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Soziologie-Professor Jonas Grutzpalk mit blauen Boxhandschuhen Magazin Mitbestimmung

Gewalt: „Boxen ist gut fürs Körpergefühl“

Ausgabe 05/2024

Ob im Schwimmbad oder in der Bahn: Beschäftigte sind häufig Gewalt ausgesetzt. Wissenschaftler wie Jonas Grutzpalk ergründen die Ursachen und arbeiten an Lösungsansätzen. Von Kay Meiners

Jonas Grutzpalk, Soziologieprofessor an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung, hat die blauen Boxhandschuhe im Büro nicht nur als Dekoration. Er kann auch mit ihnen umgehen, wenn es sein muss, und hat einst selbst geboxt. Vor allem aber veranschaulichen sie sein Forschungsthema. In „situationistischer Forschung“ schaut Grutzpalk sich einzelne Vorfälle von Gewalt und ihre Eskalationsdynamik an. Sein Wissen gibt er an zukünftige Polizisten und Polizistinnen weiter, damit sie ihren Arbeitsalltag später professionell bewältigen können.

Die Medien sind voll von Nachrichten, die Übergriffe auf Rettungs- und Polizeikräfte schildern. In Berlin etwa griffen Randalierer in der Neujahrsnacht Einsatzkräfte der Polizei und der Feuerwehr mit Pyrotechnik und Schreckschusswaffen an. Eigentlich sind Menschen nicht sehr erpicht auf Gewalt, sagt Wissenschaftler Grutzpalk. Er erzählt die Geschichte eines Verwandten, der am portugiesischen Kolonialkrieg in Angola teilnahm: Die Portugiesen als Kolonialmacht und die Kämpfer für die Unabhängigkeit hatten ihre Lager nur einen Kilometer voneinander entfernt, griffen aber nicht an. In dem Moment wollte keiner die Eskalation. Damit Gewalt manifest wird, so Grutzpalk, müsse immer eine Schwelle überschritten werden. Diese sei individuell und situativ sehr unterschiedlich.

Drogen haben die unangenehme Eigenschaft, sie zu senken. „Alkohol ist der Klassiker“, sagt Grutzpalk, „er führt zu Verschiebungen in der Selbstwahrnehmung. Die Leute schätzen sich und die Lage falsch ein.“ Noch schlimmer sei Kokain: „Wer das genommen hat, fühlt sich wie ein Gott. Das ist echt gefährlich.“ Doch auch soziale Ungleichheit, Kränkungen und Demütigungen können Ursache von Frust und Gewalt sein: „Wenn eine Familie in einem schönen Haus mit Spielplatz im Grünen und SUV unter dem Carport wohnt, die andere im Plattenbau, mit nur einer Rutsche für alle und abhängig vom Bus, wirkt das verletzend“, sagt Grutzpalk. Gesellschaften mit extremer Ungleichheit neigen zu mehr Gewalt.

  • Polizeikontrolle - Zwei uniformierte Polizisten, ein Zivilist
    Kontrolle eines Verdächtigen durch die Polizei: Alkohol ist eine häufige Ursache von Gewalt.

Die Zahl der Übergriffe steigt

Für die Betroffenen scheint die Aggression manchmal aus dem Nichts zu kommen. Jens Popke aus Flensburg hat es erlebt, die Bilder geistern noch immer durch seinen Kopf: Eine Gruppe junger Männer jagt den frischgebackenen Schwimmmeister durch die Halle des Flensburger Schwimmbades. Ein paar Minuten vorher hat er ihnen für den Tag Hausverbot erteilt, weil sie sich danebenbenommen haben: „So, Jungs, Schluss für heute!“ Doch die Männer fügen sich nicht. Sie drohen ihm Prügel an. Popke spürt die Gefahr, rennt los zum Kassenhäuschen, dreht den Schlüssel der Tür von innen herum und ruft vom Festnetz die Polizei. „Das ist kein angenehmes Gefühl“, sagt er mit norddeutschem Understatement. Popke arbeitet noch immer als Schwimmmeister und ist Betriebsrat im Campusbad Flensburg, dem größten in Schleswig-Holstein. Einige der Männer, die er zurechtwies, sieht er noch heute. Sie kommen mit ihren eigenen Kindern und grüßen ihn freundlich. In Flensburg geht es zum Glück friedlicher zu als etwa in der Hauptstadt, wo es mehrfach Massenschlägereien in Bädern gab. Beschäftigte meldeten sich aus Protest krank, weil der Arbeitgeber sie nicht ausreichend schützte.

Man kennt die Risikofaktoren für Gewalt gegen Beschäftigte: die Wahrnehmung von Kontrollaufgaben, der Umgang mit schwierigen Personengruppen, aber auch nicht einsehbare Einzelarbeitsplätze. Die absoluten Zahlen scheinen zuzunehmen. In Krankenhäusern etwa stieg nach Spiegel-Recherchen die Zahl sogenannter „Rohheitsdelikte in medizinischen Einrichtungen“, wie Körperverletzung und Raub, zwischen 2019 und 2022 um 20 Prozent. Regelmäßig war dabei auch das Krankenhauspersonal Opfer. Und bei der Bahn hat die Zahl der Körperverletzungen gegen Beschäftigte allein zwischen 2015 und 2019 um 36 Prozent zugenommen.

Gewalterfahrungen von Beschäftigten

Beschäftigte im öffentlichen und privatisierten Sektor berichten von folgenden Arten von Übergriffen (Nennungen in Prozent):

  • 58 % Beleidigungen
  • 55 % Anschreien
  • 30 % Androhung von Gewalt
  • 25 % Körperliche Bedrohung
  • 13 % Anspucken
  • 12 % Angriff oder Bedrohung mit einer Waffe
  • 11 % Schläge oder Tritte
  • 8 % Stalking außerhalb des Arbeitsplatzes


Quelle: Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen und privatisierten Sektor, uzbonn/DGB 2020

„Hallo, was tut ihr da eigentlich?“

Mandy Brune arbeitet bei der Deutschen Bahn als Zugchefin im Fernverkehr. Auch nach ihrer Wahrnehmung ist die Hemmschwelle für Gewalt in der Gesellschaft gesunken. Zugleich beklagt sie, dass sich zu wenig Menschen für ihr Gegenüber interessieren und die Zivilcourage in den letzten Jahren immer weiter abgenommen hat. Sie erinnert sich an eine Prügelei auf dem Bahnsteig, bei der niemand einschritt. Brune war es, die darauf zuging und rief: „Lasst das!“ Sie sagt: „Wenn einer anfängt und einschreitet, schließen sich andere an. Oft reicht es schon, einfach nicht wegzuschauen. Sie ist überzeugt: „Gemeinsam kann eine Gruppe sich fremder Menschen andere davon abhalten, etwas schlimmes zu tun, wie zum Beispiel jemand Wehrlosen zu verprügeln.“ 

Doch Zugbegleiter sind Servicekräfte, kein Sicherheitspersonal. Was sie erleben, ist oft schwer zu glauben. „Wir haben mal einen so genannten Personenunfall mit unserem Zug gehabt, bei dem ein Mensch gestorben ist. Und dann gibt es wirklich Leute, welche das Smartphone zücken und das filmen wollen.“ Es war noch ein Zug, bei dem man die Fenster öffnen konnte. Brune ließ die ersten beiden Wagen räumen, ging zu den Leuten und fragte: „Hallo, was tut ihr da eigentlich? Das war mal ein Mensch, wir sind nicht im Film und er wird nicht wieder lebendig. Wem willst du das schicken, was wollt ihr damit beweisen? Und erst da ist den Leuten bewusst geworden, was tatsächlich passiert ist.“

Mandy Brune sagt, sie persönlich komme damit klar, auch wegen der Berufserfahrung, die sie mittlerweile hat: „Ich weiß, was ich kann und an wen ich mich wenden muss, und das gibt mir Selbstvertrauen.“ Doch die Bahn macht es ihr nicht immer leicht: „Personal wird immer nur für den Normalfall geplant, für den Fall, das alles perfekt läuft“, sagt sie. „Aber leider läuft es oft nicht perfekt. Und gerade dann braucht man Ansprechpartner und zuverlässige Informationen. Die Fahrgäste genauso wie wir Personal.“ Sicherheitspersonal könne helfen, auf besonders gefährdeten Routen, bei Fußballspielen mit Zügen voller betrunkener Fans, oder auf Nachtfahrten, sagt sie: „Wenn zum Beispiel bei 30 Grad Außentemperatur eine Klimaanlage ausfällt oder der Zug aufgrund von diversen Störungen völlig überfüllt ist und der Frust und das Aggressionspotenzial steigen, hat alleine schon die Präsenz eines zufällig anwesenden uniformierten Polizisten eine sehr deeskalierende Wirkung.“ Sie glaubt auch, dass Kameras, so genannte, Body-Cams eine positive abschreckende Wirkung haben können: „Auf freiwilliger Basis finde ich dies eine sehr wirkungsvolle Ergänzung zur Gewaltvermeidung und zum Schutz der Mitarbeiter.“

  • Schwimmmeister Jens Popke (rechts) mit seinem Betriebsleiter Torben Kablau im Schwimmbad in Flensburg mit Kampagnen-Plakat
    Schwimmmeister Jens Popke (rechts) mit seinem Betriebsleiter Torben Kablau: Popke hat sein Gesicht für die DGB-Kampagne zur Verfügung gestellt.

Kampagnen sollen helfen

Längst haben die Gewerkschaften das Thema auf dem Schirm. Vor vier Jahren startete der DGB deshalb eine Anti-Gewalt-Kampagne unter dem Motto: „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch“. Auf der Kampagnen-Website findet man viele Gewaltgeschichten – die von Jens Popke, aber auch viele andere von Beschäftigten, die anonym bleiben wollen: die Busfahrerin, die nach einem tätlichen Angriff sechs Wochen arbeitsunfähig war, der Rettungssanitäter, dem im Einsatz eine Rippe gebrochen wurde, die Sachbearbeiterin einer Wohngeldstelle, die ein Klient mit den Worten bedrohte: „Ich warte jetzt draußen auf dich. Du wirst nicht mehr heil zu Hause ankommen.“ Die gesundheitlichen Folgen solcher Übergriffe können dramatisch sein: Schlafmangel, Angstzustände, Depressionen. Doch was sind die Ursachen der Gewalt? Der DGB macht „kleingesparte Leistungen“ und einen „Rückzug des Staates“ verantwortlich, gerade mit Blick auf den öffentlichen Dienst. Die These: Wenn sich die Bürger nicht mehr auf das Funktionieren der öffentlichen Institutionen verlassen können, wachsen Wut und Frust. Daran ist sicher etwas Wahres, doch das Thema verlangt einen sorgsamen Blick. Wissenschaftler sagen, dass manche Zahlenreihen mit Vorsicht zu interpretieren seien, weil möglicherweise die Sensibilität oder das Anzeigeverhalten gestiegen sind. Sie warnen auch davor, Zahlen zu verbaler und körperlicher Gewalt miteinander zu vermengen.

Interkulturelle Konflikte

Neben Gewalt, Drogen, Gruppendynamik können auch interkulturelle Konflikte eine Ursache für Beleidigungen und Gewalt sein. Jens Popke berichtet über Erfahrungen mit Migranten, die die Regeln im Bad nicht kennen oder nicht akzeptieren wollen. „Alle sind bei uns willkommen, die unsere Regeln befolgen“, sagt er. Es gibt Flyer und Schilder in verschiedenen Sprachen, die die Regeln erklären.

Jonas Grutzpalk, der an der Polizeihochschule auch interkulturelles Training anbietet, warnt vor pauschalen Urteilen über andere Kulturen – aber ebenso auch vor pauschalen Rezepten. Er erzählt von Diskussionen mit Polizisten darüber, ob man in einer Moschee oder einem muslimischen Haushalt die Schuhe ausziehen soll, ein Thema, das Populisten gerne hochkochen. Grutzpalk mag kein Ja- oder Nein-Votum abgeben: „Menschen sind keine Maschinen, bei denen bei einem bestimmten Input ein bestimmtes Verhalten herauskommt.“ Leute zur Sensibilität für den konkreten Fall anleiten, das sei wichtiger als Wenn-dann-Regeln: „In einer Situation, in der Gefahr im Verzug ist, zieht natürlich keiner die Schuhe aus, aber in einer anderen Situation kann das ein Zeichen von Respekt vor Dingen sein, die anderen heilig oder, profan ausgedrückt, sehr wichtig sind.“

Blick auf die eigenen Ressourcen

Wer Unternehmen, Behörden und ihre Beschäftigten im Umgang mit Gewalt stärken will, darf freilich nicht nur das Außenverhältnis ansehen. Auch der Blick auf die eigene innere Verfassung gehört dazu. Manchmal mauern sich Beschäftigte und ganze Organisationen ein, legen sich einen „Panzer“ zu, wie Grutzpalk es nennt. Als Beispiel nennt er eine Behörde mit viel Publikumsverkehr, die alles strikt durchorganisiert, weil die Beschäftigten schlechte Erfahrungen im Publikumsverkehr gemacht haben und auf „präventives Misstrauen“ bauen – mit der Folge, dass der Laden vielleicht läuft, das Klima aber für beide Seiten sehr unangenehm ist.

Aus einer Untersuchung über Rettungsberufe, die die Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat, weiß Grutzpalk zudem, dass sich die „größten Verletzungserlebnisse“ für Beschäftigte zuweilen eher in der Zusammenarbeit mit der Hierarchie oder mit anderen Behörden ergeben: „So finden Rettungsdienstler es empörend, wenn Ärzte ihre Diagnosen infrage stellen.“ Die Wissenschaft spricht hier von „Anerkennungskonflikten“. Verbale Angriffe aus dem Publikum, sagt Grutzpalk, werden „demgegenüber zwar als unangenehm wahrgenommen, aber professionell verarbeitet“.

Im Campusbad in Flensburg sind die Beschäftigten gut aufgestellt. Regelmäßig gibt es für die Beschäftigten Deeskalationstrainings mit der Polizei. Rollenspiele gehören dazu, es wird aber auch geübt, wie man sich aus einem Griff löst, denn zur Not müssen sich die Beschäftigten auch selbst helfen können. „Leute auf Drogen oder mit psychischen Krankheiten sind in der konkreten Situation oft nicht erreichbar“, sagt Soziologe Grutzpalk, dann hilft gutes Zureden nicht. Entsprechend reagiert er auch nicht ablehnend, wenn ein Bahnbeschäftigter auf der DGB-Kampagnenseite Selbstverteidigungskurse fordert.

„Ich finde das gut für das Körpergefühl und das Selbstbewusstsein“, sagt Grutzpalk. „So ein Kurs ist ein bisschen wie die Schusswaffe bei der Polizei“, sagt er. „In 99 Prozent der Fälle brauche ich sie nicht. Aber ich fühle mich durch sie auf den Notfall vorbereitet.“

Mehr zum Thema:

Matthias Weber: Übergriffe gegenüber Verwaltung und Rettungsdienst. Working Paper Forschungsförderung Nr. 321, Juni 2024

DGB-Kampagnehttps://mensch.dgb.de/

 

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