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Bettina Kohlrausch Magazin Mitbestimmung

Pro & Contra: Brauchen wir flexiblere Arbeitszeiten?

Ausgabe 01/2023

Nein - sagt Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Ja - sagt Ulrike Scharf, Bayrische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales.

NEIN. Das Argument scheint bestechend: Könnten Familien ihre Arbeitszeit flexibler einteilen, ohne die tägliche Höchstarbeitszeit und die Ruhepausen berücksichtigen zu müssen, wäre die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einfacher. Abgesehen davon, dass unklar bleibt, wie sichergestellt werden soll, dass hier die Flexibilitätsbedürfnisse der Eltern und nicht die der Arbeitgeber befriedigt werden, geht diese Rechnung nicht auf. Denn auch unbezahlte Sorgearbeit ist Arbeit. 

Wer nachmittags die Erwerbsarbeit unterbricht, um Kinder zu versorgen, und abends noch mal ein paar Stunden Erwerbsarbeit leistet, hat am Ende viele, zu viele, Stunden gearbeitet. Dies war während der durch die Pandemie bedingten Schulschließungen Realität für viele Eltern, vor allem für Mütter. Auswertungen der Erwerbsbefragung der Hans-Böckler-Stiftung belegen, dass dies die Eltern enorm belastet hat. Zudem individualisiert der Ansatz das Problem der Vereinbarkeit von Sorge- und Erwerbsarbeit. Um den Preis faktisch längerer Arbeitszeiten und kürzer Erholungszeiten sollen Eltern, vor allem Mütter, in die Lage versetzt werden, ein Problem individuell zu lösen, für das die Gesellschaft als Ganzes Verantwortung trägt. 

Wer Eltern entlasten möchte, muss nicht nur ausreichende, verlässliche und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung garantieren, sondern auch Bedingungen schaffen, in denen sich Sorgearbeit fair verteilen lässt. Eine zentrale Voraussetzung hierfür: kürzere Arbeitszeiten, die Vollzeit- und Sorgearbeit Vätern und Müttern gleichermaßen ermöglichen.

BETTINA KOHLRAUSCH, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung

  • Ulrike Scharf
    Ulrike Scharf, Bayrische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales

JA. Arbeit ist mehr als Broterwerb. Arbeit bedeutet auch soziale Teilhabe, die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten: Arbeit bringt nicht nur Geld, sie ist auch sinnstiftend. Aus meiner Erfahrung und vielen Gesprächen mit Beschäftigten und auch Arbeitgebern weiß ich: Wir brauchen mehr Flexibilität.

Die Menschen sollen nicht mehr arbeiten, sondern nur flexibler einteilen können, wann sie arbeiten – innerhalb der geregelten Wochenarbeitszeit. Viele wünschen sich das. Wenn jemand heute in Teilzeit arbeitet, zum Beispiel 24 Stunden, dann wäre es möglich, diese Stunden an zwei Tagen abzuarbeiten – und die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer hätte mehr Freizeit am Stück. Diese kann man zum Beispiel für Familie und Kinder oder für die Betreuung von pflegebedürftigen Angehörigen nutzen. Das größte Pflegeheim ist ja nicht die Einrichtung, sondern das Zuhause: In Bayern werden rund 80 Prozent der Menschen, die pflegebedürftig sind, daheim betreut.

Diese Flexibilität und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind wichtige Instrumente gegen den Fachkräftemangel. Wir müssen die Arbeitszeitgesetze endlich den Lebensrealitäten der Menschen anpassen. Ein moderneres Arbeitszeitgesetz wird auch eine große Chance für eine höhere Beschäftigungsquote bei Frauen sein. Wir müssen offen über eine längere Arbeitszeit an einzelnen Tagen von bis zu zwölf Stunden und eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden diskutieren – flexibel und auf freiwilliger Basis der Beschäftigten. Die Einhaltung des Arbeitnehmer- und des Gesundheitsschutzes hat oberste Priorität.

ULRIKE SCHARF, Bayrische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales

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