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Magazin Mitbestimmung

Evonik Industries: Chancen für junge Flüchtlinge

Ausgabe 01/2016

Der Chemiekonzern hat sein Berufsvorbereitungsprogramm „Start in den Beruf“ geöffnet. Seit November stehen im Ausbildungszentrum im Chemiepark Marl auch junge Flüchtlinge an der Werkbank, die sich noch kurz zuvor über die Balkanroute nach Deutschland durchschlugen. Von Carmen Molitor

Seit November 2015 hat Ali Reza M. wieder eine Aufgabe: Der junge Flüchtling soll als Teilnehmer des Berufsvorbereitungsprogramms „Start in den Beruf“ bei Evonik Industries seine beruflichen Talente entdecken. Acht Monate lang durchläuft er im Chemiepark Marl im nördlichen Ruhrgebiet mit 42 anderen Teilnehmenden diesen Kurs. Er kann sich ausprobieren, bekommt fachliches und persönliches Feedback. Danach wird er klarer sehen, welches Berufsbild zu ihm passt – und hat bessere Chancen, eine reguläre Ausbildung zu beginnen.

Ali Reza M. konnte einen der zusätzlichen Plätze ergattern, die eigens für Flüchtlinge geschaffen wurden. Jeden Morgen um sieben Uhr fängt er mit der Arbeit in der geräumigen Ausbildungswerkstatt am größten deutschen Evonik-Standort an. Ein paar grundlegende Einführungstage hat der 22-Jährige Asylbewerber schon hinter sich: In der Metallwerkstatt fand er es spannend, Laborarbeit war nicht so sein Ding, erzählt er. Er wirkt dabei zurückhaltend, lächelt kaum und strengt sich an, das Richtige zu sagen. Schon vor dem Interview hatte er ganz schön Lampenfieber, gesteht er. Die Aufregung bleibt, während er über seine Arbeit und seine Flucht erzählt, auch wenn er gern männlich-souverän wirken will und sich auf Deutsch gut verständlich machen kann. 

Bis Ende der Woche ist Ali Reza jetzt noch im dritten Fachbereich, der Elektrowerkstatt, eingesetzt. Heute versucht er, eine einfache Verteilerdose nachzubauen. Die Arbeitsanleitung, ein Steckbrett und eine Materialkiste liegen vor ihm, eine fertige Beispieldose haben die Ausbilder zu Anschauung an die Wand gehängt. An den Werkbänken um ihn herum beugen sich neun junge Frauen und Männer seiner Lerngruppe über ihre Übungsstücke, messen und stellen die elektrischen Verbindungen her. Es sind Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund oder Flüchtlinge wie er. Die Stimmung ist entspannt, alle arbeiten ruhig und konzentriert. Ab und zu hebt einer den Kopf und schaut, wie die Kollegen rechts oder links die Aufgabe angehen, oder geht ein Werkzeug holen.

Sehr jung geflüchtet 

Dass Ali Reza einmal bei einem der weltweit größten Unternehmen für Spezialchemie an einer Werkbank stehen würde, ist ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Vor mehr als 20 Jahren flohen seine Eltern aus Afghanistan in den Iran, „weil wir Christen sind“. Seine Mutter hat ihn im Iran geboren und war Hausfrau, der Vater arbeitete auf dem Bau. Fragt man Ali Reza, welchen Traumberuf er als Schüler hatte, schaut er verständnislos: „Ich hatte keinen besonderen“, sagt er schulterzuckend. „Ich konnte ja nichts machen, hatte keinen Ausweis, kein Aufenthaltsrecht.“ Er habe im Stahlkaminbau gearbeitet. Als sein Vater, der Familienernährer, starb, machte sich Ali Reza auf die lange Reise nach Deutschland; seine Mutter blieb im Iran. Der 22-Jährige redet nicht gern über diese Zeit, skizziert nur in kargen Stichworten seine Flucht. „Ungefähr 2012“ sei er allein aus dem Iran losgezogen. Über die Türkei, wo er sich anderthalb Jahre durchschlug, gelangte er nach Griechenland. Von dort sei es auf einem Lkw weiter nach Deutschland gegangen, erzählt Ali Reza. In Köln griff die Polizei den damals 19-jährigen Flüchtling auf.

Inzwischen lebt Ali Reza als Asylbewerber in Marl. Erst vor wenigen Tagen hatte er seine Anhörung und wartet seitdem nervös auf die Entscheidung darüber, ob er Asyl bekommt. Ihm hilft der RE/init e.V., ein Verein mit Sitz in Recklinghausen, der Menschen „in besonderen Lebenslagen“ beim Einstieg in den Beruf unterstützt. Es war seine Betreuerin, die ihm geraten hatte, sich beim Programm „Start in den Beruf“ zu bewerben. Der Kurs gefällt ihm, und er kann sich gut vorstellen, mal in einem Industriejob zu arbeiten, gerne als Anlagenmechaniker. Ob er in Deutschland bleiben will? Ali Reza zieht erstaunt die Augenbrauen hoch: „Jeder will das!“, sagt er.

Vor 15 Jahren einigten sich die Tarifpartner der chemischen Industrie darauf, mit dem Programm „Start in den Beruf“ jungen Schulabgängern eine zweite Chance zu geben. Jugendlichen also, denen bei einem ersten Bewerbungsversuch noch die persönliche Reife und soziale Kompetenz fehlten, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Jetzt dient der Kurs, der jedes Jahr aufs Neue angeboten wird, in den ersten Unternehmen dafür, neben schwachen Schülern junge Flüchtlinge für eine Ausbildung in der Chemieindustrie vorzubereiten. Allein Evonik stockte die geplanten 50 Plätze für das übliche Programm um 15 Plätze auf. 15 weitere Plätze werden von Partnern aus der ehemaligen Ruhrkohle AG finanziert, aus der Evonik hervorging: zehn vom Essener Stromversorger STEAG und fünf vom Immobilienunternehmen Vivawest. Die Gründe: gesellschaftliche Verantwortung und die Hoffnung, unter den Flüchtlingen künftige Facharbeiter zu gewinnen. Nun gehören Flüchtlinge aus neun Nationen zu den drei Berufsvorbereitungsgruppen im Chemiepark Marl und in den Gruppen an den Evonik-Standorten in Wesseling, Darmstadt und Hanau.

„Die Integration von Flüchtlingen erfolgt am schnellsten über Integration in den Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund geht es darum, jungen Menschen die Chance zu geben, in industrielle Berufe hineinzuschnuppern und sich mit den praktischen Kenntnissen, die sie in diesen Berufen brauchen, vertraut zu machen“, sagt Evonik-Personalvorstand und Arbeitsdirektor Thomas Wessel. Die Flüchtlinge erhalten vor und während der Maßnahme einen Deutschkurs. Einmal in der Woche gibt es außerdem eine sozialpädagogische Betreuung durch externe Fachleute, ansonsten durchlaufen sie das gleiche Programm wie alle anderen Teilnehmenden. Evonik investiert laut Wessel in dieses Programm pro Jahr einen „niedrigen siebenstelligen Betrag“, der sich unter anderem aus den Kosten für Ausbilder, Räume, Arbeitskleidung und Arbeitsmaterial sowie das monatliche Teilnehmerentgelt in Höhe von 450 Euro zusammensetze.

Mangelndes Deutsch als echter Hemmschuh

Die Verteilerdosen in der Elektrowerkstatt im Chemiepark Marl nehmen langsam Gestalt an. Fachleiter Michael Dopheide wirkt zufrieden: „Ali Reza und die anderen Flüchtlinge, die wir dabeihaben, sind bis in die Haarspitzen motiviert und engagiert“, sagt er. Eine große Herausforderung ist für die vier Ausbilder in Marl, dass viele Flüchtlinge bisher nur rudimentäre Deutschkenntnisse haben. Zwar lernten sie schnell, Deutsch zu sprechen, aber das Lesen und Schreiben fiele ihnen schwer. Ein echter Hemmschuh in einer regulären Ausbildung. Und auch schon im „Start“-Kurs, erzählt Ausbilder Oliver Lesch. Deshalb setze man unter anderem auf die Vier-Stufen-Methode „Vormachen, erklären, nachmachen, üben“. „Es geht uns viel ums Selberlernen“, sagt Lesch. Alle sollen Methoden entwickeln, um ihre Aufgaben künftig selbstständig zu lösen. Die Ausbilder stehen ihnen dabei zur Seite. „Uns zu fragen, diese Chance nutzen die Teilnehmer häufig dann doch nicht. Aus Angst, ein Defizit zuzugeben“, erzählt Lesch. 

Die achtmonatige Berufsvorbereitung gibt Einblicke in Berufsbilder der Bereiche Metall, Labor, Elektro, bietet praktische Übungen und Schnupperpraktika in Betrieben sowie ein regelmäßiges Feedback der Ausbilder. Ein „Kompetenzpass“ hält fest, welche fachlichen, sozialen und persönlichen Fähigkeiten jeder Einzelne zeigt. „Damit kann jeder Teilnehmer nachweisen, was er mitbringt“, sagt Fachleiter Dopheide. Das soll bei den Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz vor allem jenen helfen, die noch Defizite in der Theorie haben. 

Wie bei Ali Reza M. ist auch bei anderen Flüchtlingen im Kurs der Aufenthaltsstatus noch nicht geklärt. Evonik habe in Gesprächen mit den örtlichen Behörden aushandeln können, dass die „Start“-Teilnehmenden im Fall der Fälle zumindest nicht während der Maßnahme abgeschoben werden, erklärt Ausbildungschef Hans Jürgen Metternich. „So haben die jungen Leute, egal was kommt, etwas, das sie als Kompetenznachweis vorzeigen können – ob in Deutschland oder im Heimatland.“ Metternich ist optimistisch, dass Evonik schon mit dem ersten Kurs einen Teil der motivierten Flüchtlinge in Ausbildung bringen kann. Was es zum Erfolg vor allem noch brauche, sei weiterer Sprachunterricht. „Vielleicht müssen wir das Konzept noch etwas mehr darauf zuschneiden“, sagt er. „Eine Art zweimonatiger Deutsch-Crashkurs am Ende des Kurses vor einer Ausbildung wäre sinnvoll.“

Chemieindustrie: Zusätzliche Ausbildungsplätze für Flüchtlinge

Die Sozialpartner der chemischen Industrie setzen auf Berufsorientierung für junge Zuwanderer. Es zeigt sich: Die Integration wird länger dauern.

Mitte September lud die IG BCE zum „Flüchtlingsgipfel“. Speziell in der chemischen Industrie bemüht sich die Chemiegewerkschaft gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband BAVC um berufliche Integration und darum, jungen Flüchtlingen eine Ausbildung zu ermöglichen. Die Sozialpartner stockten dafür ihr schon lange etabliertes Programm „Start in den Beruf“, das Schulabgänger ohne Abschluss zur Ausbildungsreife führt, deutschlandweit um 125 zusätzliche Plätze für Flüchtlinge auf. Vor allem die Großen der Branche wie Evonik, Bayer und BASF beteiligen sich daran. Die BASF bietet außerdem „Start Integration“ zur Berufsorientierung für zunächst 53 Flüchtlinge an, an dem auch ältere Arbeitssuchende teilnehmen können. Bayer finanziert im Chempark Leverkusen einen fünfmonatigen Aufbaukurs inklusive einmonatiger Praxishospitation, in dem 20 Flüchtlinge die deutsche Sprache lernen und sich fachlich orientieren. Im Frühjahr startet ein gemeinsames Modellprojekt der Chemie-Sozialpartner in Ostdeutschland, das ebenfalls zunächst bis zu 15 Flüchtlinge in drei Stufen zu einer Ausbildung führen soll. Evonik denkt über Stipendien für Studienplätze für Höherqualifizierte nach. 

Hatte die chemische Industrie zunächst in der Zuwanderung eine gute Chance gesehen, demografisch bedingten Azubi- und Fachkräftemangel zu lindern, werden inzwischen skeptische Stimmen lauter: Zu rudimentär seien die Deutschkenntnisse und zu gering die Qualifizierung vieler Neuankömmlinge. Die chemische Industrie braucht aber vor allem qualifizierte Beschäftigte, ihr Bedarf an ungelernten und niedrig qualifizierten Kräften liegt derzeit nur noch bei rund fünf Prozent der Jobs. Außerdem kritisieren die Unternehmen, dass es sehr lange dauert, bis die Verwaltung das Bleiberecht und damit die Arbeitserlaubnis der Flüchtlinge klärt. Die betriebliche Eingliederung sehe man jetzt als ein langfristiges Projekt, das fünf bis zehn Jahre dauern könne. Man setze auf ganz junge Flüchtlinge, die die Sprache in der Schule lernen, hieß es jetzt beim BAVC. Eigens für Flüchtlinge neu geschaffene Stellen gebe es, wenn überhaupt, dann nur sehr wenige, denn die Branche sei seit Jahren auf Effizienz getrimmt. Besonders pessimistisch zeigte sich Bayer-Chef Marijn Dekkers. Er erklärte in einem Interview mit der Welt am Sonntag, die Zuwanderer auf das in Deutschland nötige fachliche Niveau zu bringen werde „sehr viel Zeit und Mühe kosten“.

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