Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Bleierne Zeiten für die Arbeitsbeziehungen
VIKING, LAVAL UND RÜFFERT Seit zwanzig Jahren kaum Fortschritte und der EuGH setzt noch eins drauf.
Von Florian Rödl, Europarechtler am Zentrum für europäische Rechtspolitik, Bremen
Die Frage nach dem "sozialen Europa" ist zugleich eine Frage nach den Arbeitsbeziehungen in Europa, nach Europas "Arbeitsverfassung". Denn nicht nur historisch sind die Arbeitsbeziehungen von großer Bedeutung für die Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Umverteilung und weiter gehender sozialer und emanzipatorischer Ansprüche.
Es hängt nicht zuletzt von den Arbeitsbeziehungen und den durch sie strukturierten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab, wie das Volkseinkommen zwischen Eignern und abhängig Beschäftigten verteilt wird, welchen Einfluss die Gewerkschaften auf die Politik entfalten können und welche Formen die soziale Sicherung der abhängig Beschäftigten annehmen kann - um nur drei wichtige Beispiele für die Abhängigkeit des "Sozialen" in einem weiteren Sinne von den Arbeitsbeziehungen herauszugreifen. Es spricht darum viel dafür, dass auch die Möglichkeiten eines "sozialen Europas" davon abhängen, welche Formen die Arbeitsbeziehungen in Europa annehmen können und werden.
Zwei Modelle stehen sich gegenüber: Entweder werden die Arbeitsbeziehungen (weiter) im nationalen oder sie werden (künftig) im europäischen Rahmen gestaltet. Mit anderen Worten bleibt es entweder weiterhin bei im Wesentlichen nationalen Arbeitsverfassungen, die höchst unterschiedlich sind und nur in Randbereichen vom europäischen Recht geprägt werden. Oder aber es entsteht sukzessive eine europäische Arbeitsverfassung, sodass wesentliche Bereiche nationalen Arbeitsrechts, vor allem das nationale kollektive Arbeitsrecht, von europäischem Arbeitsrecht abgelöst werden.
ZWEI MODELLE UND IHRE KONJUNKTUREN_ Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde einst ohne jeden programmatischen Bezug zu einem "sozialen Europa" gegründet; der EWG-Vertrag von 1957 sah für die Gemeinschaft keine Regelungskompetenzen für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen vor. Grundlage für diese Leerstelle war die am Ende von allen Mitgliedstaaten geteilte Auffassung (auch wenn Frankreich ursprünglich anderer Meinung war), dass die sich gerade auf nationaler Ebene entwickelnden nationalen Sozialstaaten samt ihrer Arbeitsverfassung durch den Gemeinsamen Markt weder faktisch noch rechtlich beeinträchtigt würden.
Einerseits sagte die neoklassische "reine Außenhandelstheorie" voraus, dass es nicht zu transnationaler Lohnkonkurrenz kommen würde, und zwar nicht zuletzt dank anpassbarer Wechselkurse. Andererseits gehörte es einfach nicht zur Vorstellung der Gründer der EWG, dass sich Regelungen des nationalen Arbeitsrechts einmal gegen die europäischen Grundfreiheiten (etwa Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit) behaupten müssten. Also konnte sich der EWG-Vertrag in seinem Artikel 117 auf ein grundlegendes Versprechen beschränken: Die europäische Marktintegration würde im Wege des Fortschritts zu einer Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten führen.
AUSSICHT AUF EUROPÄISCHE ARBEITSVERFASSUNG_ Dieses Bild geriet jedoch in den 80er Jahren unter Druck, als die wirtschaftliche Integration in einem Ausmaß vertieft und dynamisiert wurde, dass der Wettbewerbsdruck auf nationale Löhne und Standards erheblich zunahm. Die wesentlichen Marksteine dieser Entwicklung bilden das Binnenmarktprojekt von 1987 und der Start des Prozesses der Währungsunion von 1993. Diese harte Entwicklung schien aber durch einen schrittweisen Aufbau einer sozialen Dimension der Integration flankiert zu werden. Es begann mit der Gemeinschaftscharta der Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989. Es folgte das Sozialabkommen von Maastricht 1993, das eine Reihe von legislativen Kompetenzen im Bereich des Arbeitsrechts vorsah und den europäischen "sozialen Dialog" schuf. Und es endete vorläufig mit den sozialen Rechten in der Grundrechte-Charta von 2000.
Es mochte darum so scheinen, als würde eine Europäisierung der Arbeitsbeziehungen vorangetrieben, die vielleicht nicht sofort, aber doch in nicht allzu ferner Zukunft die mit der Marktintegration verknüpften Verschiebungen des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses wieder korrigieren würde. Seit mehr als zwanzig Jahren beherrscht darum nicht mehr das Leitbild unbeeinträchtigter nationaler Arbeitsverfassungen die Vorstellungen von den Arbeitsbeziehungen in Europa, sondern die Aussicht auf eine künftige europäische Arbeitsverfassung. Dieser würde die Union in - wenn auch kleinen - Schritten immer näher kommen.
SOZIALER DIALOG WEITGEHEND VERSTUMMT_ Es sollte darum nicht verfrüht erscheinen, heute einen nüchternen Blick auf die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Europa seitdem zu werfen. Hierzu zwei Beobachtungen. Erstens: Im sozialen Dialog hat man sich weitgehend ausgesprochen. Dreimal haben die Arbeitgeber- und die Gewerkschaftsverbände in den 90er Jahren von ihrem Recht Gebrauch können, Richtlinien auszuhandeln und durch den Rat verabschieden zu lassen (die Richtlinien zum Elternurlaub, zur Befristung und zur Teilzeitbeschäftigung). Im Hintergrund stand jeweils eine engagierte Kommission, an deren Spitze Jacques Delors stand. Von dieser Seite drohte den Arbeitgebern eine EU-Gesetzgebung, die zumindest potenziell unangenehmer hätte sein können als eine mit den Gewerkschaften ausgehandelte Regelung.
Heute muss die Arbeitgeberseite den europäischen Gesetzgeber nicht mehr fürchten und sich darum auch gar nicht mehr an den Verhandlungstisch setzen. Nicht viel besser steht es - bis auf wenige Ausnahmen - um den sozialen Branchendialog.
Zweitens: Insgesamt muss sich die Gesetzgebung der Europäischen Union im Bereich des Arbeitsrechts auf Regelungen beschränken, die mit den gewachsenen nationalen Systemen der Arbeitsbeziehungen vereinbar sind. Darum kann sie nur punktuell und bescheiden ausfallen. Ein viel beachteter Schwerpunkt des europäischen Rechts lag und liegt darum im Bereich der Anti-Diskriminierung: Anti-Diskriminierungsregeln greifen nämlich nicht relevant in das national konstituierte gesellschaftliche Kräfteverhältnis zwischen anhängig Beschäftigten und Unternehmen ein. Anti-Diskriminierungsrecht arbeitet gegen Ungleichbehandlungen innerhalb der Gruppe der abhängig Beschäftigten - was an sich sehr zu begrüßen ist. Sie greift aber nicht in den sozialen Normalstandard ein. Wo das europäische Arbeitsrecht doch einmal einen gewissen individuellen sozialen Schutz verleiht - im Befristungsrecht etwa oder im sozialen Arbeitsschutz (Arbeitszeit) - sind die Standards niedrig, oder es werden Ausstiegsmöglichkeiten eröffnet, eben damit die Regeln mit den nationalen Beständen vereinbar bleiben.
Es bleibt die Frage, ob vielleicht der nicht zuletzt aufgrund seiner sozialen Fortschrittlichkeit gelobte Lissabon-Vertrag (über den die Iren 2009 ein zweites Mal abstimmen sollen) die Wende bringen könnte, etwa weil in ihm die sozialen Rechte und das neue Unionsziel einer "sozialen Marktwirtschaft" festgeschrieben sind. Leider stellen diese Errungenschaften aus der Perspektive der Arbeitsbeziehungen wenig mehr als hübsche Verfassungslyrik dar: Der europäische Gesetzgeber ist aufgrund der hohen Konsenserfordernisse weder politisch willens noch angesichts der Unterschiedlichkeit gewachsener nationaler Arbeitsbeziehungen in der Lage, eine aktive Gestaltung europäischer Arbeitsbeziehungen zu betreiben. In dieser Lage helfen auch Verfassungsrechtspositionen nicht weiter, die eine solche politische Gestaltung rechtlich absichern würden. Mehr als das können soziale Grundrechte und soziale Zielbestimmungen aber in diesem Zusammenhang grundsätzlich nicht leisten.
VIKING, LAVAL, RÜFFERT_ Die Europäisierung der Arbeitsbeziehungen ist also seit zwanzig Jahren nicht weit gekommen, und nichts deutet darauf hin, dass sich das auf kurze, mittlere oder lange Sicht ändern könnte. Dann aber wird man sich zum ursprünglichen Modell zurückwenden müssen: Die Arbeitsbeziehungen bleiben auch in Europa national, sie werden dort konstituiert und gestaltet. Das ist freilich keine erfreuliche Einsicht. Die Vision einer europäischen Arbeitsverfassung wurde ja deswegen so bereitwillig aufgenommen, gerade weil die ursprüngliche Konzeption des Nebeneinanders unberührter nationaler Arbeitsverfassungen unter dem Einfluss von Binnenmarkt und Währungsunion so nachhaltig unter Druck geraten war. Dass sich die Vision allmählich als schlechte Utopie herausstellt, lindert den faktischen Wettbewerbsdruck nicht, den die Gewerkschaften und die abhängig Beschäftigten auf nationaler Ebene erfahren.
Eines wird man in dieser Situation aber wohl erwarten dürfen: Dass die europäische Ebene - nachdem das große Versprechen einer europäischen Arbeitsverfassung eigentlich kleinlaut beerdigt werden muss - in dieser ohnehin schwierigen Situation zumindest die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den mitgliedstaatlichen Arbeitsbeziehungen nicht noch zusätzlich parteilich zugunsten der Unternehmen verschiebt.
Doch genau dies ist mit den Fällen Viking, Laval und Rüffert geschehen: Gewerkschaftliche Rechte wurden beschnitten, gewerkschaftsfreundliche Gesetzgebung wurde untersagt. Viking hat das national ausgeformte Grundrecht auf Tarifautononie verstümmelt, Laval hat die Entsende-Richtlinie in eine Richtlinie zur Begrenzung des nationalen Streikrechts transformiert, Rüffert hat die Stützung örtlicher Tarifierungen durch Tariftreuegesetzgebung für illegal erklärt.
Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum diese Rechtsprechung tatsächlich eine Zäsur in der Geschichte der Arbeitsbeziehungen in Europa darstellt: In einer Situation, in der offenbar wird, dass die europäische Ebene keine relevante Linderung des durch Binnenmarkt und Währungsunion erheblich verschärften Wettbewerbsdrucks auf die abhängig Beschäftigten liefern wird, greift der EuGH zum Nachteil der Gewerkschaften in die nationale Ordnung der Arbeitsbeziehungen ein und intensiviert die transnationale Lohnkonkurrenz auch noch von Rechts wegen. Damit wird letztlich das ursprüngliche Versprechen aus Artikel 117 EWG, das Versprechen der Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten im Wege des Fortschritts, explizit aufgekündigt.
WAS KÖNNEN GEWERKSCHAFTEN TUN?_ Die schlechte Botschaft lautet also: Mit einer europäischen Arbeitsverfassung (und mit einem "sozialen Europa" in einem anspruchsvollen Sinn) wird es nichts werden. Die Gewerkschaften sind im Wesentlichen auf ihren nationalen Rahmen verwiesen, und den gilt es darum auch vor weiteren europäischen Beschädigungen zu schützen. Die Überbringer dieser Botschaft in der innergewerkschaftlichen Diskussion als konservativ oder populismusverdächtig abzustempeln erscheint wenig hilfreich, denn das kann dazu führen, dass man sich als "guter Europäer" um die aus gewerkschaftlicher Sicht eigentlich drängenden Fragen nicht mehr kümmert.
Gleichwohl spricht alles dafür, sich auch um "europäische" oder "transnationale" Antworten zu bemühen. Aber diesmal sind realistische Entwürfe gefragt, die Folgendes in Rechnung stellen: den beschränkten politischen Einfluss der Gewerkschaften auf europäischer Ebene; die hohen Konsenserfordernisse europäischer Politik; die sozio-ökonomische Heterogenität der Mitgliedstaaten und die Differenz der nationalen Systeme der Arbeitsbeziehungen, die sich immer wieder auch als Wettbewerbsvorteile niederschlagen. Die Phase vager Ausblicke sollten die Gewerkschaften endlich hinter sich lassen.
Der Europäische Gewerkschaftsbund wirbt gegenwärtig für ein "Protokoll zum sozialen Fortschritt", mit dem letztlich das alte Versprechen aus Artikel 117 EWG erneuert und rechtlich gesichert werden soll, wobei er diese Forderung offenbar nicht mehr mit seiner Unterstützung für den Lissabon-Vertrag verknüpft. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten für eine Änderung der Entsende-Richtlinie ausgelotet, mit der zumindest die Entscheidungen in Laval und Rüffert korrigiert werden könnten. Die Erfolgsaussichten beider sicherlich notwendigen Initiativen - die sich als europäische Stützen nationaler Arbeitsverfassungen übrigens genau ins hier gezeichnete Bild einfügen - sind allerdings höchst ungewiss. Im Falle der Entsende-Richtlinie hängen sie auch vom Ausgang der kommenden Europawahl ab.
KORREKTUREN ANSTREBEN_ Daneben bleibt die Möglichkeit, dem EuGH Gelegenheit zur Korrektur seiner Rechtsprechung zu geben. Allerdings dürfte es riskant sein, die Tariftreuegesetze der Bundesländer schlicht weiter aufrechtzuerhalten. Im Hintergrund droht nämlich die Staatshaftung für offensichtliche Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht, und die wird kaum eine Landesregierung politisch eingehen wollen. Denkbar sind aber Novellierungen der Gesetze, die weiterhin besondere vergaberechtliche Lohnvorgaben setzen, die der Gesetzgeber allerdings selbst beziffern müsste, damit sie sich als europarechtskonform darstellen lassen. Auf diese Weise entfiele nicht nur das Haftungsrisiko. Vor allem könnte der EuGH die Rechtsprechung unter Wahrung seines Gesichts korrigieren. Es ist derselbe Ansatz, den die Bundesregierung bei der Novellierung des VW-Gesetzes verfolgt.
Allerdings werden die Gewerkschaften ihre bisher recht zurückhaltende Haltung zu Prozessen vor dem EuGH überdenken müssen. Der EuGH wird bei Entscheidungen wie diesen zu einem verfassungspolitischen Akteur, der legitimerweise mit gewerkschaftlichen Erwartungen konfrontiert wird. Die europäischen Gewerkschaften müssen darum bereit sein, mit einem gewissen Nachdruck deutlich zu machen, dass von einer Korrektur der Rechtsprechung für den progressiven Fortgang des Prozesses europäischer Integration etwas abhängt. Den oft als "Motor der Integration" gepriesenen EuGH sollte das interessieren.
Eine letzte Frage kann hier nur angeschnitten werden: Sollten sich die Gewerkschaften in dieser schwierigen Situation nicht bemühen, über die bestehenden Ansätze der europäischen Koordination nationaler Tarifpolitik hinauszugehen und Wege zu einer echten transnationalen Tarifpolitik zu bahnen? Es wäre der Weg einer von den Gewerkschaften kontrollierten transnationalen Öffnung der nationalen Arbeitsbeziehungen. Nur so lässt sich wahrscheinlich der drückenden transnationalen Lohnkonkurrenz jenseits von Arbeitnehmer-Entsendung effektiv begegnen. Mittelfristig bestünde die Aussicht, die gesellschaftliche Macht der Gewerkschaften auf europäischer Ebene auch politisch zur Geltung zu bringen. Hoffentlich findet diese schwierige aber immerhin konkrete transnationale Perspektive in der gewerkschaftlichen Diskussion nunmehr neues Interesse.
Mehr Informationen
Florian Rödl: Europäische Arbeitsverfassung, ZERP-Diskussionspapier 1/2009, verfügbar unter: www.zerp.eu
Robert Rebhahn: Gibt es ein Europäisches Sozialmodell der Arbeitsbeziehungen? Erscheint in: Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR) 2009/4
Armin Schäfer/Wolfgang Streeck: Korporatismus in der Europäischen Union, in: M. Höpner/A. Schäfer (Hg.): Die Politische Ökonomie der europäischen Integration, 2008, Seite 203 - 240
Initiative Europäische Tarifautonomie: Europäische Tarifautonomie ist möglich! Verfügbar unter: www.tarifpolitik.eu