die ökonomischen und sozialen Aspekte des Rechts mit einzubeziehen – das ist in der Wissenschaftslandschaft einzigartig.
Derzeit wird intensiv über Veränderungen im Arbeitsrecht diskutiert. Woher entsteht der Druck, das Recht zu modernisieren?
Der aktuelle Reformdruck ergibt sich aus der starken Veränderungsdynamik in der Arbeitswelt – etwa im Zusammenhang mit der Digitalisierung und mobiler Arbeit, die zu Entgrenzung und zur Auflösung der Betriebsstrukturen führt. Diese Entwicklungen bereiten vielen Beschäftigten große Sorgen. Dabei gerät aus dem Blick, dass die Veränderungen in der Arbeitswelt auf menschlichen Entscheidungen beruht und nicht auf der bloßen Anwendung von Technik. Ich sehe die aktuelle Unzufriedenheit auch als eine Folge dieser diffusen Fremdbestimmung am Arbeitsplatz.
Wie sollte das Recht angepasst werden?
Aktuell sehen wir, dass die Unternehmen die Digitalisierung nutzen, um wirksame Interessenvertretungen zu erschweren. Das Recht muss darauf reagieren: Wenn der Arbeitgeber schwer greifbar ist und die Arbeitsanweisungen von einer App kommen, dann müssen die Beschäftigten eben darüber mitbestimmen, welche App wie eingesetzt wird. Es gibt hier bereits Mitbestimmungsrechte, die allerdings konsequent genutzt werden müssen – aber auch Lücken im Gesetz, insbesondere dort, wo keine personenbezogenen Daten verarbeitet werden. Und die vorhandenen Rechte greifen oft viel zu spät. Die Betriebsstruktur muss vom Ziel des Gesetzes hergedacht werden, das darin besteht, Mitbestimmung zu gewährleisten. Und Interessenvertretungen müssen geschützt werden.
Gibt es Innovationen in den Betrieben, an denen Reformen anknüpfen können?
Ja.: Wir sehen zum Beispiel immer mehr Betriebsvereinbarungen mit prozedualen Lösungen, etwa mit Testläufen, Ampel-Systemen und Evaluationen. Doch um Rahmenvereinbarungen zu erzwingen, die die Grundlage für solche Prozessvereinbarungen bilden, ist das Gesetz heute noch nicht gut aufgestellt. Das geht noch immer nur mit der Zustimmung des Arbeitgebers.
Im Juni wird das Europaparlament gewählt. Wie steht es um die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, EuGH? Wie arbeitnehmerfreundlich ist sie?
Mal so, mal so. Vor dem EuGH wird es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer dann problematisch, wenn eine rechtliche oder soziale Frage unter dem Gesichtspunkt des Wirtschaftsrechts verhandelt wird. Einfach weil im Europarecht die wirtschaftlichen Freiheiten ein großes Gewicht haben. Dann stärkt der Gerichtshof meist die Rechte der Unternehmen. Andererseits sehen wir aktuell die erfreuliche Entwicklung, dass die Rechtsakte auf dem Gebiet der Sozialpolitik in der EU ernster genommen werden als noch vor einigen Jahren – besonders im Individualarbeitsrecht und wenn es darum geht, den europäischen Richtlinien Wirksamkeit zu verschaffen. Die Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung ist ein Beispiel dafür. Die Möglichkeiten, die sich bieten, um das Recht fortschrittlich weiterzuentwickeln, sollten genutzt werden – ohne die politische Dimension aus den Augen zu verlieren.
Wie steht es um das Bundesarbeitsgericht?
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist ziemlich pfadabhängig. Das heißt, dass sich das Gericht stark auf die bisherige Rechtsprechung und die bereits entwickelten Grundsätze bezieht. Auch hier sorgt aber das Unionsrecht für Bewegung.
Wo sehen Sie derzeit Gefahren?
Problematisch ist die Rechtsprechung vor allem beim Kündigungsschutz. Es sind vermeintliche Kleinigkeiten, die große Auswirkungen für die Prozessführung haben. Etwa wenn die aktuelle Rechtsprechung die Obliegenheiten für gekündigte Beschäftigte verschärft, sich während des Kündigungsschutzprozesses um eine neue Stelle zu bemühen, weil sie ansonsten keinen Lohn mehr bekommen. Arbeitgeber nutzen das, um mit Hilfe von KI-gestützten Systemen den gekündigten Beschäftigten Stellenanzeigen nachzuweisen, die nur formal in Betracht kommen. Bewerben sich diese nicht, wird der Lohn gekürzt. Zum anderen wurde es Arbeitgebern zuletzt erleichtert, AU-Bescheinigungen anzuzweifeln, wovon diese in den Kündigungsschutzverfahren verbreitet Gebrauch machen. Auch beim Schutz vor Massenentlassungen zeichnen sich Verschlechterungen ab. Umso wichtiger ist es, auf diese Entwicklungen, die unseres Erachtens rechtlich auf schwachen Füßen stehen, zu reagieren.
Wie schauen Sie in die Zukunft?
Ja, aktuell bereitet mir das Erstarken der politischen Rechten große Sorgen. Sie tun so, als ob sie für soziale Interessen eintreten und für die Werktätigen da sind. Tatsächlich können sie ihre Missachtung und ihre Feindseligkeit gegenüber demokratischen Strukturen im Betrieb, an der alle Beschäftigten teilhaben, nur notdürftig verbergen. Ich befürchte, dass in den nächsten Monaten und Jahren diejenigen, die für die Grundgedanken des Arbeits- und Sozialrechts einstehen, in die Defensive geraten könnten. Wir sehen bereits, dass gegen Teile des Sozialstaats polemisiert wird mit dem Argument, dass dieser ja nur den Zugewanderten nützen würde. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir später auch Angriffe aufs Arbeitsrecht und auf Gewerkschaftsrechte erleben werden. Wir müssen sehr wachsam sein.
Die technische Entwicklung bietet an sich die Möglichkeiten für zahlreiche Verbesserungen im Arbeitsleben – die Frage ist immer, in wessen Interesse sie eingesetzt wird. Mit dem Entwurf für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz ist ein guter Anfang gemacht, die Stimme der Beschäftigten zu stärken. Es ist wichtig, dieses Konzept im Austausch weiterzuentwickeln, populär zu machen und auf andere Bereiche zu übertragen.
Zur Person
Ernesto Klengel leitet seit dem 1.1.2024 als wissenschaftlicher Direktor das Hugo Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Er ist seit 2019 als Rechtswissenschaftler am HSI tätig. Klengel lehrt an der University of Labour und der Europäischen Akademie für Arbeit in Frankfurt a.M. Nach dem Jura-Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem juristischen Vorbereitungsdienst in Essen hat er am Center for Interdisciplinary Labour Law Studies der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) promoviert und an der Universität Duisburg-Essen geforscht und gelehrt. Seine Doktorarbeit befasst sich mit „Kollektivverträgen im EU-Betriebsübergangsrecht“. Auf die Frage, welche Bücher ihn inspiriert haben, nennt er – für unterschiedliche Lebensphasen – die Bücher „Mit Recht gegen die Macht“ des Menschenrechts-Anwalts Wolfgang Kaleck und „No Logo“ der kanadischen Autorin Naomi Klein. Klengel wurde 1986 in Zwenkau geboren und er wuchs in Dresden und Riesa auf. Klengel ist ehrenamtlicher Richter und Mitglied des Aufsichtsrats einer kommunalen Wohnungsgesellschaft.