Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Das Ende einer Weltreligion
"Grenzen der Privatisierung" heißt das Buch, das Ernst Ulrich von Weizsäcker für den Club of Rome herausgegeben hat. Für uns beschreibt er Erfahrungen und Hintergründe. Seine zentrale Lehre: Meide die Extreme!
Prof. Dr. von Weizsäcker ist Dekan der Donald Bren School of Environmental Science and Management der University of California in Santa Barbara. Bis 2000 leitete er das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.
dean@bren.ucsb.edu
Das Wort "Privatisierung" ist längst zur Kampfvokabel geworden. Es war die neokonservative Revolution seit Augusto Pinochet, Margret Thatcher und Ronald Reagan, die die Privatisierung vormals staatlicher Betriebe und Funktionen zum Gradmesser ökonomischen Fortschritts hochstilisierte. In Deutschland gingen die frühen Industrie-Privatisierungen wie Volkswagen (1960) und Veba (ab 1965) ziemlich geräuschlos über die Bühne. Krach gibt es hierzulande erst, seit in großem Stil Einrichtungen mit öffentlichen Aufgaben privatisiert werden - die Bahn, kommunale Ver- und Entsorgungsbetriebe, Krankenhäuser und Gefängnisse. Krach gibt es aber auch weltweit, wo die Staaten - meist eher unfreiwillig - fast alles privatisieren, von der Bildung über die Versorgungsdienste bis hin zu Polizei und Militär, besonders in Afrika.
Die Chicago Boys und der Diktator
Ökonomen wie Milton Friedman, Friedrich von Hayek oder Ronald Coase hatten schon seit den 60er Jahren den Rückzug des Staates und die Stärkung des Marktes gefordert. Speziell die Chicago-Schule um Milton Friedman tat sich damit hervor. Als 1973 in Chile der sozialistische Präsident Salvador Allende gestürzt und ermordet wurde und mit Hilfe der USA der Diktator Augusto Pinochet an die Macht kam, suchte er bewusst den gesellschaftspolitischen Kontrast zu Allende und holte sich die Chicago Boys ins Land, die ihm rieten, fast alle Staatsfunktionen zumindest teilweise zu privatisieren: Industrie, Verkehr, Versorgung, Bildung, Sozialversicherung, praktisch alles kam unter den Hammer.
Tatsächlich gab es einen beachtlichen Wirtschaftsaufschwung, als ausländische Investoren Geld ins Land pumpten. Angesichts solcher Erfahrungen entstand so bei der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds die Vorstellung, dass die Privatisierung ein Heilmittel für die krisengeschüttelten Wirtschaften armer und verschuldeter Länder sei. Dieser Kurs wurde von den USA unter Reagan massiv unterstützt. Wie vielen anderen Europäern war mir diese Linie sehr suspekt, weil sie augenscheinlich die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter aufreißen ließ.
In Europa war es Margret Thatcher, die die Privatisierungswelle einleitete. Sie benötigte Verkaufserlöse aus der Privatisierung, um ihre Politik der Steuersenkungen zu finanzieren. Als Grund nannte sie aber lieber "Effizienzgewinne", die das private Management gegenüber der Staatsregie erzielen würde. Damit war insbesondere gemeint, dass Privatbetriebe sich leichter tun als staatliche, Personal abzubauen. Die Privatisierung unter Thatcher war auch ein Teil ihres Kampfes gegen die Gewerkschaften.
Weltbankberichte mit Happy End
In den 80er Jahren kamen die Ökonomen zu der Faustformel, dass sich die ökonomische Effizienz durch die Privatisierung verdoppeln ließe. In Weltbankberichten las man von wundersamen Beispielen. Über die Privatisierung des Telefonsystems in Mexiko wurde Folgendes berichtet: Telefonieren war während der 80er Jahre teuer, die Technik störanfällig, auf einen Anschluss musste man lange warten. Dann kam die Privatisierung. Konkurrenz zog ein, die Preise purzelten, die Wartezeiten verschwanden, der Fortschritt hielt Einzug, und alle waren zufrieden. Auch dass die Hälfte der staatlichen Beschäftigten entlassen wurde, störte niemanden. Die meisten kamen mühelos woanders unter, einfach weil die Branche expandierte.
Solche Geschichten machten unter akademischen Ökonomen die Runde und verdichteten sich zusehends zu einem weltweit verbreiteten Credo postkeynesianischer Ökonomie: Der Markt und nicht der Staat soll das Geschehen bestimmen! Das bringt mehr Freiheit, mehr Effizienz, mehr Fortschritt, und am Ende hat sogar der Staat den Vorteil, in Form von Wohlfahrtsgewinnen und Steuereinnahmen. Diese Auffassung übte einen gewaltigen Magnetismus aus, zumal nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Sie wurde zu einer Art Weltreligion, welcher sich die Demokratie unterzuordnen hatte.
Irgendetwas konnte nicht stimmen
Gedanken über Vorteile und Nachteile dieses neuen Zeitgeistes standen bereits im Zentrum der Bundestags-Enquetekommission Globalisierung der Weltwirtschaft, die ich von 1999 bis 2002 leiten durfte. Die Privatisierung als solche kam allerdings im Mandat der Kommission gar nicht vor. Da wir auch mit anderen spannenden Themen genug Arbeit hatten, fasste ich den Entschluss, mich jenseits der Enquete-Arbeit etwas gründlicher mit den Folgen von Privatisierungen auseinanderzusetzen.
Schon bei einem ersten Hinsehen war klar, dass die Ökonomen-Behauptung eines durchgängigen und systematischen Vorteilsgewinns durch Privatisierungen hinten und vorne nicht stimmte. Man musste sich in die Details der Einzelfälle vertiefen, um anschließend aus Hunderten von Erfahrungen Schlussfolgerungen über einen rationalen und demokratiefähigen Umgang mit Privatisierungen ziehen zu können.
Dies war ein umfassendes und ehrgeiziges Vorhaben, welches nach einer Ermutigung durch den Club of Rome als ein Buchprojekt aufgezogen wurde mit dem Titel "Grenzen der Privatisierung". Es musste international und auf Englisch organisiert werden und ließ sich während der Laufzeit der Enquetekommission auch nicht annähernd zum Abschluss bringen.
Unter Mitarbeit einer ehemaligen Mitarbeiterin im Sekretariat der Enquetekommission, Marianne Beisheim, entstand in den Jahren 2002 bis 2004 ein Buch, das Anfang 2005 als Bericht an den Club of Rome unter dem Titel "Limits to Privatization" bei Earthscan in London erschien. Seit 2006 liegt es auch auf Deutsch vor. Etwa 40 Autoren lieferten Beiträge, hauptsächlich Erfahrungsberichte über gute oder schlechte Privatisierung in allen Teilen der Welt und in fast allen Branchen. Ferner wurden Erfahrungen in bestimmten geografisch-politischen Räumen (der ehemalige Ostblock, Afrika, die OECD-Länder) typisiert und bestimmte Themen gesondert bearbeitet - so zum Beispiel die Auswirkungen der Privatisierung auf Beschäftigung, auf Frauen, auf die Umwelt, auf Korruption oder auf die kommunale Demokratie.
Gute Beispiele findet man genauso wie schlechte
Wie erwähnt, waren die Berichte keineswegs nur positiv. Schon die schöne Telefongeschichte aus Mexiko erwies sich als nicht allzu beweiskräftig. Denn schaute man nach Uruguay, wo die staatliche Telefongesellschaft nicht privatisiert wurde, so entdeckte man, dass die staatliche Regie zur gleichen Zeit die gleichen Erfolge hatte wie der Markt in Mexiko.
In Großbritannien stellte sich die von Maggie Thatchers Nachfolger John Major durchgeführte Privatisierung der britischen Bahn sehr bald als Desaster heraus. Die Verspätungen nahmen rasant zu, vor allem weil die Wartung und Modernisierung des Netzes vernachlässigt wurde. Es kam zu grauenhaften Unfällen, von denen nicht klar ist, ob sie mit der Privatisierung zusammenhingen. Aber das Volk wurde so wütend, dass sich Majors Nachfolger Tony Blair gezwungen sah, wenigstens das Schienennetz, also die Infrastruktur, wieder zu verstaatlichen.
Da bekam die Ökonomen-Faustregel von der Verdoppelung der Effizienz durch Privatisierung böse Scharten. Die Annahme, dass die Hälfte der Beschäftigten die gleiche Leistung wie zuvor die volle Zahl der Staatsbediensteten erbringen konnte, war ja ohne genaue Betrachtung der Leistung aufgestellt worden. Eine Verschlechterung der Leistungen konnte man fast überall dort beobachten, wo nicht, wie bei der Telekommunikation, technischer Fortschritt die Leistungsqualität hochhielt.
Am schlimmsten waren die Erfahrungen in manchen Entwicklungsländern. Die Privatisierung der Wasserversorgung führte im Normalfall zu steil steigenden Preisen. Im traditionell rebellischen Bolivien kam es deswegen zu Volksaufständen. Die neue Regierung unter Präsident Evo Morales hat der Privatisierung abgeschworen - ihr Wasserminister ist Abel Mamani, einst der Anführer der Rebellion gegen die Wasserprivatisierung im Armenviertel El Alto der Hauptstadt La Paz.
Auch die auf den ersten Blick guten Erfahrungen mit der Privatisierung der Kupferminen in Zambia sind bei näherem Hinsehen eher zweischneidig. Die früher staatlichen Kupferminen waren so ungefähr das Einzige, was in dem Land wirtschaftlich blühte. Und sie stellten Bildungs- und Gesundheitsdienste bereit, von denen weite Teile des Landes profitierten. Nach der Privatisierung war es aus damit. Gewiss ist es nicht Aufgabe einer Bergwerksgesellschaft, öffentliche Dienstleistungen zu finanzieren, aber unter den realen Bedingungen war das besser als gar nichts.
Unerfreulich war auch die Privatisierung der Gebäudeversicherung in Deutschland. Sie folgte einer EU-Liberalisierungsrichtlinie, die die vorherigen Staatsmonopole knacken sollte. Doch die nun dominierenden privaten Versicherer mussten für die Kundenwerbung Heerscharen von Vertretern bezahlen, die die Staatsmonopole nicht nötig hatten. Und die Zusatzkosten mussten natürlich die Hausbesitzer zahlen. Die Folge: Preissteigerungen von 50 Prozent und mehr.
Die Lehre: Die Extreme vermeiden!
Die prinzipiell erfreulichen Ergebnisse der Privatisierung stellen sich also keineswegs von allein ein. Das ist kein großes Wunder - ein Wunder wäre es eher, wenn der Marktmechanismus quasi automatisch alle Probleme löst. Was wir brauchen, ist ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Markt und Staat, zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen privat und öffentlich sowie zwischen Innovation und Sicherheit.
Unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft bevorzugen dabei unterschiedliche Gewichtsverteilungen. Sozial Schwache möchten meist mehr Staat, Ordnung und Sicherheit, Wohlhabende eher mehr Freiheit und Privateigentum, Forscher und Jungunternehmer mehr Innovation. Die Demokratie erlaubt und erzeugt Pendelbewegungen zwischen beiden Präferenzen. Aber die Erfahrung lehrt, dass extreme Pendelausschläge schlecht sind fürs Ganze. Das wichtigste Motto lautet daher: die Extreme vermeiden!
Im letzten Vierteljahrhundert ist das Pendel zu weit in Richtung Markt ausgeschlagen. Der Staat ist nach dem gewaltigen Pendelausschlag ständig im Zugzwang, die Gesetze und die Steuern den Wünschen der Kapitalmarktakteure anzupassen. Vielfach ist er gar nicht mehr in der Lage, Interessengegensätze nur auszugleichen. Zusehends verliert auch das Volk folglich das Zutrauen zum Staat. Ironischerweise suchen die Verlierer im Volk dann auch die Schuld für die eigene Not beim Staat. In vielen Ländern der Erde hat dies bereits zu einer Kette der Zerrüttung der staatlichen Autorität geführt, an deren Ende dann der handlungsunfähige Staat steht. Dies aber muss auch für den eingefleischtesten Marktwirtschaftler ein Schreckensbild sein.
Ein starker Staat ist nicht von gestern
Der Zeitgeist, der die Privatisierung hervorgebracht hat, hat auch die Liberalisierung und die Deregulierung hervorgebracht. Letzteres ist bittere Ironie. Die Deregulierung, also die Aufweichung oder Aufhebung von Regeln, Vorschriften, Beschränkungen für private und öffentliche Akteure, oder generell die Verminderung von Staatseingriffen - mag hochwillkommen sei, wenn man es mit einem völlig unübersichtlichen Dickicht von Vorschriften zu tun hat. Aber sie darf nicht zu einem Programm zur Schwächung der Staatsautorität deformiert werden.
In der Praxis gehen geglückte Privatisierungen in aller Regel mit einem starken Staat und festen, allseits respektierten Regeln einher. So war die Übernahme der Wasserwerke in Rostock durch die Privatfirma Eurawasser an die drakonische staatliche Auflage gebunden, dass stets mindestens so viel in die Modernisierung und den Werterhalt investiert wird, wie es der normalen betrieblichen Abschreibung entspricht. Hätte doch nur die britische Bahn so ein Prinzip beherzigt! Gewiss ist das Wasser in Rostock teuer, aber aufs Ganze gesehen ist das besser als ein langsam verrottendes System, das niedrige Preise vorgaukelt.
Wo die Privatisierung mit Deregulierung einherging, muss man fragen, ob nicht eine den neuen Bedingungen angepasste Re-Regulierung erforderlich ist. Sehr wohl verträglich ist hingegen die Privatisierung mit der Liberalisierung, also der vom Staat - oft von der EU - ausgehenden Einführung oder Intensivierung von Wettbewerb. Dazu gehören die Aufhebung von Monopolen und Privilegien, der Abbau von Zöllen und Subventionen. Doch eine Liberalisierung macht oft eine neue Regulierung erforderlich, insbesondere was die Transparenz und die Kartellkontrolle angeht.
Ziviles Engagement ergänzt Markt und Staat
Wiederherstellung eines gesunden Gleichgewichts zwischen Staat und Markt sollte nicht dadurch geschehen, dass man künstlich dem Nationalstaat wieder neue Funktionen überträgt. Angesichts der unaufhaltsamen Globalisierung des Wissens und des Handels wäre dies anachronistisch. Es gibt aber einen anderen Weg, die öffentlichen Belange, die unter dem Machtzuwachs der Kapitalmärkte leiden, wieder zur Geltung zu bringen. Das ist die Pflege und der Ausbau eines Dritten Sektors, welcher weder Staat noch Privatwirtschaft ist.
Dabei geht es zunächst um die gemeinnützigen Stiftungen. In den USA haben diese noch eine viel größere Bedeutung als in Deutschland, und sie sind von den Extrempositionen eines neokonservativen Weißen Hauses und eines renditeversessenen Kapitalmarktes erfrischend weit entfernt. Fast noch wichtiger für den Dritten Sektor sind die zahllosen Organisationen der Zivilgesellschaft. Kirchen, Gewerkschaften, Vereine sind weder der Kapitalrendite noch dem Staat hörig.
Wenn der Druck der Kapitalmärkte den öffentlichen Anliegen wie sozialer Gerechtigkeit oder ökologischer Nachhaltigkeit schadet, können die zivilgesellschaftlichen Akteure Gegendruck organisieren, und zwar international. Die Durchsetzung von Menschenrechten, Kernarbeitsnormen, Klimaschutz oder Korruptionsaufklärung wäre ohne sie fast nicht vorstellbar.
Schließlich kann man auch privatwirtschaftliche Gesellschaften mit einem öffentlichen Auftrag (wie etwa die kommunalen Sparkassen) sowie bestimmte öffentlich-private Partnerschaften dem Dritten Sektor zuordnen. Und man muss es als legitime politische Aufgabe ansehen, endlich das Getöse der ökonomistischen Gralshüter zu beenden, die das Wirken von Sparkassen oder Landesbanken als Wettbewerbsverzerrung verunglimpfen.
All diese Maßnahmen zur Stärkung der öffentlichen Anliegen werden aber nicht ausreichen, wenn es nicht gelingt, zunehmend auch ein globales Regelwerk zum Schutz der öffentlichen Güter durchzusetzen. Denn es geht nicht an, dass die Privatwirtschaft Gewinne durch das geografische Ausweichen vor legitimen Regeln erwirtschaftet.
Das Buch
Der Titel erinnert an den Klassiker "Die Grenzen des Wachstums" (1972) - ins Auge fallen besonders die Fallbeispiele aus aller Welt. Ein bestechend einfaches System von Infografiken enthüllt auf den ersten Blick, was die Autoren von den Projekten halten: So bewerten sie die Privatisierung von Kulturdenkmälern in Italien als Flop - gute Noten dagegen erhält die Privatisierung eines Stahlwerkes in Rumänien.