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Plattencover Johnny Cash: Bitter tears Magazin Mitbestimmung

Das politische Lied: Cash holt den Helden vom Sockel

Ausgabe 05/2024

Auf dem Album „Bitter Tears: Ballads of the American Indian“ besingt Cash das Massaker von Wounded Knee. Und wird damit zum Vorreiter, der den Indigenen in Amerika in der breiten Öffentlichkeit Gehör verschafft. Von Martin Kaluza

Johnny Cash: „Custer“ (1964)

It’s not called an Indian victory
But a bloody massacre
And the General, he don’t ride well anymore
There might have been more enthusing
If us Indians had been loosing
But the General, he don’t ride well anymore


„Ein „Massaker an unseren Truppen“ vermeldet die New York Times am 6. Juli 1876: „General Custer und siebzehn Offiziere in Schlacht am Little Bighorn hingemetzelt. Angriff auf überwältigend großes Camp von Wilden. 315 Tote und 31 Verwundete“. Wenige Tage zuvor hatte General George Armstrong Custer die 7. Kavallerie im Kampf gegen die Sioux in den Untergang geführt. Die Zahl der Gegner, angeführt von den Häuptlingen Sitting Bull und Spotted Elk, Two Moons, Gall und Crazy Horse, hatte Custer trotz Vorwarnungen
komplett unterschätzt. Die militärisch wenig bedeutende Schlacht wird schnell zum US-amerikanischen Mythos. General Custer gilt als Held.

Johnny Cash sieht das anders. Knapp 90 Jahre nach Custers Ende verspottet er den General in einer Countrynummer, leichtfüßig und mit scharfer Ironie: „To some he was a hero/But to me his score was zero“ – für einige war er ein Held, von mir bekommt er null Punkte. Custer habe Frauen, Hunde und Kinder getötet, während die Männer auf der Jagd waren – das waren seine „Siege“. Vers um Vers demontiert Cash den General, jeder Zweizeiler endet lapidar: „The General, he don’t ride well anymore“ – der General sitzt nicht mehr gut im Sattel.

1963, Johnny Cash ist mit seinem Hit „Ring of Fire“ frisch zum Star aufgestiegen. In Greenwich Village in New York lernt er die elektrisierende Folk-Szene kennen, freundet sich mit Bob Dylan an. Die Stimmung ist politisch. Joan Baez, Bob Dylan und Harry Belafonte engagieren sich für die Bürgerrechtsbewegung, stehen beim Marsch auf Washington neben Martin Luther King auf der Bühne. Cash beschließt, ebenfalls einer unterdrückten Gruppe eine Stimme zu geben. Den amerikanischen Ureinwohnern fühlt er sich besonders nah, schließlich fließt in seinen Adern – so glaubt er damals noch – auch das Blut der Cherokee.

Cash nimmt ein Konzeptalbum auf, die Hälfte der Songs steuert Peter La Farge bei. Auf „Bitter Tears: Ballads of the American Indian“ besingt Cash das Massaker von Wounded Knee und den indianischen Weltkriegshelden Ira Hayes, er beklagt Zwangsadoptionen und den vertragswidrigen Bau eines Staudamms auf dem Land der Seneca.

Das von La Farge geschriebene „Custer“ ordnet die Schlacht von Little Bighorn neu ein: Nicht ein Massaker an Custers Truppe war sie, sondern ein Sieg der Indianer. Cash stellt sich selbst auf ihre Seite, spricht als einer von ihnen: „There might have been more enthusing/If us Indians had been loosing“ – die Begeisterung wäre wohl größer gewesen, wenn wir Indianer verloren hätten.

Einige Country-Sender weigern sich, Songs vom Album „Bitter Tears“ zu spielen. In einem offenen Brief spricht Cash sie direkt an: „Habt ihr denn gar keine Courage?“ Mit dem Album „Bitter Tears“ ist Johnny Cash ein Vorreiter, der den Indigenen in der breiten Öffentlichkeit Gehör verschafft, fünf Jahre bevor Dee Browns Buch „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses“ erscheint.

Johnny Cashs Engagement hallt bis heute in der indigenen Community nach. Zwei Jahre nach Erscheinen von „Bitter Tears“, wird Cash in einer Zeremonie vor 1500 Menschen vom Seneca-Turtle-Stamm adoptiert. Er bekommt den Stammesnamen „Hago’ata“ verliehen: Geschichtenerzähler.

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